Elisabeth Gruber, Gabriele Schichta:

Zum Geleit der vierten Ausgabe von MEMO

Eine mit Streublumenmuster dekorierte Kaffeetasse aus Porzellan, deren Henkel abgebrochen ist, ein Spielstein mit dem Konterfei Kaiser Maximilians I, eine Muschel und ein Fotoalbum. Was haben diese Gegenstände gemeinsam? Auf den ersten Blick vielleicht nicht viel, bei genauerem Hinsehen möglicherweise doch Einiges, im thematischen Kontext der aktuellen Ausgabe von MEMO jedoch etwas ganz Bestimmtes: Sie alle sind Objekte der Erinnerung – materielle Gegenstände, durch die Erinnerung(en) bewahrt, vermittelt und dauerhaft verfügbar gemacht werden sollen. Präzisierend müsste man hinzufügen, dass diesen Gegenständen in bestimmten Zusammenhängen, von bestimmten Personen und zu bestimmten Zeiten diese Funktion zugeschrieben wird. Bisherige Funktionen und Bedeutungen der Gegenstände können dadurch ergänzt oder verändert werden, aber auch völlig verschwinden. Jedes Objekt kann daher prinzipiell zum Erinnerungsobjekt werden: Entscheidend sind die Konstellationen, in die es eingebettet ist, und seine Eignung als solches aus Sicht derer, die mit ihm umgehen. Die eingangs genannte kaputte, geblümte Kaffeetasse vermag dies gut zu veranschaulichen: Während ihre Beschädigung ihre Funktionalität als Trinkgeschirr beeinträchtigt und es daher gerechtfertigt erscheinen könnte, die Tasse zu entsorgen, verbleibt sie dennoch im Haus, weil sie von der verstorbenen Großmutter stammt, die über Jahrzehnte hinweg daraus ihren Frühstückskaffee getrunken hat. In diesem einen Haushalt und in dieser einen familiären Konstellation hat die Tasse also die Funktion eines Erinnerungsobjektes angenommen. Vielleicht wird trotz ihrer Beschädigung noch aus ihr getrunken, vielleicht wird sie aber auch nicht mehr benutzt, sondern nur noch – dekorativ oder gar „quasi-museal“ – an gut sichtbarer Stelle aufgestellt; womöglich auch aus Angst, sie aus Unachtsamkeit gänzlich zu zerstören. Vielleicht sieht man gar, wenn der Blick auf sie fällt, im Geiste die Großmutter am Frühstückstisch sitzen. Gegenstände vermögen die mit ihnen verbundenen Personen ebenso im Gedächtnis der Rezipienten zu visualisieren wie die mit jenen verknüpften vergangenen Szenarien und Erzählungen – und zwar durchaus nicht nur dann, wenn sie tatsächliche Bildträger sind, wie der bereits genannte Maximilian-Spielstein.

Spielstein mit Porträt Maximilians I.; Hans Kels d.J., um 1540; Holz gedrechselt/geschnitzt. Kunstsammlungen und Museen Augsburg.

Ein guter Teil der vielbeschworenen „Aura“ der Dinge resultiert darüber hinaus aus ihrem Potenzial, große Zeitspannen zu überdauern, sowie aus ihrer Langlebigkeit im Vergleich zu einem Menschenleben: Viele Objekte scheinen in besonderem Maße noch die Spuren ihrer längst vergangenen Nutzerinnen und Nutzer in sich zu tragen. Ein Gegenstand aus dem Besitz einer berühmten Person etwa, die vor langer Zeit – vielleicht vor Jahrhunderten – gelebt hat und von dem man mit einiger Sicherheit weiß, dass er von dieser Person berührt wurde, kann eine beträchtliche Faszination ausüben. Hierbei können einerseits die Grenzen zum Fetischismus fließend sein, andererseits Erinnerungsobjekte zu Luxusgütern werden, deren Preise von Auktionshäusern in astronomische Höhen getrieben werden, was wiederum bei vielen Menschen zu Abwehr führt. Gerade in Zeiten, in denen Konsum und Besitz zunehmend kritisch hinterfragt werden und wir uns mehr und mehr von der schieren Menge an Dingen in unserem Besitz überfordert fühlen, weil wir sie horten, pflegen, lagern, organisieren und ordnen müssen, fragen sich viele: Brauchen wir überhaupt die Dinge für unsere Erinnerungen? Bleibt denn die Erinnerung nicht auch ohne das Objekt bestehen? Ganz so einfach scheint es nicht zu sein. Denn auch wenn Erinnerung jenseits von materiellen Objekten existieren kann, so vermögen diese doch immaterielle, mentale Vorstellungen sinnlich fassbar und begreifbar (im wörtlichen Sinne) zu machen und in der jeweiligen Gegenwart zu verorten. Der vermeintlichen Flüchtigkeit der Erinnerung wird so etwas Gegenständliches (ebenfalls im wörtlichen Sinne) entgegengestellt. Was materielle Objekte auszeichnet und wodurch sie sich besonders gut als Erinnerungsobjekte eignen, ist – neben ihrer Omnipräsenz – ihr Potenzial, uns sinnlich und emotional auf direktem Weg anzusprechen und Verbindungen vielfältigster Art zu stiften. Dabei ist es zunächst gar nicht so wichtig, ob es sich um Artefakte – also von Menschen gemachte Objekte – handelt, wie etwa die Tasse oder den Spielstein, oder um „Naturobjekte“: So kann die Muschel, die als Souvenir vom Strand mitgenommen wird, die Erinnerung an diesen wie auch an eine ganze Urlaubsreise samt einzelnen Episoden, Akteuren und Begegnungen noch Jahre später reaktivieren. Die gefundene Muschel wurde zufällig zum Medium der Erinnerung, ähnlich wie die Porzellantasse, die womöglich nur wegen ihrer handlichen Größe aufbewahrt wurde, und weil sie als einziges Objekt aus dem Besitz der Verstorbenen übrig geblieben ist. Erinnerungsobjekte können aber auch absichtsvoll als solche deklariert oder überhaupt erst als solche geschaffen werden, so wie der Spielstein mit dem Porträt Kaiser Maximilians I., der erst einundzwanzig Jahre nach dessen Tod in Gedenken an ihn hergestellt wurde. Sie können gleichsam „organisch“ wachsen, wie das Familien-Fotoalbum, das sich ähnlich einer Erzählung entwickelt und sich mit seiner eigenen „Objektbiographie“ zu den Biographien der in ihm abgebildeten Personen in Beziehung setzt. Sie können aber auch retrospektiv in einem geplanten Akt geschaffen werden: Paradebeispiele dafür sind mittelalterliche und frühneuzeitliche Stammbäume, die das Gedenken an die Herkunft und das Werden einer Adelsfamilie bewahren und deren Genealogie generationenübergreifend dauerhaft visuell verfügbar machen sollen.

REALonline Bild Nr. 013847. Khevenhüller-Chronik 1624-24, Museum für Angewandte Kunst, IN 21. 608.

Das (virtuelle) Titelblatt der vierten Ausgabe von MEMO ziert ein solcher Stammbaum: Er stammt aus der Khevenhüller-Chronik von 1624/25. Die Familie Khevenhüller, die vom 15. bis 17. Jahrhundert zu den führenden Adelsgeschlechtern Kärntens sowie ganz Österreichs gehörte, setzte sich selbst mit diesem monumentalen Werk ein bleibendes Denkmal. Sie dokumentierte damit aber nicht nur ihre eigene Geschichte im engeren Sinne, indem die einzelnen Familienmitglieder porträtiert wurden, sondern sie zeigt auch auf eindrucksvolle Weise die verschiedenen Objekte der Erinnerung, durch die sich diese Familie in die Topographie einschrieb und ihre Memoria verstetigte. So fungieren die zahlreichen dargestellten Burgen und Schlösser wie beispielsweise die Burg Hochosterwitz in Kärnten als materielle Zeugen für Macht und Einfluss der Khevenhüller und zeigen, wie sich diese als die physische und materielle Umwelt gestaltende Faktoren dauerhaft in Erinnerung gehalten haben.

Die vierte Ausgabe von MEMO erscheint in einem Jahr, das im Zeichen eines ganz besonderen Gedenkens steht: Der Todestag des Habsburger Kaisers Maximilians I. jährt sich 2019 zum fünfhundertsten Mal, was naturgemäß seinen Niederschlag in zahlreichen Ausstellungen, Veranstaltungen und Publikationen findet. Maximilian ist der Nachwelt als eine Person in Erinnerung geblieben, die schon zu Lebzeiten auf vielfältige Weise und mit Nachdruck für die Sicherung ihres Andenkens bei späteren Generationen gesorgt hat und dieses Andenken in den unterschiedlichsten medialen Formen realisierte. „Wer ime [= sich selbst] im leben kain gedechtnus macht, der hat nach seinem tod kain gedechtnus, und demselben menschen wird mit dem glockendon vergessen“, formuliert Maximilian selbst am Ende seines autobiographisch angelegten Romans Weißkunig. In die Materialisierung dieses Gedechtnus investierte der Kaiser beträchtliche Geldsummen und hat so Erinnerungsobjekte geschaffen, die noch heute sichtbar und erfahrbar sind. Es nimmt daher nicht Wunder, dass drei Beiträge in der aktuellen Ausgabe dem Habsburger gewidmet sind, der sich selbst gerne als „letzten Ritter“ inszenierte und damit seine Person gleichsam zum Brennglas der Erinnerung an eine ganze Epoche stilisierte. Die vorliegenden Beiträge gehen nun aus unterschiedlichen Perspektiven der Frage nach, wie einzelne Objekte und Artefakte zu Zeichen für bestimmte Bedeutungen und Bedeutungszuschreibungen und insbesondere zu Objekten der Erinnerung werden. Wie entstehen solche Zuschreibungen und wie verändern sie sich im Laufe von Objektbiographien? Was leistet ein Objekt, wenn es zum Erinnerungsobjekt wird? Wie verhalten sich Objekte im Spannungsfeld zwischen individueller und kollektiver Erinnerung? Und welche Rolle nehmen dabei Sammlungen und die an ihnen beteiligten Akteure im Laufe der Zeit ein?

Den chronologischen Anfang macht Jochen H. Vennebusch (Hamburg) in seinem Beitrag zu einem der bedeutendsten Werke ottonischer Buchmalerei, dem so genannten „Hillinus-Codex“, den er als liturgisches Instrument der Memoria seines Stifters beschreibt. Beim Selbstbild und den Medien dieser Selbstinszenierung Maximilians I. setzt der Beitrag von Chassica Kirchhoff (New York) an: Sie untersucht verschiedene bildliche Darstellungen von eigens für den jungen Maximilian angefertigten Prunkrüstungen und deren Teilhabe an der Erinnerungskultur im Heiligen Römischen Reich. Eine andere Art, wie Erinnerungsobjekte im Nachhinein geschaffen werden können, nimmt der Beitrag von Heidrun Lange-Krach, Christoph Emmendörffer, Christoph Hauptmann und Ilja Sallacz (Augsburg) in den Blick. Sie beschäftigen sich mit dem sogenannten „Alten Einlass“, einem ganz besonderen Augsburger Stadttor, das in der städtischen Überlieferung nachträglich mit Maximilian I. in Verbindung gebracht wurde und seit Kurzem für Museumsbesucher mittels einer Virtual Reality-Rekonstruktion wieder erlebbar ist. Eine ähnliche nachträgliche Verknüpfung von Objekt und Person erfolgte im obersteirischen Schloss Hanfelden bei Zeiring, wo eine bauarchäologische Befundung neues Licht auf eine langjährige Erinnerungsgeschichte wirft. Claudia Theune und Iris Winkelbauer (Wien) zeigen, dass die etwa 100 Jahre nach einem Besuch Kaiser Maximilians angebrachte Inschrift gezielt eine Verbindung zwischen dem Schlossbesitzer Maximilian Rauchenberger und Maximilian I. herstellen sollte. Im letzten Beitrag dieser Ausgabe schließlich, der den chronologischen Bogen ins 17. Jahrhundert hinauf spannt, geht Nina Stainer (Wien) der Frage nach, welche Bedeutungen Handzeichnungen als Medien der Kommunikation und Selbstzeugnisse frühneuzeitlicher Bildhauer annehmen können. Handelte es sich dabei zunächst um Arbeitszeichnungen, die in erster Linie der Dokumentation von Formlösungen dienten, so wurden einige davon durch Widmungen und Inschriften in persönliche Erinnerungsobjekte verwandelt und an befreundete Künstler weitergegeben.

Objekte und Erinnerung werden uns im Übrigen auch in der nächsten Ausgabe von MEMO begleiten, in der das Gedenken fortgesetzt wird: Das Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit feiert 2019 zwar nicht sein 500-jähriges Bestehen, aber es kann immerhin auf eine Geschichte von 50 Jahren zurückblicken. In diesen fünfzig Jahren hat sich auf dem Gebiet der Forschung zur Materiellen Kultur viel getan, und das Institut hat seinen nicht unwesentlichen Beitrag zu diesen Entwicklungen geleistet. Was liegt daher näher, als auch dieses Jubiläum dafür zu nutzen, sich gemeinsam an fünfzig spannende, wechselvolle Jahre des Instituts für Realienkunde zu erinnern: Dass dabei die Objekte nicht fehlen dürfen, liegt auf der Hand. Mit diesem Ausblick – der immer auch den Erinnerungsobjekten eingeschrieben ist, sollen diese doch dezidiert in die Zukunft hineinwirken – schließen wir unsere Geleitworte zu MEMO 4 (2019) und hoffen, dass unsere Zeitschrift allen Leserinnen und Lesern spätestens mit dieser Ausgabe dauerhaft in Erinnerung bleibt.

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