Zur Einleitung
Abstract
Welchen Anteil haben Materie und Material an den produktiven und praxeologischen Prozessen innerhalb kultureller Systeme? Diese Frage steht in der vorliegenden Memo-Ausgabe im Mittelpunkt von vier Aufsätzen aus den Geschichtswissenschaften, der Kunstgeschichte und der Mittelalterarchäologie. Im Zuge des Material Turn wurde zuletzt in verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen die Bedeutung des Materials, des Stofflichen und der Substanzen für die Materielle Kultur zunehmend herausgearbeitet, während zuvor eher Dinge und Dinglichkeit im Vordergrund standen. Mit dem Konzept der Aspektivierung wurde am Institut für Realienkunde in Krems ein interdisziplinärer Ansatz entwickelt, mit dem die Relevanz der jeweiligen materialbezogenen Eigenschaften und Zuschreibungen für die kulturellen Dynamiken gezielt herausgearbeitet werden kann. Der hier zur Diskussion gestellte methodische Zugriff schließt Fragen nach den Affordanzen und der Agency von Materie und Materialien ein, um zu erhellen, wie das Stoffliche konkret in kulturellen Prozessen mitwirkt, diese anstößt und entscheidend beeinflusst.
Abstract (englisch)
How do matter and material contribute to productive and praxeological processes within cultural systems? This question is at the heart of four essays in this issue of Memo from the fields of history, art history and medieval archaeology. In the course of the material turn, the significance of matter, material and substances for material culture has recently been increasingly explored in various disciplines of cultural studies, rather than focusing on things and thinghood. With the concept of aspectivisation, an interdisciplinary approach has been developed at the Institute for Material Culture in Krems, which can be used to analyse the relevance of material properties and attributions for cultural dynamics. The methodological approach presented here includes questions about the affordances and agency of matter and materials in order to shed light on how material participates in, initiates and decisively influences cultural processes.
Inhaltsverzeichnis
Das Anliegen der Beiträge dieses Bandes ist es, dezidiert das Material bzw. die Materialien der so genannten ‚Materiellen Kultur‘ in den Blick zu nehmen: Wie und inwieweit ‚macht‘ Material Kultur?Imareal etabliert wurde. Neben dem bereits vorhandenen und weiterhin grundlegenden Schwerpunkt des mit digitalen Mitteln unterstützen kulturwissenschaftlichen Denkens und Arbeitens wurde zunächst mit der Forschungsperspektive ‚Object Links – Objects Link‘ ein Fokus auf die Frage der Rolle von Dingen bei der Konstitution, Aufrechterhaltung und Transformation von sozialen Beziehungen und kulturellen Sinnbezügen gelegt. Erste Ergebnisse wurden im gleichnamigen Sammelband 2019 publiziert, das Konzept selbst wird in Einzelprojekten vertieft und weiter entwickelt. Mit der Forschungsperspektive ‚Materialities – Material Ties‘ wiederum wollen wir ganz konkret Material/Materialien als kulturelle Analysekategorie in den Blick nehmen, zumal gemeinsame, interdisziplinär ausgerichtete Lesezirkel den Eindruck erweckten, dass es hierzu in den Material Culture Studies Forschungsdesiderata gibt. In der 2019 gemeinsam mit dem ‚Interdisziplinären Zentrum für Mittelalter und der Frühneuzeit‘ der Universität Salzburg organisierten Tagung „Medialität und Materialität ‚großer Narrative‘: Religiöse (Re-)Formationen“ wurde dieser Ansatz weiterentwickelt und auf die Frage hin konkretisiert, wie Materialität auf die Medialisierung von religiösen Inhalten wirkt(e). Die Irritation, dass in vielen Projekten und Publikationen zur Materiellen Kultur von ‚Materiellem‘ die Rede ist, aber ‚Dinge‘ gemeint sind, warf für uns die Frage auf, ob Materialien überhaupt unabhängig von materiellen Dingen – Naturalia und Artificialia – beforscht werden können. Die daraus folgende zentrale Frage ist, welche konstitutive und produktive Relevanz das Material bzw. die Materialien selbst sowie ihre Bedingtheiten für die Kulturen haben.
Zunächst ist daher zu fragen, wie ‚Material‘ im ontologischen Sinne zu verstehen ist. Wesentliche Überlegungen dazu wurden in der Einleitung des Bandes „Materiale Textkulturen“ von Thomas Meier unter Mitarbeit von Friedrich-Emanuel Focken und Michael R. Ott geleistet, auf die im Folgenden rekurriert wird. Aufbauend auf antiken bis neuzeitlichen Diskursen verstehen die Autoren ‚Materialität‘ „als das Konzept vom materiellen Ding-Sein der Dinge“, ‚Material‘ hingegen als die „stoffliche Referenz dieses Konzepts“. Material bildet als „‘Rohstoff‘ die physische Grundlage eines Dings neben seinen stofflichen Eigenschaften, das dann kulturell gestaltet und mit Bedeutungen versehen wird“. Die begriffliche Engführung von ‚Material‘ mit Herstellungsprozessen von Artefakten führt konsequent zur Frage, wie Grundstoffe unabhängig von ihrer Affordanz zur Verarbeitung begrifflich gefasst und abgegrenzt werden können. Meier u. a. (2015) schlagen dafür, analog zur Unterscheidung der materia prima von der materia secunda durch Aristoteles und ihm folgenden den Scholastikern, den Begriff der ‚Materie‘ vor. ‚Materialität‘ bezeichnet im Gegensatz zu ‚Materie‘ und ‚Material‘ die konzeptionelle Ebene, auf der vielfältigste Bedeutungsfelder subjektiv oder sozial konstituiert werden und mit ‚Materie‘ oder ‚Material‘ interagieren bzw. diese aktualisieren. Es lässt sich daher eine doppelte Gerichtetheit konstatieren: Zum einen wird Materie als Rohstoff nach Meier et.al. durch ihre Bearbeitung zum Material; der soziale Umgang mit beiden trägt zum Bedeutungsfeld ‚Materialität‘ bei. Materie wäre demnach „prädiskursive Substanz“, während umgekehrt Material als „wesentlicher Aspekt“ eines Dings zu verstehen ist. Es ließe sich hier allerdings einwenden, dass der Begriff ‚Materie‘ in diesem Zusammenhang durchaus problematisch ist. Die Autoren beziehen sich explizit auf das Verständnis von materia prima und materia secunda bei Aristoteles, ohne zu berücksichtigen, dass es dort die materia prima physisch nicht gibt und auch die Realisierung in der materia secunda weder einen bestimmten Stoff noch einen Aggregatzustand meint. Es ist eine methodologische Entscheidung, ob man alles physisch gegebene Stoffliche noch einmal nach dem unverarbeiteten und dem verarbeiteten Stofflichen unterscheidet, oder ob man diese Unterscheidung gerade nicht trifft, wenn es um das Potenzial und die Affordanz alles Stofflichen geht, durch Material Kultur zu machen. Die Autor*innen dieses Bandes haben sich aus disziplinären Erwägungen heraus für verschiedene Wege der Begrifflichkeit entschieden; allen Beiträgen gemein ist aber das Erkenntnisinteresse, inwiefern Materie und Material Kultur machen.
Wir verstehen ‚Materialität‘ als Konzept und Diskursstelle alles Materialen bzw. Materiellen. Der soziale Umgang mit der Materie und dem Material trägt zum Bedeutungsfeld ‚Materialität‘ bei; umgekehrt wirken die sozialen wie subjektiven Zuschreibungen und Sinnbezüge auf der Ebene der ‚Materialität‘ wesentlich auf den Umgang und die Wahrnehmung alles Materiellen ein. Man könnte hier von der Materialität der Kultur sprechen.
Mit diesem Verweis auf Material als „wesentliche[m] Aspekt eines Dings“ sei zur Kernthematik übergeleitet. Im Folgenden soll der Begriff ‚Aspekt‘ bzw. der Zugang der ‚Aspektivierung‘ als Leitbegriff für die Frage nach der Rolle des Materiellen in der „Materiellen Kultur“ hergeleitet, diskutiert und in vier Fallstudien aus disziplinären Einzelperspektiven auf seine Brauchbarkeit hin überprüft werden. Wir sind im alltagssprachlichen Gebrauch gewohnt, dieses Wort dann anzuwenden, wenn wir vermitteln wollen, dass wir einen Sachverhalt nicht in toto zu behandeln gedenken, sondern auf Spezifika fokussieren. Selten wird dabei aber ausverhandelt bzw. vermittelt, wie der dahinterstehende Prozess, den wir im Folgenden ‚Aspektivierung‘ bezeichnen, von statten geht. Damit einhergehend stellt sich die Folgefrage, welche Bedeutung Aspektivierung für kulturelle Prozesse im Allgemeinen und im Besonderen für jene, die mit Materialität in Verbindung stehen, innehat.
Schon am Begriff ‚Kultur‘ kann einleuchtend verständlich gemacht werden, dass Materielles samt der Aktivierung seiner verschiedenen Aspekte essenziell daran beteiligt ist Kultur zu ‚machen‘. Aus etymologischer Sicht wird ‚Kultur‘ vom lateinischen Wort colere abgeleitet, das im Neuhochdeutschen dem Wortfeld „bebauen, pflegen, urbar machen, ausbilden“ entspricht und somit historisch im landwirtschaftlichen Kontext verankert ist. Es verweist auf die Umwandlung vom Natur- zum Kulturraum als Teil der menschlichen Subsistenz. Damit wird ‚Kultur‘ zum Gegensatzbegriff zu ‚Natur‘, auch wenn – gerade auf der Ebene des Materiellen, aber auch des menschlichen Körpers – die Übergänge zwischen diesen Polen fließend sind und oftmals eine Frage der Betrachtungsperspektive darstellen. Ein genauerer Blick auf die Vorgänge bei der Domestikation von Tieren und Pflanzen ist daher auch hinsichtlich des Verständnisses von kulturellen Prozessen erhellend: Landwirtschaftliche ‚Kulturen‘ sind das Produkt langfristiger Selektions- und Standardisierungsprozesse aus komplexeren ökologischen Systemen hin zu reduzierter Artenvielfalt. Spezifische Eigenschaften dieser Lebewesen wurden für bestimmte Zwecke (Arbeitskraft, Nahrungsmittel, Rohstofflieferanten für Textilien, Farb-, Heilstoffe u. a.) in den Vordergrund gerückt und durch gezielte Selektion gefördert, andere wiederum unterdrückt. Das deutsche Synonym zu colere – ‚pflegen‘ – bringt dabei zum Ausdruck, dass derartige menschliche Interventionen keine einmaligen Akte darstellen, sondern es iterativer Annäherungen bedurfte, um die – aus ökologischer wie aus ökonomischer Sicht – fraglichen landwirtschaftlichen ‚Kulturen‘ zu generieren und zu erhalten. ‚Kulturen‘ bezeichnen also auch Ergebnisse von Standardisierungsprozessen, die aus der grundsätzlich unerschöpflichen Vielfalt von Sinnbezügen zwischen der physischen Welt und ihrer Konnotation jene herausgreifen, die sich für die Konstitution, Aufrechterhaltung, aber auch für die Transformation von Sozialem als affordant erweisen. Gleichzeitig entwickelte die Materialität kultivierter Pflanzen und Tiere Agency auf den Menschen: Ackerbau bindet an den Ort des Anbaus und an jahreszeitliche Abläufe, die Versorgung großer Tierherden kann zu Transhumanz, d. h. saisonaler Mobilität und Nomadenturm, führen. Auf der Ebene der nicht lebendigen Güter spielen ebenfalls Fragen des Erhalts eine nicht unwesentliche Rolle. Materiales bzw. Materielles ‚macht‘ also etwas mit Menschen.
Der gewählte Ansatz der Aspektivierung zielt somit als Analysekategorie auf das Wahrnehmen, Identifizieren und Nutzen von spezifischen Eigenschaften alles Materiellen ab – sei es nun belebt oder unbelebt. Dieser Prozess spielt sowohl hinsichtlich des als ‚Affordanz‘ bezeichneten Angebotscharakters als auch hinsichtlich der als ‚Agency‘ bezeichneten Wirkmächtigkeit eine zentrale Rolle. So verweist Marcel Mauss darauf, dass lat. materies sowohl den Kern des Baumes, der als Kernholz zu Bauholz prozessierbar ist (Affordanz), als auch die Maserung von Marmor bezeichnet, auf die der Steinmetz beim skulpturalen Gestalten Rücksicht nehmen muss (Agency). Es sind somit nicht alle Eigenschaften und Materialverhalten, die für bestimmte Zwecke und in konkreten Situationen von Relevanz sind, sondern nur spezifische. Tim Ingold spricht daher materiellen Eigenschaften ihre – im wahrsten Sinne des Wortes – substanzielle Bedeutung ab, sondern sieht diese als relational zu denkende Attribute, die jeweils erst im Umgang mit Materialien ‚entstehen‘. (Roh-)Stoffe und Substanzen sind nicht ‚neutral‘, sondern historisierbar, insofern sich ihre materiellen Eigenschaften in Wechselwirkung mit Bewertungen, Technologieentwicklung, Wissen und sozialen Beziehungen wandeln. Gleiches lässt sich auch für Werkstoffe sagen. Materialwissen speist sich einerseits aus Empirie und Erfahrung, die ihren Ursprung im Umgang mit Materie und Materialien hat, aber auch aus Erfahrungen, die ihren Ausgangspunkt nur im Einwirken von Materie auf Menschen hat, wie dies beispielsweise bei Hochwasser der Fall wäre. Dieses Wissen wird aber erst durch Diskurse sozial verfügbar gemacht und sinngebend eingeordnet.
An diesem Punkt setzt das hier vorgestellte Konzept an: Aspektivierung rückt einerseits diese Prozesse hinsichtlich spezifischer materieller Eigenschaften, Verfügbarkeiten, Zuschreibungen, Bedeutungen und Wirkungen, andererseits die Verarbeitung von Materie/Material in kulturellen Praktiken, die sowohl filternd als auch durch Bedeutungszuschreibungen aggregierend ablaufen können, in den Blick. Erst durch diese Prozesse wird Materie kulturbildend, gleichzeitig wirken Materie und Materialien konkret auf diese Prozesse ein.
Positionierung in der Forschungslandschaft
Die historische Beschäftigung mit Materiellem ist aus forschungsgeschichtlicher Perspektive so alt wie die Kulturgeschichte als historische Teildisziplin selbst. Dies resultiert vor allem aus der engen Anbindung derselben an die Gründung von Museen im 19. Jahrhundert wie dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg oder den Museen für Kunstgewerbe. Die Beforschung der Sammlungsbestände wurde als grundlegende Notwendigkeit angesehen, um ein tieferes Verständnis für die Rolle der Objekte in den jeweiligen – damals vor allem ethnisch gedeuteten – ‚Kulturen‘ zu entwickeln.
Daneben etablierten sich im 20. Jahrhundert Publikationen, welche die Rolle von Materialien epochen- und kulturenübergreifend behandelten. Beispielhaft kann an dieser Stelle „Das große Buch vom Wachs“ von Reinhard Büll genannt werden, das versucht, eine Technik- und Kulturgeschichte dieser Werkstoffgruppe zumindest für die sogenannte ‚Alte Welt‘ und teilweise darüber hinaus zu leisten. Bülls Anliegen, die Rolle eines Materials für kulturelle Phänomene aller Art aufzuzeigen, kann trotz der Fülle an Belegen nicht darüber hinwegtäuschen, dass nur selten nach dem ‚Wie‘ des Wirkens von Wachs auf kulturbildende Prozesse gefragt wird. Aus Bülls Arbeit lässt sich ein weiterer Zugang, der sich aus der älteren Forschung entwickelte, erkennen, nämlich technikgeschichtliche Betrachtungen zu spezifischen Materialien. In diesen steht die Entwicklung von Ver- und Bearbeitungstechniken im Vordergrund, die – wie beispielsweise bei Fragen des Holzbaus – auch kulturgeschichtlich relevant sein können, aber vom Erkenntnisinteresse nicht deckungsgleich sind. Manche Arbeiten behandeln dabei mehr die zur Ver- und Bearbeitung verwendeten Geräte und Werkzeuge als die Materialien selbst. Neben den bereits genannten Zugängen ist in der Technik- und Wissenschaftsgeschichte der letzten Jahrzehnte vermehrt auch die historische Dimension von Materialien in den Vordergrund gerückt und Materialbedeutungen und -verwendungen betrachtet und analysiert worden. Auch der Begriff ‚Stoffgeschichte‘ wurde eingeführt, ohne eine spezifische stoffhistorische Methode aufzubringen. In rezenteren Beiträgen kulturwissenschaftlicher Forschung werden auch Konzepte wie jenes der Wertschöpfungskette integriert und an eine Global- und Verflechtungsgeschichte angeknüpft. Ältere Handbücher zur Technikgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, bei denen „nicht nur Gegenstände, Geräte, Maschinen im Mittelpunkt der Beiträge stehen sollen, sondern auch Verfahren“, thematisieren die Rolle des Materials, die Wechselwirkungsprozesse zwischen Stoffen und Innovationen für alle diese Bereiche nicht explizit, auch wenn – wie etwa im Abschnitt „Bergbau und Verhüttung“ in Lothar Suhlings „Erdöl- und Erdölprodukte“ – einige Beiträge der Geschichte einzelner Materialien gewidmet sind, aber z. B. Holz einerseits als Teil der ‚Agrartechnik‘ Forstkultur und andererseits im Kontext des Bauwesens verhandelt wird.
Ähnliches gilt für praxisnah konzipierte Werke für Restaurierung wie etwa die von Volker Koesling als eine Art von ‚Globalgeschichte‘ der Werkstoffe ausgerichtete Publikation „Vom Feuerstein zum Bakelit. Historische Werkstoffe verstehen“. Mit den Restaurierungswissenschaften ist hier eine Disziplin angesprochen, die explizit spezifisches Materialverhalten an historischen Objekten im Fokus hat und insbesondere mit den Kunstwissenschaften seit jeher in engem Austausch steht. Nicht zuletzt durch ihren Anteil an der Kunstvermittlung sind in den letzten Jahrzehnten materialbezogene Befunde mehr mit den Kontexten von Produktion, Rezeption und Verwendung der Kunstwerke verbunden worden – teils wurden sie auch ganz explizit in den Vordergrund gerückt. Ein Beispiel dafür war etwa die Bruegel-Ausstellung in Wien 2018/19, in der im ersten Raum der Sonderausstellung – auf eine große Leinwand projiziert – Details aus den Infrarotreflektografie-Aufnahmen neben jene aus der Makrofotografie gestellt und die materiale Präsenz der Bilder auf dieser Ebene gleich zu Beginn greifbar wurde. Auch Augmented Reality-Anwendungen haben in letzter Zeit dazu beigetragen, die Substanz von Kultur zu adressieren und vermittelbar zu machen. In Ausstellungskatalogen finden sich dagegen immer noch Beispiele dafür, dass die materiale Beschaffenheit von Kulturerbe wenig thematisiert bzw. mehr oder weniger am Ende der inhaltlichen Beiträge platziert und als nahezu parallele Auseinandersetzungsmöglichkeit mit dem Gegenstand aufgefasst wird. Es verwundert daher nicht, dass in der kunsthistorischen Forschung die Reflexion des Materiellen in der Kunst als Forschungsgegenstand erst sehr spät in das Blickfeld rückte. Obwohl die Bedeutung des Materials für die mittelalterliche Kunst spätestens seit den 1960er Jahren grundsätzlich bewusst war, wurde eine systematische Materialikonologie erst in den 1990ern und bezeichnenderweise für moderne Kunst begründet. Es dürfte sich nicht um einen Zufall handeln, dass sich neuere, seit dem Material Turn entstandene Publikationen mit einem mediävistischen materialikonologischen Schwerpunkt extensiv auf das Handbuch von Thomas Raff beziehen, weil umfassende Studien zu den einzelnen Materialien immer noch ausstehen oder gerade erst aktuell erscheinen, von Ausnahmen wie den Materialien Gold und Bronze einmal abgesehen.
Tatsächlich scheint auf den ersten Blick mit dem Material Turn in den Geistes-, Sozial und Kulturwissenschaften das Interesse am Materiellen und somit am Stofflichen im weitesten Sinne zugenommen zu haben. Wesentliche Impulse kamen dazu aus der Soziologie, konkret über die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour oder über die Theorie Sozialer Praktiken von Theodore Schatzki, die beide den materiellen Entitäten der physischen Welt eine weitaus größere und vor allem aktivere Rolle für menschliches Denken und Handeln zuschreiben, als dies zuvor der Fall war. Der Europäische Ethnologe Karl C. Berger spitzt dies in seiner Einleitung zum Tagungsband „Stofflichkeit in der Kultur“ folgendermaßen zu: „Alle Kultur ist auch materiell oder: sie ist nur in materialisierter Form sicht-, hör- oder greifbar, oder noch einmal anders formuliert: sie muss sich materialisieren“. Blickt man allerdings in die einzelnen Beiträge des Sammelbandes, so ist fast ausschließlich von Dingen, kaum aber von Roh- und Werkstoffen die Rede. Tatsächlich ist in der Forschung zu den Materiellen Kulturen/Material Culture Studies in der Vergangenheit in erster Linie die Bedeutung der Dinge angesprochen worden, mit einer eher generalisierenden Betonung der ‚Materialität’ als Gegensatz zu einer Ideen- oder auf Schriftquellen basierenden Geschichte. Auch im Handbuch „Materielle Kultur. Eine Einführung“ des Ethnologen Hans Peter Hahn, einem der prominentesten Vertreter der Material Culture Studies im deutschsprachigen Raum, geht es in erster Linie um Dinge, weniger um deren Stofflichkeit, geschweige denn um Materie und Materialien per se. Im 2018 erschienenen „Handbuch Literatur & Materielle Kultur“, herausgegeben von Susanne Scholz und Ulrike Vedder, sind neben ‚Thing-theories‘ und verwandten theoretischen Modellen hingegen wiederum in erster Linie Dinge in Texten thematisiert (einschließlich in der Auflistung eines „Dingmagazins“, das von ‚Abfall‘ bis ‚Zettelkasten‘ reicht). Aus Sicht des Imareal meint Materielle Kultur hingegen gleichermaßen die Kulturen der Dinge und die Kulturen der Materialien. Die tatsächliche Bedeutung der verschiedenen Materialien als solche ist erst in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus gerückt. So wurde im Sonderforschungsbereich „Materiale Textkulturen“ an der Universität Heidelberg die Materialität des Textträgers in den Vordergrund gestellt, um den Text selbst einzuordnen. Zwar wurden in den einzelnen Teilprojekten dann doch die Dinge als Träger der Texte thematisiert, das Erscheinen des Texts qua des konkreten Materials spielt aber doch immer wieder eine gewichtige Rolle. So werden im ersten Band der Reihe „Materiale Textkulturen“, der eine Art Glossar ist, nicht nur Begriffe wie ‚Material‘, ‚Materialität‘ oder ‚Affordanz‘ reflektiert, sondern einzelne Materialien per se aufgeführt, jedoch nicht losgelöst von Praktiken. Der Begriff ‚Materialen Textkulturen‘ zeigt das Bemühen an, tatsächlich die Materialität der Schrift und damit notwendigerweise das Material des Textträgers zu betonen, und nicht nur den Textträger als Teil der Materiellen Kultur. Allerdings bleibt letztendlich unklar, wie das Adjektiv ‚material‘, wie im Namen des Sonderforschungsbereich verwendet, von ‚materiell‘ konzeptionell abgegrenzt wird. Es kann nur vermutet werden, dass dieser Begriff entsprechend der oben zitierten Einleitung auf den Werkstoff des Schriftträgers, d. h. das aus der Materie (= Rohstoff) durch Bearbeitung gewonnene Material, rekurriert.
Der Exzellenzcluster ‚Matters of Activity‘ der Humboldt-Universität Berlin (2019–2025) stellt nicht nur das Material/die Materialien selbst in den Vordergrund, sondern die soziale, produktive und symbolische Eigenaktivität des Materials, wobei es weniger um historische Fragen als um Herausforderungen an Materialien und Materialfragen der Zukunft geht (z. B. in der Bauforschung, Biophysik und im Industriedesign). Am ehesten wird dieses Gleichgewicht auf konzeptioneller Ebene (neben den bereits genannten Arbeiten von Latour und Schatzki) durch Herbert, Kalthoff, Torsten Cress und Tobias Röhl angesprochen und eingefordert. Sie widmen sich im Rahmen des Sammelbandes „Materialität in Kultur und Gesellschaft“ den Herausforderungen von Materialität für die Sozial- und Kulturwissenschaften und konstatierten den Bedarf, auf die Spannungsverhältnisse zwischen dem „Physischen und dem Symbolischen“ sowie zwischen „Materialität und Sozialität“ produktiv zu reagieren. Sie schlagen vor, das Zusammenspiel der materiellen und symbolischen Dimension in spezifischen Kontexten, Umgangsweisen und materiellen Arrangements in den Fokus zu nehmen, ohne eine analytische Engführung auf bestimmte Formen des Materiellen vorzunehmen. Sie begreifen „das Materielle weder [als] eine Determinante menschlichen Handelns“, noch sei es „beliebig durch menschliches Handeln konstruierbar; vielmehr werden die jeweiligen Arten und Weisen der Verflechtung als empirisch offene Frage behandelt“. Genau darauf baut das den Beiträgen dieser Memo-Ausgabe zu Grunde liegende Konzept der Aspektivierung auf: Es möchte das von den Autor*innen beschriebene Spannungsverhältnis von Physischem und Symbolischen durch den Zugang der Aspektivierung dynamisch und produktiv analysierbar machen. Dies soll, bevor das Konzept der Aspektivierung detaillierter dargelegt wird, kurz am Beispiel der Geschichtswissenschaften exemplifiziert werden: Aus deren Perspektive sind immer menschliche Akteure Teil der disziplinären Auseinandersetzung. Wird Material in den Mittelpunkt gestellt, braucht es den menschlichen Umgang damit, der sich in den Praktiken widerspiegelt. Ausgangspunkt für derartige Überlegungen kann daher immer nur sein, welche Aspekte von Material derart wahrgenommen wurden, dass sie zu Verschriftlichungsprozessen geführt haben. Vergangene Praktiken können nicht restlos rekonstruiert werden, werden jedoch insbesondere in Phasen, in denen Vorstellungen und Beobachtungen hinsichtlich Materialität voneinander abweichen, vermehrt diskursiviert. Das stete Vorbeifließen von Wasser im nahegelegenen Fluss findet kaum Niederschlag in der schriftlichen Überlieferung, wohl aber sein Über-die-Ufer-Treten und die damit verbundenen Konsequenzen und Handlungen.
Aspektivierung
Aspekt und Aspektivierung: Herleitung und bisherige Verwendung
Der Begriff ‚Aspekt‘ stammt aus der Astrologie und bezeichnet eine Konstellation von Planeten, beobachtbar zu einem bestimmten Moment und von einem bestimmten geographischen Standpunkt aus. Im Deutschen wurde ‚Aspect‘ im 15. Jahrhundert in dieser Bedeutung übernommen. Ursprünglich als aspectus von aspicere abgeleitet, konnte der Begriff aber auch ‚Aussehen‘ bzw. ‚Ansicht‘ und in prospektiver Bedeutung auch ‚Vorzeichen‘ meinen. Die heutige Bedeutung entwickelte sich erst seit dem 18. Jahrhundert.
In der Übersetzungslinguistik wird der Begriff ‚Aspektivierung‘ für die Abhängigkeit der Wortsemantik von seiner Umgebung verwendet. Es wird berücksichtigt, dass die/der Autor*in eines zu übersetzenden Textes den verwendeten Begriff aspektiviert hat, d. h. nur diejenigen latenten Bedeutungen aktiviert hat, die mit der Umgebung des Wortes den beabsichtigten Sinn erzeugen, also etwa wenn aus dem Kontext erschließbar wird, dass mit dem verwendeten Begriff ‚Geld‘ eigentlich auf ‚Bargeld‘ verwiesen wird. In der Übersetzung muss dem Rechnung getragen werden, erstens indem nicht das Wort per se, sondern seine Aspektivierung übertragen wird. Weiters kann in einem Sprachsystem ein Wort bereits einen Aspekt integrieren (z. B. ‚Furcht‘, ‚Schrecken‘ oder ‚Schmerz‘ im englischen scream im Unterschied zu shout), während in einem anderen diese explizit gemacht werden müssen (z. B. im Deutschen: vor Schmerzen schreien im Unterschied zu über den Hof schreien). In der interdisziplinär ausgerichteten Wahrnehmungsforschung erscheint der Begriff ‚Aspekt‘, soweit für uns nachvollziehbar, zum ersten Mal als terminus technicus im frühen 20. Jahrhundert, als durch die epochalen Fortschritte von Physik und Medizin die Vorstellung einer unmittelbaren und ungefilterten Wahrnehmbarkeit von Umwelt massiv erschüttert wurde. Der Psychologe und Philosoph Alexius Meinong verwendete ‚Aspekt‘ als zentralen Begriff seiner wahrnehmungsgeleiteten Gegenstandstheorie, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass es zwischen den Gegenständen und den ‚Wahrnehmungsobjekten‘ eine grundlegende Diskrepanz gibt, die Folge der eingeschränkten und manipulierbaren menschlichen Sinne ist. So sind Töne und Farben, weil auf physikalischen Schwingungen beruhend, „Aspekte, die nicht mit Objekten identisch sind.“ Dieser Ansatz wurde von der Kognitionsforschung bestätigt, weiterentwickelt und gilt heute als Standardwissen. Demnach werden grundsätzlich einzelne Reize eines Objekts wie Form, Farbe, Härte etc. als einzelne Aspekte von unterschiedlichen Rezeptoren erfasst und im Gehirn wieder zu einer Gesamtwahrnehmung zusammengesetzt. Entscheidende Impulse für die Übernahme der Wahrnehmungstheorien in die Kulturwissenschaften leistete Maurice Merleau-Ponty, der in seiner „Phänomenologie der Wahrnehmung“ den menschlichen Körper als zentrale Membran der Mensch-Dinge-Beziehungen identifizierte. Nach Merleau-Ponty geht jeder gedanklichen oder sprachlichen Auseinandersetzung mit der materiellen Welt eine vorsprachliche „Empfindung“ voraus, welche auch nur defizitär sprachlich wiedergegeben werden kann. Die zentrale Bedeutung der vorsprachlichen Erfahrung des Materiellen wurde mittlerweile auch von der Entwicklungspsychologie bestätigt. Hans-Peter Hahn spricht, darauf Bezug nehmend, von den ‚Beziehungsaspekten‘ als prägende Elemente der Wahrnehmung, da in der Interaktion mit materiellen Dingen sowohl auf bewusster als auch auf unterbewusster Ebene Verbindungen zwischen Subjekt und Objekt entstehen. Diese umfassen aber nie das Ding an sich, sondern immer bestimmte Aspekte, die für das Subjekt bedeutsam oder erinnerlich werden. Dies gilt – aus Sicht der Autor*innen dieser Einleitung – auch für alle Erfahrungen des Materiellen jenseits des Dinghaften, wie beispielsweise für Regen oder Feuer. In der Dingwahrnehmung (sei es im Sinne ihrer Relevanz für eine Weltsicht oder eine konkrete Handlung) spielt die soziokulturelle Prägung des/der Rezipient*in eine zentrale Rolle. In der Kulturanthropologie werden entsprechend die Begriffe ‚Aspekt‘ und ‚Aspektivierung‘ angewendet, um beispielsweise zu erläutern, dass der Mensch nur das wahrnimmt, was als ‚erlebte Bedeutsamkeit‘ beschrieben wird. In seinem Beitrag zur philosophischen Anthropologie im „Handbuch für Kulturphilosophie“ führt Ralf Becker dies mit Bezug auf die kulturanthropologische Position Erich Rothackers näher aus:
„Bestimmend für die Auswahl des jeweilig bedeutsamen Aspekts ist ein Weltbild, das – in der alltäglichen Lebenswelt ebenso wie in der Wissenschaft – immer nur einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit präsentiert. Das Weltbild macht aus dem Weltstoff eine kulturelle Umwelt. Jede einzelne Aspektivierung artikuliert oder ‚desartikuliert‘ die erlebte Welt.“
Rothacker beschreibt diese Dynamis von Artikulierung und Desartikulierung am Beispiel der erlebten kulturellen Bedeutsamkeit des Waldes und bezeichnet die verschiedenen Wahrnehmungsentitäten als Aspekte (Bauer/Gehölz, Förster/Forst, Jäger/Jagdgebiet, Wanderer/Schattengebiet, Verfolgter/Unterschlupf, Dichter/Mythos): „In diesem Sinne erleben verschiedene Menschen denselben Weltstoff in ganz verschiedenen Aspekten.“
Entscheidend für die Übertragung des Begriffs ‚Aspekt‘ aus seiner ursprünglichen Verwendung und des Begriffs ‚Aspektivierung‘ aus den Kontexten der Bedeutungskonstitution in den Sprachwissenschaften, der Kulturanthropologie und der Wahrnehmungsphilosophie für die Beschreibung kulturhistorischer Phänomene ist die Berücksichtigung eines Beobachtungsstandpunktes, die latenten Eigenschaften, die nur unter bestimmten Bedingungen aktiviert werden, sowie eine Dynamis der Fokussierung bestimmter wirksam werdender Zusammenhänge. Diesen Beobachtungsstandpunkt nehmen wir im Folgenden für eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Material ein.
Aspektivierung und Material
Unter ‚Aspektivierung‘ verstehen wir jenen (historischen) Vorgang, aus der Vielzahl der Eigenschaften, Verfügbarkeiten, Zuschreibungen, Bedeutungen und Wirkungen eines Materials jene Aspekte zu fixieren, die in konkreten Settings sowie in Situationen oder Konstellationen als Teile kultureller Prozesse relevant sind.
Immer ist eine Interaktion mit Material geleitet von der Perspektive jener, die mit ihm in Kontakt treten, und die daran teilhat, dass bestimmte Eigenschaften in den Fokus rücken und andere ausgeblendet werden. Aspektivierungen sind daher auch an allen Funktionen beteiligt, die man Material in bestimmten Kontexten zuweist bzw. umgekehrt: sie sind beteiligt an der Affordanz (also dem Angebotscharakter), die man in einem bestimmten Material für einen Nutzungszusammenhang erkennt. Auch bei Praktiken oder ritualisierten Handlungen kommen nur bestimmte Aspekte von Materialien zum Tragen. Das gilt selbst dann, wenn Aspekte eines Materials im tradierten Usus weiterhin relevant bleiben, obwohl sich die Bedingungen der Materialalternativen für ein Gebrauchsobjekt verändert haben. Ein Beispiel dafür ist die nach wie vor verbreitete Verwendung eines Eierlöffels aus Plastik, Horn oder Perlmutt, die sich durchgesetzt hatte, weil die früher häufiger verwendeten Silberlöffel mit dem Eiweiß reagierten. Obwohl dies für die heute üblichen Standardbestecke aus Edel- oder Chromstahl nicht gilt und sie daher genauso gut verwendet werden könnten, wird in vielen Haushalten und in der Produktion der Löffel an dieser Tradition festgehalten. Lediglich das früher auch eingesetzte Elfenbein ist als Material für die Eierlöffel verschwunden, dies aber aus anderen Gründen: Der Aspekt „reagiert nicht mit Eiweiß“ wurde auf Grund der Artenschutzmaßnahmen grundsätzlich bedeutungslos. Entsprechend haben wir es auch in den Bereichen ‚Materialwissen‘ und ‚Material als Ressource‘, in deren Kontext es um Themen der Zuschreibungen von Eigenschaften oder Wirkungen, Verfügbarkeit, Beschaffung, Bearbeitungstechniken etc. geht, mit Aspektivierungen zu tun. So werden etwa in einer Monografie zu den physikalischen Eigenschaften von Glas vermutlich die in einem utopischen Fantasy-Roman erdachten Wirkungsweisen dieses Materials nicht aufgezählt. Verfügbarkeit und Bewertung von Materialien sind ebenfalls abhängig von konkreten Aspekten, die ihre Verwendbarkeit in einem Kontext besonders sinnvoll machen. Umgekehrt werden auch Entscheidungen, Materialien nicht zu verwenden (etwa Amalgam für Zahnfüllungen aufgrund seiner gesundheits- oder umweltschädigenden Effekte) oder nicht zu zeigen (etwa bei verkleidetem Beton), aufgrund bestimmter (aber nicht aller) Aspekte getroffen.
Aspektivierung ist ebenso bei der Darstellung, Evokation und Beschreibung von Material in der Kunst, Literatur etc. von Bedeutung. Die Praktiken in den unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen sind dafür verantwortlich, dass nicht zu allen Zeiten und in allen Kontexten die Gesamtheit der darstellbaren Eigenschaften von Materialien realisiert wurden. Damit geht auch einher, dass der Anteil der repräsentierten Stofflichkeiten und Oberflächen an der Kommunikationsleistung variiert. In jedem Fall sind aber diese Repräsentationen und Evokationen von Material Teil einer bewussten oder unbewussten Bedeutungsgenerierung, die wiederum auf die kulturellen Prozesse in der physischen Welt rückwirken. Darüber hinaus können sowohl bei der Verwendung von Materialien in einem direkten Sinn als auch bei ihrem diskursiven Gebrauch durch Aspektivierungen in bestimmten Zeiten und Kontexten stärkere oder schwächere Links zwischen Materialien und Objekten entstehen, worin einer der Gründe für die oft fließende Grenze zwischen diesen beiden Kategorien liegt. Materialaspektivierungen werden in unterschiedlichen Formen soziokulturell etabliert und gegebenenfalls auch tradiert. Sie sind damit Teil von Prozessen der überindividuellen Bedeutungsgenerierung (und sei es, um mit diesen Festlegungen zu brechen) und folglich daran beteiligt, wie Kultur gemacht wird. Aspektivierung von Material ermöglicht, ‚vom Material her‘ zu denken (z. B. Holz als Material des Kreuzes Christi) und stellt damit gleichzeitig eine Abgrenzung von bisheriger Objektforschung dar.
Chancen und Herausforderungen
Für die Beiträge dieser Ausgabe ermöglicht der Begriff ‚Aspektivierung‘ im interdisziplinären Zugriff das Wahrnehmen, Identifizieren und Nutzen alles Materiellen aus unterschiedlichen, disziplinär eingebetteten Blickwinkeln zu betrachten und sich so der Frage anzunähern, wie Material Kultur macht. Wenn man eben nicht fachspezifische Begriffe (wie ‚Materialikonologie‘, ‚Material als Ressource‘, etc.) verwendet, sondern die Materialaspektivierung als allgemeine Betrachtungsweise, ist die Anschlussfähigkeit für andere Disziplinen gegeben. Erst dann kann untersucht werden, wie das Leben der Menschen durch Materialien, ihre Wirkungen und ihre Zuschreibungen bestimmt ist. Die Aspektivierung verhindert darüber hinaus eine Hierarchie der Materialien, wie sie in der Kulturgeschichte entstanden ist, und ermöglicht hingegen eine Nivellierung, die Bronze und Kuhdung als Materialien vergleichbar macht. Dadurch werden übergreifende Analysen möglich.
So erlaubt es der Ansatz bspw.in der Kunstgeschichte gezielt den Fokus auf die im Werk aktivierte Bedeutung des Materials auszurichten. Auf diese Weise kann die Relevanz einer Materialikonologie für bestimmte Kunstwerke präzisiert werden, was grundlegend für eine Einschätzung ist, inwiefern Material Kultur macht. Dem einzelnen Material gelten zahllose semantische Zuschreibungen – jedoch nie alle, sondern nur einige werden in Produktion und Rezeption aspektiviert. Diese Aspekte gehen sowohl Allianzen mit dem Bildprogramm als auch mit der dem Kunstwerk verbundenen Performanz einher. Die Darstellung von Joseph als Zimmermann in seiner Werkstatt, der bei einer Holz verarbeitenden Tätigkeit gezeigt wird, ist in einer auf Pergament umgesetzten Buchminiatur anders zu bewerten und zu verstehen als auf einer Holztafel, die von einem Schreiner gefertigt wurde. Der auf seiner elfenbeinernen Kathedra sitzende Erzbischof Maximian konnte sich als Nachfolger König Salomos verstehen, In den nicht material-orientierten Disziplinen (Geschichtswissenschaft, Germanistik) ist die Beschäftigung mit Materialität an und für sich ein Aspektivierungsvorgang, der seinen Niederschlag in der schriftlichen Überlieferung findet. So lässt sich im Beitrag von Elisabeth Gruber die in Texten diskursivierte Materialität von Wasser hinsichtlich der von Meier u. a. vorgeschlagenen begrifflichen Trias von ‚Materie‘, ‚Material‘ und ‚Materialität‘ als Abfolge kultureller Konzeptionierung und somit eben als Aspektivierung lesen. Wasser als Materie ist zunächst in verschiedenen Aggregatzuständen präsent in denen es in unterschiedlichen Intensitäten wahrgenommen wird. Zum Material wird Wasser, wenn es beispielsweise für den Antrieb von Mühlrädern kanalisiert wird. Die Materie ‚Wasser‘ wird zum Material, das für das In-Bewegung-Setzen von konkreten Objekten geformt wird (Antrieb). Historisch fassbar wird diese Materialität nur, wenn der Vorgang Eingang in die schriftliche Überlieferung findet. In ähnlicher Weise ermöglicht es die Aspektivierung, andere Materialien – etwa das im Kontext grundherrschaftlicher Verwaltung intensiv diskursivierte Holz – aus materialzentrierter Perspektive zu fassen. Zwar zielen die in der Verwaltungsüberlieferung thematisierten Praktiken der Holz- und Waldnutzung zunächst auf mögliche Verwendungsszenarien ab. Gleichzeitig erschließen differenzierte Begrifflichkeiten für unterschiedliche Holzqualitäten wirtschaftliche (Be-)Wertungen, soziale Zuschreibungen und Praktiken, deren Aufzeichnung nicht im Primärinteresse der verzeichnenden Akteur*innen stand. Auch die Funktionen von diskursiviertem Material im Bild lässt einen der Aspektivierungsansatz besser verstehen. Hier wird erst mit einem Blick darauf, welche Materialeigenschaften, -wirkungen und -zuschreibungen in den Fokus gerückt werden, deutlich, wie diese an der Kommunikationsleistung beteiligt sind und welche Rezeptionsangebote sie machen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass diskursive Medien auch indirekte Verweise auf aspektiviertes Material beinhalten können (etwa, wenn in einem Bild die säuerlich wirkenden Gesichtszüge einer Person dargestellt werden, weil sie in eine Zitrone beißt). In dem in Temperamalerei ausgeführten Letzten Abendmahl eines Flügelretabels von 1494, das heute in Hluboka nad Vltavou (Abb. 1) aufbewahrt wird, tragen die ornamentalen bzw. floralen Reliefs von Stuhl und Bank dazu bei, die rechts im Vordergrund sitzenden Personen von Judas auf dem einfachen Dreibein ohne Schnitzarbeit abzugrenzen. Die Art der Verarbeitung des Materials der Möbel ist neben anderen Markern wie beispielsweise der Kleidung dafür verantwortlich, jene Person, die Jesus verraten wird, im Bild auszuweisen.
Über den Zugriff der Aspektivierung können in weiterer Folge auch Strategien der Kunstproduktion hinsichtlich der Materialikonologie und der Materialdiskursivierung im Bild herausgearbeitet werden.
In der Archäologie liegt mit dem Forschungsfokus auf materiellen Hinterlassenschaften die Berücksichtigung von Werkstoffen bei Artefakten und deren Ver- und Bearbeitung auf der Hand. Besonders augenfällig wird dies an der prähistorischen Großepochengliederung für den eurasischen Raum, die seit dem 19. Jahrhundert mit Steinzeit – Bronzezeit – Eisenzeit maßgeblich auf Hauptmaterialien rekurriert. Auch wenn jener Autor, auf den maßgeblich diese Dreigliederung zurückgeht – Christian Jürgensen Thomsen – in seiner Hauptpublikation von 1837 ausdrücklich betont, dass die Werkstoffe nur ein Kriterium unter mehreren zur Charakterisierung der Epochen darstellt, hat insbesondere in der populärwissenschaftlichen archäologischen Literatur diese werkstoffbezogene Bezeichnung bisweilen eine Sogwirkung in Richtung eines Materialdeterminismus entwickelt. So hält sich beinahe unvermindert die stark vereinfachende Konsequenzbehauptung, dass komplexere metallurgische Verfahren auch zu komplexeren Sozialstrukturen führen würden. Der Reiz und gleichzeitig die methodische Herausforderung in der Beschäftigung mit Gießgefäßen, wie im Beitrag von Thomas Kühtreiber als Thema gewählt, besteht darin, dass die aspektivierten Stoffe und Substanzen nicht mehr vorhanden sind. Ein vergleichbares archäologisches Phänomen sind die sogenannten Pfostenlöcher oder Pfostengruben: Dabei handelt es sich um künstliche, in der Aufsicht meist runde Vertiefungen im Boden, die sich durch eine meist andersartige Verfüllung vom umgebenden Sediment abzeichnen. In den seltensten Fällen ist aber noch das Holz des ehemaligen Standpfostens erhalten – die materielle Interpretation erfolgt somit indirekt über sekundäre Kriterien, wie die Form des eigentlichen Pfostenlochs als Negativ des ehemaligen Holzkörpers, etwaige Steine zur Verkeilung des Pfostens, oder die lineare Anordnung mehrerer Gruben, die auf einen Hausgrundriss schließen lassen. Im wahrsten Sinne des Wortes wurden und werden basierend auf einem Negativ-Befund weitreichende bautechnische und kulturelle Schlüsse gezogen. Die mit der Absenz des Hauptmaterials verbundene Restunsicherheit zu thematisieren, ist auch eine Aufgabe, die sich der Autor in seinem Beitrag stellt. Figural gestaltete Gießgefäße können dahingehend einen Lösungsansatz bieten, weil davon ausgegangen werden kann, dass deren Gestaltung in engem Zusammenhang mit dem Gebrauch derselben und damit auch mit den Flüssigkeiten stehen. Der Zugang der Aspektivierung ist bei diesem Vorhaben besonders hilfreich, weil durch ihn etwaige Materialdeterminierung in archäologischen Logiken aufgebrochen werden können.
Aspektivierung konkret
Der Beitrag von Heike Schlie zum Lütticher Taufbecken verfolgt das Ziel, eine materialikonologische Herangehensweise für die Kunst der Vormoderne hinsichtlich der Aspektivierungsmethode zu schärfen. Der Ansatz der Aspektivierung erlaubt eine gezielte Analyse, welche Eigenschaften, Zuschreibungen und Wirkungen eines Materials aus einer Vielzahl seiner Bedeutungen für ein bestimmtes Kunstwerk aktiviert werden. Zudem wird beschrieben, welche Allianzen das reine und finale Produktionsmaterial zu weiteren faktisch oder ideell beteiligten Materialien eingeht – hier zum Taufwasser, zum Jordanwasser sowie zum Wachs des Ausschmelzverfahrens. Darüber hinaus sollen technikikonologische Analysen zur Forschung über das Lütticher Taufbecken beigetragen werden. Die Aspekte der Gusstechnik sowie der Fluidität der Bronze im Werkprozess, beides in Referenz zum Fluss des Taufwassers, werden im Bild- und Schriftsystem und konkret an der technischen Einfügung von Figuren für einen Gesamtsinn sowohl des Taufbeckens als Objekt als auch der Praxis des Taufens fruchtbar gemacht. Ausgehend von der typologischen Bedeutung des Lütticher Taufbeckens wird darüber hinaus ein Vorschlag formuliert, welche Rolle dem Material aus der Perspektive eines ‚Kunstwerks als Figura‘ (nach Auerbach) zuzuschreiben ist.
Der Beitrag von Elisabeth Gruber nähert sich dem Einfluss von Wasser auf das Handeln der Menschen über die Aspektivierung einer spezifischen Materialeigenschaft, dem Fließen. Fließendes Wasser stellt einen zentralen Interaktionsanlass dar, der sich nicht darin erschöpft, Wasser zu kanalisieren oder als Antriebskraft zu nutzen. Im Beitrag wird danach gefragt, welche weiteren Aktionen, Reaktionen oder Handlungsangebote aktiviert werden und welche Formen gemeinschaftlichen Handelns, sozialer Praktiken oder Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur ausgelöst werden.
Der Aufsatz von Thomas Kühtreiber beschäftigt sich mit Materialaspektivierungen bei figural ausgestalteten Gießgefäßen. Wie bestimmen die Flüssigkeiten und Rituale die Gefäße und wie bestimmen in weiterer Folge die gefestigten soziokulturellen Bedingungen den Materialgebrauch? Das Forschungsinteresse an dieser Funktionsgruppe teilen sich Kunstgeschichte und Archäologie, wobei die kunsthistorischen Publikationen eher auf die metallenen, jene der Archäologie eher auf Keramikobjekte fokussieren – Materialaspektivierung kann also auch eine Frage des disziplinären Augenmerks sein, wobei hier auch implizit Materialbewertungen in die Auswahl einfließen. Der Autor verfolgt einen Ansatz, bei dem Materialwissen die zentrale Kategorie der Aspektivierung darstellt, wobei Wissen in der Wechselwirkung zwischen Praxis und Diskurs generiert und transformiert wird. Somit kann im Beziehungsdreieck ‚Material – Gesellschaft/menschlichen Akteuren – Praxis/Diskurs‘ von einem dynamischen Prozess ausgegangen werden, in dem jede Veränderung in diesem Gefüge Folgen für andere Komponenten haben und damit zu neuen Materialaspektivierungen führen kann.
Die Funktionen der Materialaspektivierungen für die Erzählstrategien visueller Medien des Mittelalters werden im Beitrag von Isabella Nicka anhand der Miniaturen der Concordantiae Caritatis (um 1355, Stiftsbibliothek Lilienfeld) in den Fokus gerückt. Ausgangspunkte für die Untersuchungen sind Annotationen zu Darstellungen von marmoriertem Stein sowie zu trockenen Erdschollen/zerklüfteten Felsen aus der Bilddatenbank REALonline, die mit Methoden aus den Digital Humanities ausgewertet und visualisiert wurden. Eingenommener Raum und Funktionen dieser Materialien unterscheiden sich wesentlich, wodurch verschiedene Anforderungen, die sich im Rahmen des Forschungsprozesses ergeben, anhand eines Distant Viewings thematisiert und in Detailuntersuchungen reflektiert werden können.
Alle vier Beiträge stellen ‚Materialität’ hinsichtlich der Potenziale, Latenzen und Optionen konkreter Materialien in den Vordergrund. Um zu erfassen, wie es von diesen Potenzialen zu einer tatsächlichen Materialisierung bzw. Realisierung in den Objekten und Kulturpraktiken kommt, ist die Aspektivierung die in dieser Ausgabe angebotene und erprobte methodische Metapher.