Aspektivierung, Agency und Affordanz der Bronze im Fall des Lütticher Taufbeckens
Abstract
Die vorliegende Untersuchung will den materialikonologischen, kunsttheoretischen und im weitesten Sinne epistemologischen Status des Materials ‚Bronze‘ bzw. ‚Messing‘ für das Taufbecken fokussieren, welches 1104–1118 für die Kirche Notre-Dame-aux-Fonts in Lüttich nach dem Vorbild des Ehernen Meeres im Salomonischen Tempel gefertigt wurde und sich heute in der Stiftskirche St. Bartélemy befindet (s. u., Abb. 1). Allerdings geht es primär nicht um neue Deutungsvorschläge für dieses Werk, sondern um die Vorstellung eines methodischen Modells für eine Evaluierung des Materials für die Werkentstehung, Werkbedeutung, Werkwirkung, Werkrezeption usf. Der Beitrag wird sowohl der Affordanz als einem produktiven Faktor des Materials, seiner Agency im Werkkontext als auch einer Aspektivierung des Materials in Produktion und Rezeption anhand dieses Fallbeispiels nachgehen. Neben dem Ziel, das Modell der Aspektivierung für die Materialikonologie zu evaluieren, sollen insbesondere mit dem Material einhergehende technikikonologische Erwägungen zur Forschung über das Lütticher Taufbecken beigetragen werden. Dies betrifft insbesondere die Aspekte der Gusstechnik sowie der Fluidität der Bronze im Werkprozess, beides in Referenz zum Fluss des Taufwassers und zu Metaphern einer metallurgischen Liquefaktion des Christuskörpers. Von der typologischen Bedeutung des Lütticher Taufbeckens ausgehend wird darüber hinaus ausgeführt, welche Rolle dem Material für das „Kunstwerk als Figura“ nach Auerbach zuzuschreiben ist.
Zu diesem Artikel existiert eine Episode des begleitenden Podcasts “Sonic Trinkets”:
Abstract (englisch)
The present study aims to focus on the material iconological, art theoretical and, in the broadest sense, epistemological status of the material ‘bronze’ or ‘brass’ for the baptismal font, which was made in 1104-1118 for the church of Notre-Dame-aux-Fonts in Liège based on the model of the Bronze Sea in Solomon’s Temple. However, the primary aim is not to propose new interpretations for this work, but to present a methodological model for an evaluation of the material for the work’s creation, work meaning, work effect, work reception, and so on. The article will investigate both the affordance as a productive factor of the material, its agency in the context of the work, and an aspectivation of the material in production and reception on the basis of this case study. In addition to the goal of evaluating the model of aspectivation for material iconology, considerations of technology iconology associated with the material in particular will be contributed to research on the Liège baptismal font. This concerns in particular the aspects of the technique of casting as well as the fluidity of the bronze in the working process, both in reference to the flow of the baptismal water and to metaphors of a metallurgical liquefaction of the Christ body. Starting from the typological significance of the Liège baptismal font, the role of the material for the “work of art as figura” according to Auerbach is discussed as well.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Im Bereich der Material Culture Studies gelten die Untersuchungsordnungen immer noch mehr den Dingen als den Materialien. Es lässt sich der Eindruck gewinnen, dass es in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen – auch in der Kunstgeschichte – kaum möglich ist, das Material zu thematisieren, ohne primär von den Dingen bzw. Werken zu sprechen. Zudem scheint zu gelten, dass die Loslösung der materia von der Dinglichkeit traditionell eher in den Bereich der Philosophie gehört – und dort allerdings auch keine konkreten Materialien meint. Gesellschaften, Kulturen und sogar geistige Modelle sind allerdings determiniert durch das, was in den konkreten materialen
Für die Kunstgeschichte ist die Vernachlässigung des Materials eines Kunstwerks eng mit der Geschichte der Kunstkritik und Kunsttheorie verknüpft. Bandmann schreibt in einem der frühesten expliziten Beiträge zur Materialikonologie: „Solange man das Wesen der Kunst in der Idee, im Disegno und Concetto begründet sah, bezeichnete das verwendete Material nur das Medium, dessen die nach Anschaulichkeit drängende Idee bedurfte.“ Bandmann sieht gar für das 15. und 16. Jahrhundert eine Negierung des Materials insofern, als dass es so weit wie möglich sublimiert und in seiner sinnlichen Erscheinungsform „gedämpft wird, damit die Idee in ihrer reinen Form zum Vorschein kommen kann“, wobei hier offen bleibt, ob dies einem Bestreben der frühneuzeitlichen Kunst selbst oder einer modernen kunstwissenschaftlichen Projektion geschuldet ist. Zuletzt hat die Entwicklung der Kunstgeschichte zu den Bildwissenschaften und den Visual Studies – so wichtig sie für das Fach Kunstgeschichte waren – eine Fortschreibung dieser Negation des Objektstatus sowie der Materialbedingtheit der Kunstwerke bewirkt.
In diesem Beitrag wird angestrebt, die Materialität der Dinge tatsächlich unter den Bedingungen ihrer spezifischen Substanzialität oder Stofflichkeit zu perspektivieren und somit in den Fokus zu rücken, wie das Material bzw. die diversen Materialien die Kulturen mitbestimmen, determinieren und konstituieren. Diese Perspektive, die auch Optionen einer Materialaktivität einschließen soll, lässt sich an dem zu diskutierenden Beispiel fassen als: ‚Bronze gibt dem Taufbecken Gestalt und bestimmt seine Dinghaftigkeit‘, statt eines: ‚Das Ding Taufbecken besteht aus Bronze‘. Berücksichtigt werden sollen auch diejenigen Materialien, die in Praktiken (der Herstellung und des Umgangs), in Wahrnehmungen und in Zuschreibungen mit dem im Fokus stehenden Material verbunden werden; für den Fall des Taufbeckens ist dies vor allem das (Tauf-)Wasser, das Wasser des Jordans, die Erze und Zusatzstoffe in den Legierungen und das Wachs des Ausschmelzverfahrens im Bronzeguss.
Es geht um das Postulat einer Eigenproduktivität des Materials, die an der Entstehung, Bedeutung und Wirkung des Werkes beteiligt ist. Der/die Künstler*in kann die Frage des Materials nicht vollständig kontrollieren: Er/sie kann nur Materialien wählen, die zur Verfügung stehen, und er/sie kann sie nur unter den Bedingungen der ihnen eigenen und der ihnen zugeschriebenen Eigenschaften und Vorbedeutungen bearbeiten bzw. verwenden. Dies gilt ebenso für ‚künstlich‘ hergestellte Materialien wie Holzkohle oder Metalllegierungen – auch da, wo der Mensch Verfahren entdeckt oder erfindet, aus in der Natur vorhandenen Rohstoffen nicht natürlich vorkommende Materialien zu generieren, ist er an die Bedingtheit der Verfahren und die Eigenschaften der Rohstoffe gebunden. Zudem ist der/die Künstler*in nicht völlig frei in der Wahl seiner/ihrer Werkzeuge: Auch hier spielt ‚Material‘ eine Rolle, beispielsweise bezüglich des Verhältnisses vom Härtegrad des Werkzeugs zum Härtegrad des Werkstoffs.
Der/die Künstler*in wählt das Material aus pragmatischen Gründen der Verfügungsoptionen, der Bearbeitungsmöglichkeiten sowie der späteren Wirkung und Bedeutung aus, und dies auf Grundlage einiger, nicht aller seiner Eigenschaften: Sein/ihr Umgang mit dem Material ist durch Aspektivierung gekennzeichnet. Aspektivierung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Wahl und die Bearbeitung des Materials sowie die Bedeutungszuschreibung an das Material nicht auf der Berücksichtigung aller Eigenschaften des bzw. Zuschreibungen an das Material beruhen, sondern nur auf einem für den/die Künstler*in beobachtbaren bzw. für das Kunstwerk relevanten Anteil dieser Eigenschaften. Und er/sie aktiviert für die Bedeutung des Werkes ebenso nur einen Teil der möglichen semantischen Zuschreibungen. Die Aspektivierung des Materials ist quasi die andere Seite, das Revers der Materialaffordanz: Das Material bietet sich durch sein So-Sein und seine bisherige Verwendung zu einer Bearbeitung und Verarbeitung zu bestimmten Werken an (Affordanz); im Produktionsprozess wird das Material entsprechend eines Werkvorhabens aspektiviert. Auch in der Rezeption wird das Material aspektiviert, wobei es hinsichtlich Semantik und Wirkung gemeinsame Schnittmengen mit der Aspektivierung in der Produktion gibt, was sich im Laufe der Objektbiografie des Werkes aber ändern kann. Die Rezipierenden, die weit reichenden Kenntnisse über die Technik des Bronzegusses haben, werden das Material anders aspektivieren als die Gelehrten, die wiederum einen großen Anteil der theologischen Zuschreibungen an das Material und seine Allegorisierungen abrufen können. Dem rezipierten Produkt sind die vielfältigen Aspekte der Materialwahl und Materialverarbeitung, selbst der angewandten Werkzeuge und Techniken, inhärent und können via Wahrnehmung und Wissen abgerufen werden.
Zur Aspektivierung des Materials
Es ist davon auszugehen, dass jedes Material latent mit vielfältigen Zuschreibungen und Aktivierungsoptionen verbunden ist, die wir uns in ihrer Gesamtheit als eine Art von unbegrenzter, virtueller Sem-Cloud vorstellen können. Die Menge der Seme (latente Bedeutungseinheiten) ist potenziell unendlich; die Sem-Cloud enthält rein theoretisch all das, was jemals zu dem Material ausgesagt, was an ihm beobachtet und was ihm zugeschrieben wurde, wie es bearbeitet werden kann, was aus diesem Material gefertigt wurde und wie man mit Dingen aus diesem Material umgehen kann.
Ein beobachtetes oder aktiviertes Sem, das bei der Wahl eines Materials für ein Werk oder bei der Bedeutungszuweisung in der Rezeption zum Tragen kommt, ist hier als Aspekt bzw. als Teil eines Aspektes definiert. Der Begriff aspectus stammt ursprünglich aus der vormodernen Astronomie, wo der geografisch ausgerichtete Blick eine bestimmte Planetenkonstellation als einen Aspekt generiert, der eine definierte Bedeutung und Auswirkung hat. Der Vorgang der Beobachtung oder Aktivierung einer Konstellation von bestimmten Semen (in unserem Fall eines Materials) ist ein Vorgang der Aspektivierung. In den linguistischen Theorien zur Erschließung und Übersetzung von Fachtermini bedeutet Aspektivierung, „daß ein terminologischer Begriff auf der Individual-Ebene des Textes häufig nur in Teilaspekten aktualisiert bzw. nur Aspekte in der Anwendung ‚fokussiert‘ werden, während andere begriffliche Bestandteile im konkreten Anwendungsfall ausgeblendet bleiben können.“ Dies muss für eine Erfassung und auch für eine Übersetzung berücksichtigt werden: Erst eine durch den/die Übersetzer*in vorgenommene Rekonstruktion der Begriffsaspektivierung für eine spezifische Textsituation erlaubt eine Übersetzung des Begriffs, d. h. auch seine semantische Einordnung. Wählen wir als Beispiel den Begriff der affordance nach James Gibson, der für die vorliegende Studie eine Rolle spielt. Er leitete ihn als Neologismus von afford, ‚anbieten‘ ab. Abgesehen davon, dass das Verb viele Bedeutungsnuancen hat (bieten, anbieten, leisten, ermöglichen, auffordern, liefern, gewähren, bereiten), ist die (durch Gibson vorgenommene) Substantivierung einer bestimmten Nuance des Verbs per se nicht eindeutig. Wenn Gibson von der affordance eines Objektes spricht, dann meint er nicht etwa ein bestimmtes Angebot oder eine Aufforderung, sondern den Angebots- bzw. Aufforderungscharakter eines Objekts. Wissenschaftliche Begriffsbildung ist also ebenfalls das Ergebnis von Aspektivierungen.
Warum bietet sich das u. a.in den linguistischen Theorien zu Übersetzung und Übertragung entwickelte Modell der Aspektivierung für das Nachdenken über die Verarbeitung, die Semantik, die Wirkung und das Verständnis des Materials an? Wohlgemerkt: Man könnte auch sagen, dass bei jeder Darstellung beispielsweise der ‚Anbetung des Christuskindes durch die drei Könige’ eben dieser Bildtypus bzw. das biblische Narrativ für die spezifische Bildaufgabe aspektiviert wird. Manche seiner vielfältigen semantischen Potenziale werden aktiviert, andere nicht. Dies lässt sich mit bestehender Methodik jedoch bereits sehr gut beschreiben, so durch ikonografische Ansätze, die den Kontext berücksichtigen. Anders bei einer Analyse der Materialverwendung: Hier können beispielsweise die ganz pragmatischen Möglichkeiten der Bearbeitung eines bestimmten Materials entscheidende Faktoren sein, andererseits aber auch vorgängige wichtige Objekte aus diesem Material (und die mit ihnen verbundene ideelle Materialrezeption). Diese beiden Gesichtspunkte liegen aus der Perspektive der üblichen kunsthistorischen Methodik weit auseinander und scheinen auf den ersten Blick auch gar nicht gemeinsam für ein kunstwissenschaftliches Erkenntnisinteresse relevant zu sein. Sie können jedoch als Aspekte (im Sinne der Aspektivierung) auf ein und derselben methodischen Ebene betrachtet werden. Die technischen Bedingungen der Bearbeitung eines Materials und seine traditionelle Verwendung können beide zum semantischen Status des Werkes beitragen – im Folgenden werde ich zeigen, dass nicht nur die Verwendung der Bronze für das Eherne Meer konstitutiv für das Lütticher Taufbecken und seine Generierung von Bedeutung ist, sondern auch die Verarbeitung der Erze im Gussverfahren. Was heißt das jetzt genau für den bereits etablierten Ansatz der Materialikonologie, im Sinne einer Evaluation des Anteils des Materials an der Bedeutung und Wirkung eines Kunstwerks?
Das Konzept der Aspektivierung kann deutlich machen, dass es sich nicht so verhält, dass ein bestimmtes Material eine Summe von Bedeutungen und Konnotationen hat, die dann in jedem Fall seiner Verwendung in gleicher Weise zum Tragen kommen. So wie der gleiche Fachterminus in zwei Textumgebungen unter Umständen unterschiedlich übersetzt werden muss, weil er vom Autor/von der Autorin jeweils anders aspektiviert wurde, kann dasselbe verwendete Material bei zwei Werken verschiedene Bedeutungen annehmen bzw. vertreten. Aber auch jenseits der Semantik, beispielsweise bei der Bearbeitung, kommen nicht alle Bearbeitungseigenschaften oder -optionen des Materials zum Tragen, sondern immer nur ein Teil davon, und dies ist sowohl für die Werkgenese konstitutiv als auch für ein Verständnis des Werkes innerhalb der materiellen Kultur entscheidend.
Der Gegenstand
Das Lütticher Taufbecken (Abb.2) wurde von der Forschung auch in materialikonologischer Hinsicht bereits bearbeitet, da sein Material ‚Bronze‘ bzw. ‚Messing‘ offenkundig auf das den rituellen Waschungen der Priester dienende Eherne Meer des Salomonischen Tempels referiert. Dies ist umso deutlicher markiert, als auch seine ästhetische Form an der Beschreibung im Ersten Buch der Könige orientiert ist: Es wird von den im Bibeltext genannten zwölf Rindern getragen, die seit der frühchristlichen Exegese als die zwölf Apostel ausgelegt wurden. Zudem ist das Taufbecken zwar (notgedrungen) kleiner als das mit genauen Maßangaben beschriebene Eherne Meer, welches eine Höhe von 2,50 m hatte. Die Proportionen sind aber immerhin angenähert.
Der mittelalterlichen christlichen Typologie entsprechend ist eine abstrahierende Darstellung des alttestamentlichen Ehernen Meeres im Klosterneuburger Goldschmiedewerk des Nikolaus von Verdun die Präfiguration für das in der gleichen Achse abgebildete neutestamentliche Ereignis der Taufe Christi (Abb. 3). In Lüttich ist dagegen das Taufbecken als liturgisches mittelalterliches Gerät eine materiale Figura eines alttestamentliches Gefäßes im Kontext der priesterlichen Riten im Tempel, welches zunächst im Rahmen der Präfigurationslehre eben nicht auf ein liturgisches Gefäß, sondern auf die christliche Taufe als Sakrament bezogen wurde. Sowohl die Form, die Proportionen, das Material als auch die in den Himmelsrichtungen aufgestellten zwölf Rinder weisen das Taufbecken gleichsam als liturgische Postfiguration des Ehernen Meeres des Salomonischen Tempels aus und damit Lüttich als Neues Jerusalem.Das zwischen 1104 und 1118 datierte Messingbecken wurde auf Grundlage einer Chronik des 14. Jahrhunderts Reiner von Huy zugeschrieben, was heute als widerlegt gilt. Allerdings wird kontrovers diskutiert, ob es nach antiken Vorbildern in der Maasregion entstanden ist, nach einem verlorenen italienischen Werk kopiert oder als originales Werk aus Byzanz oder Italien importiert wurde.
Der ursprüngliche Standort, die Taufkapelle Notre-Dame-aux-Fonts der Kathedrale, war bis ca. 1105 mit einem Taufmonopol ausgestattet. Um diese Zeit erhielt auch die Kirche St. Adalbert das Taufprivileg, mit dem Propst der Stiftskirche S. Johannes Evangelist als taufendem Priester. Der Verlust des Monopols könnte mit diesem besonderen Taufbecken kompensiert worden sein. Es geht aber auch um einen übergeordneten städtischen Kontext: Aus den Quellen, insbesondere auch aus der Reimchronik, lassen sich gezielte Bestrebungen erkennen, durch bauliche Maßnahmen und Zuschreibungen die Stadt Lüttich als urbs sancta zu postulieren, was bereits für Gründungen und Baumaßnahmen des 11. Jahrhunderts gilt.
Zur Affordanz des Materials Bronze: das Eherne Meer im Tempel Salomos
Das Eherne Meer des Salomonischen Tempels ist nicht lediglich ein im Alten Testament erwähntes und beschriebenes Artefakt. Mit Hiram von Tyrus wird der Künstler namentlich als Akteur benannt und die Beschreibung beginnt mit dem Akt des ‚Machens‘, welches sein hier nicht konkret genanntes Material zumindest im Ansatz verrät; das Artefakt wird gegossen:
„Und [Hiram von Tyrus] machte ein Meer, gegossen von einem Rand zum andern zehn Ellen weit, rundumher, und fünf Ellen hoch, und eine Schnur dreißig Ellen lang war das Maß ringsum. Und um das Meer gingen Knoten an seinem Rande rings ums Meer her, je zehn auf eine Elle; der Knoten aber waren zwei Reihen gegossen. Und es stand auf zwölf Rindern, deren drei gegen Mitternacht gewandt waren, drei gegen Abend, drei gegen Mittag und drei gegen Morgen, und das Meer obendrauf, daß alle ihre Hinterteile inwendig waren. Seine Dicke aber ward eine Hand breit, und sein Rand war wie eines Bechers Rand, wie eine aufgegangene Lilie, und gingen darein zweitausend Bath.“ (1. Könige 7, 23–26).
Eine ähnliche Beschreibung findet sich in 2. Chronik 4, 2–5. Aus welchen Erzen sich die Legierung zusammensetzte, wird nicht erwähnt. Die Vulgata bleibt auch an anderen Stellen des AT unbestimmt, welche die metallenen Artefakte des Tempels nennen, was aber auch daran liegt, dass Erzlegierungen nach ihrer genauen Zusammensetzung kaum unterschieden wurden und unsere Begriffe von Bronze (Kupfer und Zinn) und Messing (Kupfer und Zink) die Vielzahl der Legierungen von Erzen in der Vormoderne nicht abbilden können:
„Die ehernen Säulen am Hause des HERRN und die Gestelle und das eherne [aereum – aus Erz] Meer, das am Hause des HERRN war, zerbrachen die Chaldäer und brachten die Bronze [aes – das Erz] nach Babel.“ (2. Könige 25,13)
„Auch nahm David aus den Städten Hadad-Esers, Tibhat und Kun, sehr viel Bronze [aeneum – Kupfer oder Bronze]. Davon machte Salomo das eherne Meer [aenum] und die ehernen Säulen und Gefäße [aenea].“ (1. Chronik 18,8)
„Und Salomo ließ alle Geräte ungewogen wegen der sehr großen Menge der Bronze. [aurichalco – Messing]“ (1. Könige 7,45).
Da diese unbestimmte Verwendung der Legierungsbezeichnungen auch noch im Mittelalter galt, ist für eine Referenz auf das Eherne Meer nicht entscheidend, ob ein Artefakt nun einen hohen Anteil an Zinn oder wie hier an Zink aufweist. Das Gleiche dürfte für Bleibronze gelten: Das Referenzmaterial ist ‚Metall aus einer Legierung von Kupfer und weiteren Erzen sowie Zusatzstoffen’. Welche Legierung für Bronzewerke gewählt wurde, konnte von sehr verschiedenen Faktoren abhängen: Verfügbarkeit, Kosten, Gusseigenschaften, Bearbeitungsoptionen, Verbindung mit anderen Materialien und der Farbe – Messing kommt farblich dem Gold am nächsten (aurichalco).
Das Eherne Meer war zwar schon bei Gregor dem Großen und Beda Venerabilis als Figura der Taufe ausgedeutet worden, doch für ein Verständnis des christlichen Taufbeckens als Postfiguration des Ehernen Meeres ist wichtig zu notieren, dass Letzteres für die Kunst zur Zeit der Entstehung des Lütticher Taufbeckens keine gewichtige Rolle spielte, ganz im Gegensatz zum Schrifttum. 1117, zur Entstehungszeit des Taufbeckens, vollendete Rupert von Deutz seinen Kommentar zum Ersten Buch der Könige. Dort setzt er eine Referenz zwischen dem Ehernen Meer und dem christlichen Taufbecken. Dem Autor zufolge stehen beide Gefäße in den Gebäuden des jeweiligen Kultes auf der rechten Seite, weil von der Seitenwunde Christi auf der rechten Seite seines Körpers Blut und Wasser ausgeströmt seien – somit sei der Tempel Präfiguration der christlichen Kirche und diese wiederum eine Verräumlichung des Christuskörpers. Von der Seitenwunde, dem Ehernen Meer und dem Taufbecken in der christlichen Kirche gehen Ströme von Welt und Mensch reinigendem Wasser hervor; für das Eherne Meer als Präfiguration der Seitenwunde bezieht sich Rupert auf das reinigende, Gesundheit verbreitende Wasser, das nach Hesekiel 47,1f. aus der rechten Seite des Tempels strömt. Auch Rupert deutet die zwölf Rinder als die zwölf Apostel; die nicht sichtbare Rückseite der Tiere stehe für das nicht bekannte vorapostolische Leben, die ausgerichteten Vorderseiten für das Ausströmen in die Welt.
Die Mehrzahl der Arbeiten zum Lütticher Taufbecken betonen den Einfluss des theologischen Schrifttums, sei es Rupert von Deutz, seien es ältere Schriften wie Bedas Beschreibung des Salomonischen Tempels, von der sich ein Manuskript in der Klosterbibliothek von St. Laurentius nachweisen lässt. Das Taufbecken ist jedoch ein auslegendes Medium eigenen Rechts, das nicht mehr und nicht weniger abhängig von vorgängigem Schrifttum ist als ein neu entstehender Text. Das bedeutet gleichzeitig, dass zumindest nicht auszuschließen ist, dass Rupert von Deutz für seinen Text von einer Anschauung des Taufbeckens oder von der Kenntnis seines Konzeptes inspiriert wurde – und nicht zwingend umgekehrt. Auch wenn Ersteres kaum konkret nachzuweisen wäre: Als Artefakt mit einer eigenen dichten Teilnahme an den theologischen Diskursen hat es in der Folge Auswirkungen für eben diese. Das bedeutet, dass auch das Material in der Anschauung der Kunstwerke immer wieder für eine weitere Bearbeitung der Konzepte aktiviert und aspektiviert wird.
Ein weiteres typologisches Beispiel, das Ehernes Meer und Taufe bzw. Taufbecken verbindet, ist die Bible Moralisée. Das Manuskript in Oxford
Die Affordanz des Materials gründet, wie oben gesehen, auch auf seinen Aspektivierungen in der Allegorese (beispielsweise: Bronze bietet sich für die Herstellung eines Taufbeckens an, weil die Praxis des Gießens mit dem Ergießen von Blut und Wasser aus der Seitenwunde analogisiert wird). Seine Affordanz resultiert aber auch aus physischen Materialeigenschaften, in denen es sich von Alternativmaterialien für den gleichen Zweck unterscheidet. Bronze konnte zwar unter vollständigem Verlust der alten Form eingeschmolzen werden, was so für Umarbeitungen von Werken aus Stein oder Holz nicht möglich ist, galt aber von einem solchen Eingriff abgesehen als ein sehr beständiges Material. Um das Aussehen und die Wirkung des originalen Werkes zu erhalten, muss sie allerdings regelmäßig gereinigt und poliert werden: Auch dies mag im Zusammenhang der Taufe als Reinigungssakrament als sinnreiche Materialeigenschaft gegolten haben. Zudem gilt sie als eines der traditionsreichen Materialien für Monumentalkunst aus der Antike, d. h. aus der dieser Epoche zugeordneten Lebenszeit Christi, was noch auszuführen sein wird. Und nicht zuletzt gilt es Folgendes zu bedenken: Ein Taufbecken aus Stein, selbst aus Marmor, ist in der Werkgruppe der Objekte und Architekturen aus Stein ein kleines Objekt, ein Taufbecken aus Bronze ist ein großes, monumentales Objekt innerhalb der Gattung der Bronzewerke – selbst wenn beide in ihren Maßen identisch sind. Oder anders gesagt: Ein steinernes Taufbecken ist eine Mikroarchitektur, ein ehernes Taufbecken eine Großbronze. Für die Wahrnehmung spielt dies eine erhebliche Rolle, das liturgische Gerät in Bronze ist auch durch die Monumentalität gleichsam nobilitiert, seine Wichtigkeit im Kirchengebäude markiert. Abschließend lässt sich sagen, dass Metallver- und -bearbeitung in der Hierarchie des Handwerks und Metalle in der Hierarchie der Werkstoffe weit oben stehen, was sich auch aus dem Prolog im dritten Buch der Schedula des Theophilus Presbyter ablesen lässt: Für den Salomonischen Tempel waren vor allem Gold, Silber, Erz und Eisen notwendig.
Das Bildprogramm
Die Wand des Taufbeckens weist vier Bildfelder auf, die jeweils von Bäumen voneinander getrennt werden. Tatsächlich sind diese Bäume nicht nur Trennmarker der Szenen, sondern beziehen sich auf die Bäume, die den aus dem Tempel fließenden Wasserstrom flankieren (Hesekiel 47,7–12.) Dieser Wasserstrom auf der rechten Tempelseite ist Typus sowohl des Wassers aus der Seitenwunde Christi als auch des Taufwassers. Die aufgrund des Stromes fruchttragenden Bäume, deren Blätter als ‚Arznei‘ Heilung bringen, werden in der Johannesoffenbarung im Kontext des Lebensbaumes wieder aufgenommen.
Die Betonung der Blätter in den Texten könnte der Grund für die (nicht naturalistische bzw. botanisch identifizierbare) Differenzierung, d. h. Betonung der Blätter am Taufbecken sein (Abb. 5).Auf das Bild der Predigt Johannes’ des Täufers folgen die Taufe der Zöllner durch Johannes, die Taufe Christi und die Taufen des Crato und Cornelius durch Petrus und Johannes Evangelista. Es handelt sich um einen Taufzyklus, der von den biblischen Urszenen und der Einsetzung der Taufe als Sakrament zu seinen frühen apostolischen Umsetzungen führt. An diese Reihung schließt sich auch die jeweils aktuell performierte Taufe am Becken an. Weiterhin kann von einem regulierten und systematisierten mehrfachen und konmedialen Bild-Schriftsystem gesprochen werden.
Die Szene mit der Johannespredigt (Abb. 6) ist als Beginn des Zyklus auch durch den Anfang der unteren umlaufenden Inschrift des Beckens ausgewiesen. Johannes der Täufer, dargestellt im Profil, und die Gruppe der Zöllner sind einander zugewandt. Die Inschrift am oberen Rand bezeichnet das Bildmotiv, hier: Corda parat plebis Domini doctrina Johannis (‚Die Lehre des Johannes bereitet dem Herrn die Herzen des Volkes‘). Über den Köpfen finden sich die identifizierenden Inschriften zu den Bildfiguren (Johannes Baptista, publicani – Zöllner). Zwischen den Figuren eröffnet sich eine Art Aktionsraum, in den die ausgestreckte Hand des Johannes ragt und so zusätzlich seinen Sprechakt markiert (Abb. 7); die ‚aufnehmende‘ Hand des vorderen Zöllners visualisiert das Zuhören. Der Inhalt der Rede ist im Sinne eines weiteren Schriftsystems über der ‚Sprechhand‘ in die Wand eingraviert: Facite ergo fructus dignos penitentiae (‚Bringt Früchte hervor, die der Buße würdig sind‘; Lukas 3,8). Die Zöllner sind nicht nur in Haltung, Bewegungsmotivik und Gestik differenziert, sondern auch in der Kleidung. Die Figur, die am weitesten aus dem Bildfeld herausragt, trägt ein Kettenhemd, ein in dieses gestecktes Schwert, einen Schild auf dem Rücken und einen Helm: Objekte, die sich in ihrer metallenen Machart dezidiert vom weichen Stoff der sonstigen Bekleidungen abheben (s. o., Abb. 3 und 4). Die Figur ist im Vordergrund als einzige der Gruppe nicht überschnitten und führt einen Zeigegestus aus. In narrativer Hinsicht steht die Figur für die Gruppe der publicani, die Darstellung selbst ist ein Marker für das Material ‚Metall’ und seine verschiedenen Funktions- und Verarbeitungsarten. Während das Taufbecken gegossen ist, ist das Metall der Waffen geschmiedet. Glieder von Kettenhemden wiederum wurden in der mittelalterlichen Praxis geschmiedet, genietet und feuerverschweißt.
Johannes ist im Gegensatz zur folgenden Taufdarstellung in leichter Schrittstellung gegeben, er ist noch auf dem Weg zu den eigentlichen (Tauf-)Handlungen. In der Taufe der Zöllner (Abb. 8) ist der Aktionsraum in der Mitte jetzt vom Jordan und zwei in ihm stehenden und sich zu Johannes hinüberbeugenden Figuren besetzt. Zwei weitere Figuren begleiten das Geschehen als Zeugen auf der rechten Seite. Die obere Inschrift kommentiert das Motiv: Hos lavat: hinc monstrat quis mundi crimina tollat (‚Diese tauft er und zeigt, wer die Sünden der Welt hinwegnimmt.‘). Das quis deutet auf den in der nächsten Szene erscheinenden Christus voraus.
Die Taufe Christi (Abb. 9) weist eine ähnliche Dreiteilung auf. In der Mitte ist die hieratisch frontal ausgerichtete Christusfigur positioniert; das Wasser des Jordans reicht knapp über die Scham. Johannes hält auch hier seine Kleidung zusammen und legt ihm die Rechte auf das Haupt. Rechts stehen hier statt der Zeugen zwei Engel, die Christi Kleidung in den Händen halten. Diese Szene hat insofern ein Alleinstellungsmerkmal, als dass die Darstellung des über Christus positionierten Gottvater bis über das Gesims reicht (Abb. 10): Der Nimbus besetzt nahezu in Gänze die Gesimszone, das Wolkenband wird immerhin über die unteren beiden Profile hinweg geführt. Damit ist die Figur Gottvaters nicht lediglich eine Darstellung auf der Kesselwand, sondern quasi mit dem modellierten Körper des Taufbeckens verbunden. Von der unter das Wolkenband gesetzten Taube des Heiligen Geistes gehen Strahlen aus. Die oben verlaufende Inschrift lautet: Vox PatrIs hic ai(t) est lavat hunc homo Spiritus implet (‚Die Stimme des Vaters: Hier ist er. Ein Mensch tauft ihn und der Geist erfüllt ihn‘).
Wieder sind alle Figuren inschriftlich benannt, hinzuweisen ist auf die Bezeichnung der Engel als ministrantes, wodurch die biblische Szene (am realen Taufbecken) liturgisiert wird. Die Rede Johanni und Gottvaters ist in den Zwischenräumen der Figurengruppen eingraviert: Ego a te debeo baptizari et tu venis ad me. (‚Ich habe es nötig von dir getauft zu werden, und du kommst zu mir‘; Matth. 3,13) und Hic est filius meus dilectus in quo michi complacui (‚Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe‘; Markus 1,11).
Die Taufen des Cornelius und Crato durch Petrus und Johannes Evangelista (Abb. 11 und 12) sind achsensymmetrisch dargestellt, mit den Aposteln außen und jeweils einer Zeugenfigur zu der anderen Seite der Täuflinge in den Taufbecken.
Über jedem Taufbecken erscheint die Hand Gottes mit ausgesendeten Strahlen (dextera Dei). Die Strahlen auf der linken Seite teilen einen zugehörigen Text: Cecidit Spiritus Sanctus super omnes qui adviebant verbum (‚Der Heilige Geist fiel auf alle herab, die das Wort hörten‘; Apostelgeschichte 10,44). Zwischen Petrus und Cornelius ist Ego quis eram qui possem prohibere deum eingraviert (‚Wer wäre ich, dass ich imstande wäre, Gott zu hindern?‘, das Diktum des Petrus aus Apostelgeschichte 11,17). In der Apostelgeschichte wird nicht berichtet, dass es Petrus selbst ist, der Cornelius und weitere Anhänger tauft; er gibt lediglich den Auftrag hierzu (Apostelgeschichte 10,48). Für den Bildzusammenhang ist allerdings wichtig, dass Petrus selbst als Täufer auftritt. Die Taufe Cratons durch Johannes Evangelista wiederum stammt aus den Historiae Apostolicae des Pseudo-Abdias und erfuhr erst durch die Legenda Aurea, etwa 100 Jahre nach Entstehen des Taufbeckens, größere Verbreitung. Der Befund ist entsprechend, dass beide Taufszenen keine bildliche Tradition haben und hier innovativ für eine Kette der prophetischen, christlichen und apostolischen Taufen eingesetzt werden. Im Buch des Johannes auf dem Taufbecken lesen wir die liturgische Taufformel, die aus dem Taufauftrag an die Apostel in Matth. 28,19 abgeleitet ist: Ego te baptizo in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Johannes spricht hier nicht die Worte aus der Erzählung bei Pseudo-Abdias, sondern diejenigen Worte, die der Priester in Notre-Dame-aux-Fonts am realen Taufbecken rezitiert. Dass es die verstetigte Formel ist, wird quasi durch das Medium Buch als liturgische Handschrift angezeigt – vielleicht gerade auch im Gegensatz zur Schriftrolle links. Damit werden den apostolischen Ketten der dargestellten Taufen in der liturgischen Performanz alle Taufen angeschlossen, die am Lütticher Taufbecken zelebriert werden: Der taufende Bischof oder Priester erscheint realiter als Glied der apostolischen Kette.
Auch in materialikonologischer Hinsicht ist relevant, dass das Hic fidei fons est der umlaufenden Inschrift einerseits auf die Taufbecken in den Bildszenen, vor allem aber auf das reale Taufbecken selbst bezogen ist, auf dessen Gesims es geschrieben steht. Das (bronzene) Taufbecken spricht hier über sich selbst als Objekt und über die Darstellungen der Taufbecken auf seiner Wand. Die dargestellten Taufbecken sind der Form und den Proportionen nach ihrem Bildträger angeglichen, auch verfügen sie unten und oben über ähnliche Profilbildungen. Sie werden zwar innerbildlich nicht von Rindern getragen, in der Zusammenschau mit dem realen Taufbecken und als Darstellungen auf dem materiellen Objekt jedoch zumindest indirekt. Dass auch sie – innerhalb der Fiktion – aus Metall sind, zeigt die Punzierung am oberen Rand des Taufbeckens in der Crato-Taufe an: Die tatsächliche Punzierung im Metall des Lütticher Taufbeckens stellt das (fiktive) Schmuckelement des dargestellten Taufbeckens dar. Tatsächliche Materialität und innerbildliche Fiktion fallen hier in eins, was den Fokus stark auf das Material selbst richtet. Auch ist eine Art der Beliebigkeit des Materials aufgehoben: Dieses Taufbecken würde in Stein weniger Sinn ergeben. Die Verbindung der beiden Szenen zur Einsetzung des Taufsakramentes sowohl mit Szenen der ersten Umsetzungen des Taufrituals als auch mit dem am realen Becken vollzogenen Ritus sind als legitimierende Abfolgen bis hin zum Taufprivileg in Lüttich selbst zu verstehen. Die Einsetzung der Taufe; die Frage, wer tauft, sowie der Bund Gottes mit den Menschen im sakramentalen Vollzug können als juridische Entitäten gesehen werden, wie eben auch die Gewährung des Taufprivilegs an eine bestimmte Kirche und sein Ausüben rechtlichen Charakter haben. Die beiden innerbildlichen Täufer Johannes Evangelista und Petrus lassen sich auf die Taufprivilegien zweier Kirchen beziehen: In Notre-Dame-aux-Fonts als Kapelle der Kathedrale taufte der Lütticher Bischof (Petrus = der erste Bischof von Rom); in St. Adalbert taufte der Probst der Stiftskirche St. Johannes Evangelist. Das Taufbecken positioniert sich so mit beiden Szenen auch in der sakralen Topographie der Stadt. Somit dürfte auch im Bildprogramm erwiesen sein, dass das Taufbecken im Auftrag für einen Lütticher Kontext geschaffen wurde.
Ich komme noch einmal auf die Bußmetapher Facite ergo fructus dignos penitentiae zurück, die in der Szene der Johannespredigt am Anfang der narrativen Sequenz steht. Close-Dehin hat einen Zusammenhang zwischen der Bußmetapher und den Bäumen gesehen, die allerdings keine Früchte tragen. Johannes richtet diese Worte in Lukas 3,8 (und ähnlich in Matthäus 3,8-10) an die zur Taufe erscheinenden Pharisäer, die er für selbige als unwürdig erachtet und daher zur geistlichen Umkehr auffordert. Dies macht allerdings im Kontext der mittelalterlichen Praxis der Kindstaufe keinen Sinn. Der unwürdige Empfang eines Sakraments ohne vorherige Buße ist nur für die anderen sechs Sakramente möglich, insbesondere für das Abendmahl. Insofern kann man die Johannespredigt nicht nur als Anfang, sondern als Fortsetzung des Taufzyklus lesen: Buße ist immer wieder notwendig, um der Sakramente würdig zu sein. Dass die Zeit der Liturgie zyklisch bestimmt ist und nicht linear, teilt sich hier in besonderer Weise mit, weil das zyklische Bildprogramm damit kein Ende hat: Nach der Taufe ist es die penitentia, die den Sünder reinigt.
Auch das narrative Bildprogramm wird wie das Becken selbst von den Rindern getragen. Wenn man der Beschreibung in der Reimchronik Glauben schenkt und der Deckel mit Darstellungen von Aposteln und Propheten versehen war, ist die Beckenwand mit dem Taufzyklus zudem in ein typologisches System eingespannt, da die zwölf Apostel nicht nur die Antitypen der am Ehernen Meer dargestellten Rinder sind, sondern auch der alttestamentlichen Propheten.
Aspektivierung des Materials: Räumlichkeit, Plastizität, Materialität, Farbe
Die Provenienz ist mit der Taufkapelle zwar bekannt, aber ein exakter Aufstellungsort lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Es lässt sich nur so viel sagen, dass das Objekt den Raum insoweit mitbestimmte, als es von allen Seiten umschritten und wahrgenommen werden konnte und seine Darstellungen weit in den Raum ausgreifen (s. o., Abb. 5), was für Bronzen nicht selbstverständlich ist.
Aktiviert wird die Bedeutung und Wahrnehmung des Objektes vor allem bei Taufhandlungen. Nicht nur die Inschriften und die dargestellten Taufbecken bewirken eine Aktualisierung des Dargestellten; es findet eine Überblendung der aktuellen Taufhandlung mit den in Bronze gegossenen Taufdarstellungen statt. Verschiedene Strategien bewirken, dass die Figuren sich zu bewegen scheinen, wenn man das Taufbecken umrundet. Es sei ein Beispiel genannt: Wenn man frontal vor der Taufgruppe mit Johannes und den Zöllnern steht, legt Johannes nicht nur seine rechte Hand mit ausgestrecktem Arm auf das Haupt eines Täuflings, sondern wendet sich mit dem Körper und dem eigenen Haupt Letzterem zu. Für uns erscheint er im Profil (s. o., Abb. 7). Geht man aber weiter in Richtung der Taufe Christi, ändert sich das nicht nur vom Eindruck her, sondern auch in der konkreten Perspektive: Mit jedem Schritt wendet der Täufer sich mehr dem Betrachter zu, mit der Vorderseite seines Körpers, seinem Blick und damit quasi in der Agency der Figur mit seiner Aufmerksamkeit (Abb. 13).
Die Szene wandelt sich vom Narrativ zum Dogma: Johannes weist den Betrachter in der direkten Ansprache auf dessen eigene Erlösungsbedürftigkeit hin. Der Effekt entsteht durch die größtmögliche Plastizität der Figuren, die vor allem im oberen Bereich der Körper nahezu vollplastisch sind. Ein solches Relief an einer Trägerwand, noch dazu in der feinen Detailliertheit, Bewegung, Hinterschneidung und Präsenzwirkung, ist in Stein kaum möglich. Die Figurengruppen selbst simulieren Bewegung, wie die Engel in der Taufe Christi, die in ihrer Zusammenstellung eine Bewegung von oben nach unten evozieren (s. o., Abb. 9). Zudem wird der Effekt der Animation insofern verstärkt durch das Material Bronze, weil ein zusätzlicher Verlebendigungseffekt durch oszillierende Spiegeleffekte gegeben ist: Die Figuren scheinen sich zu bewegen, was vor allem unter Bedingungen flackernden Kerzenlichts gegeben sein dürfte. Die Animation in Bewegung und Spiegelungseffekt wird maßgeblich verstärkt durch die Darstellung der Rinder: Sie sind in ihrer Bewegung differenziert und variiert, was zu einem Eindruck einer Momenterfassung und einer Bewegung im Eben-Jetzt führt (Abb. 14). Auch das plastische Herauskragen des sich um das Becken herumziehenden, auf- und abführenden Standmotivs trägt zu diesem Eindruck bei. Es kann bei einer solchen Wahrnehmung auch eine Rolle gespielt haben, dass der Bronze bzw. dem technischen Vorgang des Gießens animistische Eigenschaften bezüglich des fertigen Gegenstandes zugesprochen wurden. Die historischen frühneuzeitlichen Begriffe für den Werkprozess erschließen dessen Interpretation als einen Akt der Schöpfung im Sinne des Einhauchens von Leben oder gar des Gebärens.
Ich habe bereits angedeutet, dass die heutige Unterscheidung zwischen Bronze als einer Kupfer-Zinn-Legierung und Messing als einer Kupfer-Zink-Legierung im Mittelalter begrifflich nicht deutlich wurde. Zudem weisen viele Legierungen sowohl Zinn als auch Zink auf, ihre Anteile an der gesamten Legierung variieren ebenfalls. Weinryb meint dazu, es wäre damit auch nicht ersichtlich, inwieweit den Gießern der Unterschied klar gewesen sei. Doch auch wenn die verschiedenen Begriffe einfach nur eine Legierung von verschiedenen Erzen meinen, so dürfte andererseits auf der Hand liegen, dass den Gießern die Relevanz der Zusammensetzung bewusst waren, da sich die verschiedenen Legierungen samt ihren Zusätzen von Eisen, Nickel, Blei, Arsen etc. beim Gießen unterschiedlich verhielten. Auch die jeweiligen erstarrten und ausgekühlten Materialien hatten unterschiedliche Eigenschaften, was u. a. Härte, Feinheit, Farbe und Resonanz betraf. Messing ist goldfarbiger als Zinn-Bronze oder Bleibronze, und das mag für das Taufbecken eine Rolle gespielt haben. Farbe und Oberflächeneigenschaften sorgen für besondere Reflektionen des Lichtes.
Bronze gehört wie Keramik und Glas zu den frühen künstlichen Werkstoffen. Das heißt, dass bereits die Herstellung des Materials der Expertise bedarf. Sie betrifft den Bau der Öfen, Kenntnisse über relative Schmelzpunkte und das Fließverhalten der Legierung in der Form, Legierungsvarianten etc. ‚Bronze’ ist innerhalb ihrer möglichen Zuschreibungen eine ideale, in materialer Hinsicht nicht genau bestimmbare, variable Entität; doch bereits in ihrer Herstellung aspektiviert der Künstler/ Gießer‚Bronze’, indem er/sie innerhalb der Möglichkeiten der Legierungen eine Variante für einen bestimmten Bedarf konstituiert. Ein weiterer Faktor kommt hinzu: Wir können nie ausschließen, dass ein mittelalterliches Objekt aus Bronze aus dem Material eines älteren Objektes gegossen wurde. Die Entscheidung liegt dann weniger in einer Wahl für eine konzipierte Legierung/Mischung für genau dieses eine Objekt begründet, sondern eventuell in einer Vorstellung, dass in dem neuen Objekt das alte in irgendeiner Form eingeschrieben oder inkorporiert ist. Einem in der römischen Antike verhütteten und gegossenem Material wäre nach hochmittelalterlichem Verständnis die Lebenszeit Christi, in der er auf Erden gewandelt war, inhärent, und würde sich im Fall des Taufbeckens konkret mit der Form des Artefakts aus dem Salomonischen Tempel verbinden. Und es ist durchaus plausibel, dass für das Taufbecken ein anderes Objekt oder auch mehrere Werke eingeschmolzen wurden. Dies passt sowohl zum Befund der unklaren Herkunft der Erze als auch zu dem Umstand, dass eines der Rinder eine völlig andere Legierung aufweist. Eindeutig belegen lässt sich dies allerdings nicht: Wenn wir davon ausgehen, dass die Legierung am Anfang des 12. Jahrhunderts entstand und es sich nicht um einen Neuguss von eingeschmolzenen Material handelt, dann ist zu berücksichtigen, dass Zinkerz im Mittelalter nicht so einfach zur Verfügung stand, sondern aus dem Galmei, einem zinkhaltigen Mineral gewonnen werden musste (lapis calaminaris). Ergo: Entweder bediente man sich des Materials eines älteren Objektes, dessen Materialwirkung bereits evident geworden war, oder man wählte bewusst das aus dem lapis calaminaris gewonnene Zink, um u. a. die entsprechende Farbigkeit zu erzielen.
Aspektivierung in der Rezeption: Die Reimchronik und der Fluss der Bronze
Bei der Passage zum Taufbecken in der bereits genannten Reimchronik handelt es sich um ein frühes Rezeptionsdokument. Auch wenn der Text heute nicht mehr Reinholdus Leodiensis zugeschrieben wird,
dürfte gelten, dass sie innerhalb des theologischen Netzwerkes der Diözese entstanden ist. Ich möchte zeigen, dass die Bronzetechnik, Material- und Bearbeitungeigenschaften für die zeitgenössische Rezeption eine große Rolle gespielt haben und sich in der Poetik des Textes niederschlagen.Obit abbas Hillinus nobilis.
Mors illius , sors lacrimabilis.
Dies illa fuit Ecclesiae
Calamitatis et miseriae.
[…]
Fontes fecit opere fusili
Fusos arte vix comparabili.
Duodecim qui fontes sustinent
Boves, typum gratie continent.
Materia est de misterio
Quae tractatur in baptisterio.
Hic baptizat Johannes Dominum,
Hic gentilem Petrus Cornelium;
Baptizatur Craton philosophus;
Ad Johannem confluit populus
Hoc quod fontes desuper operit,
Apostolos, prophetas exerit.
Der edle Abt Hillinus starb,
sein Tod war ein beweinenswertes Schicksal.
Jener Tag war für die Kirche
einer des Unglücks und des Elends.
Das Taufbecken ließ er in als gegossenes Werk herstellen,
gegossen mit kaum vergleichbarer Kunst.
Die zwölf Rinder, die das Becken tragen,
umfassen einen Typus der Gnade.
Das Material ist nach dem Mysterium gewählt,
das in der Taufe vollzogen wird:
Hier tauft Johannes den Herrn,
hier Petrus den Heiden Cornelius;
getauft wird Craton der Philosoph,
zu Johannes strömt das Volk zusammen,
das, was oben das Taufbecken bedeckt,
bringt Apostel und Propheten (im Relief) hervor.
Zunächst gibt der Text eine Eulogie auf den verstorbenen Auftraggeber in vier Versen. Es folgt die Nennung der Beauftragung und Fertigung des Taufbeckens, das bezüglich der Kunst seiner Fertigung als unvergleichlich hervorgehoben wird. Die Gusstechnik wird doppelt benannt (fusilis, fusos).
Diese Betonung ist nicht zu unterschätzen, die Begriffe folgen im Verssprung direkt aufeinander, wobei fusilis auch das Reimwort dieses Hexameters ist. In der hierauf folgenden Beschreibung des Werkes werden zunächst die Rinder genannt und als Typus für die Gnade des Neuen Bundes ausgewiesen (typum). Materia est de Mysterio wird bei Widmaier übersetzt: „Das Werk ist nach dem Mysterium (der Taufe) gestaltet“. Allerdings würde das opere des fünften Verses eher den Begriff opus für ‚Werk‘ vermuten lassen, daher liegt näher, dass materia konkret das Material meint, zumal im Vers zuvor bereits die Typologie thematisiert ist (typum gratiae) und das ‚Gießen‘ der Bronze gleich zweimal hervorgehoben ist (fusili/fusos). Mindestens aber evoziert materia das Material, selbst wenn primär das Artefakt gemeint sein sollte. Damit aber nicht genug: In der Beschreibung der ersten Bildszene mit der Johannespredigt ist die Rede davon, dass Volk bei Johannes zusammenströmt (confluit). Es ist kaum möglich, dass hier nicht auch die flüssige Bronze bzw. konkret das Zusammenfließen der verschiedenen Erze assoziiert wurde, zumal der Schmelztiegel der Gießer das conflatorium ist. Bemerkenswerterweise gibt es ein solches Motiv des ‚Zusammenfließens‘ in der Bildszene mit der Taufe der Zöllner: Im Gegensatz zu den horizontal in Stufungen übereinander verlaufenden Wellen des Jordan in der Taufe Christi (Abb. 15) sind die Formen des Wassers in der Predigt eigentümlich gegeneinanderstellt und bilden eine figura für das Aufeinandertreffen Johanni und der Gemeinde (Abb. 16). Aus der Richtung der Johannesfigur kommt eine Art mehrfache ‚Wasserschlaufe‘, die auf ein ‚Strömen‘ von der rechten Seite trifft. In einer produktionsästhetischen Perspektive ist hier die Bronze beim Gießen entsprechend in die Form geflossen, was dem zeitgenössischen Betrachter präsenter gewesen sein mag als dem modernen Betrachter. Die Beschreibung des Werkes in der Lütticher Reimchronik ist demnach tief geprägt von Aspektivierungen des Materials ‚Bronze‘, die eine große Übereinstimmung mit den Aspektivierungen des Kunstwerkes aufweisen. Die Aspektivierungen der Bronze in der Lütticher Reimchronik sind der Guss, das Fließen, und das typus gratiae der Taufe. Insofern ist das Material dem Mysterium der Taufe entsprechend gewählt: Materia est de misterio.Die Taufe ist das Sakrament der Wandlung und der Reinigung von der Erbsünde. Bronze konnte in mehrfachem Sinne als Gestaltwandler erscheinen: Nach dem Einschmelzen und neuem Gießen wandelt sich das Material in eine andere Gestalt; beim Wachsausschmelzverfahren wandelte sich dieselbe Form in ein anderes Material. Letztere Wandlung oder auch die lebhafte Vorstellung, was im Inneren der Form geschieht, lässt sich in der vielzitierten Inschrift eines Türziehers des Trierer Doms nachvollziehen: QUOD FORE CERA DEDIT TULIT IGNIS ES TIBI REGDIT (‚Was entstehen sollte, gab das Wachs, nahm das Feuer fort, gab dir das Erz zurück‘).
Das Zitat wird bei Bushart/Haug als Beleg für den speziellen Akteurstatus der Bronze gehandelt, aber tatsächlich wird in dieser poetischen Formulierung ja nicht nur der Bronze, sondern auch dem Wachs und dem Feuer Akteurstatus zugesprochen, obwohl das Wachs im Gegensatz zur Bronze direkt unter den Werkzeugen des Künstlers Form annimmt und nicht aufgrund einer eigenen Agency und Bewegung. Auch wenn ich an dem besonderen Akteurstatus der Bronze grundsätzlich keinen Zweifel habe, sehe ich in diesem Vers eher die Poetisierung einer Inversion in einem besonderen Ausschnitt des Werkprozesses: Das Fest-Formhafte wird flüssig, das an diesem Ort erscheinende Flüssig-Formlose wird fest. Im Gegensatz zum Kupfererz ist Bronze als künstlich generiertes Material immer für eine Form bestimmt – Haug spricht von einem „teleologischen Material“. Es kommt hier noch ein weiterer Aspekt zum Tragen, der das Material ‚Bronze‘ und die Taufe zusammenschließt. Für die frühe mittelalterliche Alchemie galt das Zusammenschmelzen der Erze zu einer Legierung mit neuen Eigenschaften als eine Art nachvollziehbares Exemplum für die alchemistische Transmutation. Letztere wiederum wurde immer wieder auch mit den reinigenden und transmutierenden Wirkungen der christlichen Taufe analogisiert. Das bedeutet, dass auch über die Aspektivierungsklammer der Alchemie die im sakramentalen Vorgang des Taufens vollzogene ‚Transmutation‘ in ihrer Bedeutsamkeit durch die vorangegangene Materialtransmutation des Taufbeckens unterstrichen wurde. Befördert worden war diese Sicht auch durch das schon genannte Johannes-Diktum in Luk. 3,16 und Matth. 3,11 mit der Ankündigung, dass Christus mit Geist und Feuer taufen werde. Der zitierte Textabschnitt der Reimchronik ist eine Laudatio auf die Stadt Lüttich. Nur vergleichbar sei diese mit Rom; und mit Rom stehe sie über allen anderen Städten, mit Ausnahme von Jerusalem und Konstantinopel, in der mehr Kirchen seien. In genau diesem Kontext wird das Material Bronze und die anspruchsvolle Technik des Gießens hervorgehoben. Und tatsächlich gilt Konstantinopel als Zentrum der Herstellung von monumentalen Bronzen: Obwohl man in Italien selbst auch zahlreiche Bronzetüren herstellt, werden im 11. und 12. Jahrhundert zahlreiche byzantinische Bronzetüren in Tauschierungstechnik importiert. Diese Türen sind aber gerade nicht reliefiert, im Gegensatz zu den im Bereich der Westkirche im heutigen Italien und Deutschland entstehenden Türen. In Rom wiederum gibt es die meisten erhaltenen antiken Bronzetüren wie die der Curia Julia. Das Material Bronze, zumal für eine massiv gegossene Großbronze, referiert so auf die sakralen Zentren des Christentums und erhebt quasi eine ‚Urbs-Sacra-Formitas’ der Stadt Lüttich. Oder anders formuliert: Durch das Material Bronze, zumal als Postfiguration eines Tempelgegenstandes (ein Surplus gegenüber byzantinischen und römischen Bronzen), speist sich Lüttich in ein materialikonologisches Netzwerk heiliger Städte ein. Es gibt Materialien, die sich gerade im Kontext von Legimitationen durch weit zurückreichende Traditionsstränge anbieten. Porphyr beispielsweise ist ein Material, das auch deshalb für die Altarsteine hochmittelalterlicher Tragaltäre verwendet wurde, weil das Gestein in Byzanz dem Kaiser vorbehalten war. Unter anderem sind dies Rotulae in Tempeln, auf denen nur er stehen durfte, andererseits waren die Geburtszimmer der Thronfolger mit Porphyr ausgestattet. Beide Aspekte spielen für die Verwendung als Altarstein eine Rolle: Christi Leib befindet sich in Form der Hostie auf dem Stein und die ‚Geburt‘ ist diejenige Leibwerdung, die immer wieder mit der Leibwerdung in der Eucharistie analogisiert wurde. Bronze ist wiederum ein Material mit hohem Referenzwert nicht nur zum Alten Testament, sondern zu einer Ikonologie von Herrschaft in der Antike, was vor allem für Großbronzen gilt. Wie Porphyr transportiert das Material der Bronze die Konnotation ‚bis in die Antike zurückgehend‘, gleichbedeutend mit einer Materialität zu Christi Lebenszeit. Denkt man an die oben bereits genannte Möglichkeit, dass das Taufbecken aus dem Material einer antiken Bronze gegossen wurde, wäre auch folgendes Gedankenspiel nicht abwegig, wenn auch nicht als Vorstellung belegbar: Das wiederverwendete Material vom eingeschmolzenen römisch-antiken Objekt, welches in der mittelalterlichen Gussform in den Bildbereich der Jordanwellen floss und dort beim Auskühlen in der Gestalt der Wellen erstarrte, hätte bei der Herstellung des antiken Objektes theoretisch zeitgleich mit der Christi Taufe (im realen, fließenden Jordan), zumindest aber zur Lebenszeit Christi, in die antike Gussform geflossen sein können.Technikikonologie: der Fluss der Bronze im konmedialen Bild-Schrift-System des Taufbeckens
Die Reimchronik ist ein glücklicher Fall der Dokumentation des Taufbeckens und einer weiterführenden Poetisierung seines Materials in einer zeitnahen Rezeption. Und eventuell war diese Rezeption auch durch die untere umlaufende Inschrift gelenkt.
+ Bissenis bobus pastorum forma notatur* quos et apostolicae commendat gratia vitae** Officique gradus quo fluminis impetus hujus* letificat Sanctam purgatis civibus urbem
In den zwei mal sechs Rindern erkennt man die Gestalt (forma) der Hirten, welche durch die Gnade des apostolischen Lebens und durch die Würde ihres Amtes empfohlen sind, eines Amtes, durch das der Strom dieses Flusses die heilige Stadt erfreut, da ihre Bürger gereinigt sind (Übers. H. S.).
Während die Abschnitte der am oberen Rand des Taufbeckens umlaufenden Inschrift sich konkret auf jedes einzelne Bildfeld unter ihnen beziehen und den Inhalt erklären, ist die untere Inschrift ein durchlaufendes argumentum. Es referiert zunächst auf die (ebenfalls direkt unter ihr situierten) Rinder, die in diesem Fall mit dem Begriff der forma als Präfigurationen der Apostel ausgewiesen werden. Tatsächlich ist hier ein Schlüsselmoment der gesamten inventio des Taufbeckens zu sehen. Am Ehernen Meer waren die Rinder Präfigurationen der Apostel. Aber das Taufbecken ist ja kein Abbild des Ehernen Meeres, sondern verweist mit den Rindern auf die Präfiguration der Taufe durch das gesamte Artefakt des Salomonischen Tempels. Die Überführung der christlichen Ausdeutung eines Artefakts des Alten Testaments auf ein Artefakt der liturgischen Gegenwart führt dazu, dass das Taufbecken als Objekt die Heilsgeschichte vom Alten Testament über das Neue Testament bis zur liturgischen Gegenwart verklammert, quasi als Postfiguration des Ehernen Meeres.
Der Abschnitt quo fluminis impetus hujus letificat Sanctam purgatis civibus urbem referiert auf Psalm 46,5 (fluminis divisiones laetificant civitatem Dei sanctum tabernaculum Altissimi). Der Psalmentext mit dem sich dort auf das Heilige Jerusalem beziehenden Fluss spielt eine Rolle für das Weihritual des Taufwassers. Hier wird der Text allerdings noch anders aktiviert. Es spricht viel dafür, dass dieser zweite Teil der Inschrift das Material und das Gemacht-Sein des Werkes gleichsam in den Heilsplan der Taufe einbeschließt. Mit dem ‚Amt’ (officium) dürfte hier zunächst sowohl der Taufauftrag an die Apostel gemeint sein, dessen Erfüllung durch Petrus und Johannes ja auch im Bild angezeigt ist, als auch das Taufprivileg in Lüttich, als auch die Initiation des Taufamtes durch Johannes den Täufer: Das quo fluminis steht unter dem Jordan der Darstellung der Taufe Christi: Das Wasser des Flusses Jordan ist das Wasser der ersten Taufen und das Wasser der Taufe Christi. Das dargestellte, sichtbar fließende Wasser des Jordan auf der Beckenwand und die Nennung des reinigenden Flusses in der Inschrift verbinden sich mit dem Taufwasser im Becken selbst und seiner liturgischen Bedeutung. Der impetus fluminis im Zusammenhang der Taufe kann aber noch eine andere Assoziation hervorgerufen haben: Wenn der ‚Fluss der Bronze‘ zu dieser Zeit als Ausgießung des Heiligen Geistes aus der Seitenwunde allegorisiert wurde und gleichzeitig das Blut und das Wasser, die der Seitenwunde entströmten, als Marker für die wichtigsten Sakramente (das Blut der Eucharistie und das Wasser der Taufe) galten, dann sind Bronze und Wasser bezüglich dieser Allegorisierungen homonym. Und schließlich verbinden sich der Fluss der Bronze und der Strom des Jordans im Entstehensduktus des Werkes selbst, weil wir an den ‚Wellen‘ nachvollziehen können, wie sich die Bronze nach dem Ausschmelzen des Wachses verteilt hat. „Eines Amtes, durch das der Strom dieses Flusses die Heilige Stadt erfreut, da ihre Bürger gereinigt sind“: Die „Heilige Stadt“ meint im konkreten Narrativ Jerusalem, kann sich hier aber auch auf die urbs sancta Lüttich beziehen, deren Bürger in dem Taufbecken ‚gereinigt‘ wurden. Ganz ohne Zweifel ist die Inschrift erklärungsbedürftig; ihre etwas rätselhafte Formulierung könnte durch eine beabsichtigte Mehrdeutigkeit erklärt werden. Und kann mit der etwas umständliche Formulierung des Amtes (officium) auch die Tätigkeit des Bronzegießers angedeutet sein, „durch die der Strom des Bronzeflusses die Heilige Stadt erfreut“, ein Reinigungsvorgang deswegen, weil der Bronzefluss in der Verbindung mit Jordan und dem Taufwasser in dem erstarrten Gefäß zu einer Figura der Taufe selbst wird? Die officina aeraria war seit der Antike die Bezeichnung für die Werkstatt der Erzgießer. Der ‚Fluss der Bronze‘ im Herstellungsverfahren, in den Zulaufkanälen zu den Öffnungen der Form, ist für uns kaum noch beobachtbar: Im Mittelalter mag dies an Orten, wo Bronze hergestellt wurde, eine nahe liegende Assoziation gewesen sein. Theophilus Presbyter nannte den Fluss des liquiden Metalls in der Schedula de diversis artibus „rivo“. In den (typologischen) Auslegungen des Ehernen Meeres im templum spielt die Bronzeherstellung als ‚fließender’ Guss keine geringe Rolle, auch ohne direkte präfigurative Referenz auf die Taufe. So schreibt Beda Venerabilis in seiner Schrift De templo: „Das Meer ist gegossen, wie man sagte, und ist deshalb gegossen, sage ich, weil Christus wahrlich, eingeschmolzen (conflatus) und verflüssigt (liquefactus) durch das große Feuer der Liebe, uns diese Gnade ausgegossen hat.“ Eine tatsächliche Abhängigkeit der Entstehung des Taufbeckens von dieser Schriftquelle wird in der heutigen Forschung eher abgelehnt, mir geht es hier jedoch eher um eine auffällige Nachhaltigkeit in der Aspektivierung der ‚Liquefaktion’ und des ‚Flusses’ im Bronzeguss. Ein weiterer Hinweis für diese Nachhaltigkeit eines Bewusstseins des Flusses der Bronze und seiner Allegorisierungen ist die um 1160 datierende Schrift De claustro animae des Hugo de Folieto. Die Schrift entstand etwa 50 Jahre nach dem Taufbecken; auch zu dieser Zeit konnte der ‚Fluss der Bronze‘, selbst das Kanalisieren des flüssigen Metalls im technischen Gießprozess, für eine theologische Bedeutung aktiviert werden. In einem Kapitel zum Ehernen Meer (De mari fusili in templo) allegorisiert Hugo das im Vorgang des Gießens durch Kanäle geleitete flüssige Metall zu einer ‚Perfektion der Form‘ als einen Reinigungsvorgang der Seele durch die compunctio cordis und den Heiligen Geist. Hugo verliert in dem Abschnitt zum Ehernen Meer kein Wort über den typologischen Zusammenhang zwischen dem Ehernen Meer und der Taufe, obwohl es kaum möglich ist, dass er ihn nicht kannte. Im Kontext seiner Schrift über die Seele lag eine andere Aspektivierung des Beckens und seines Materials näher. Umso interessanter ist, dass wiederum im Schriftsystem des Lütticher Taufbeckens die penitentia als eines zusätzlichen Reinigungsvorgangs hervorgehoben wird, der im Rahmen der Kindstaufe eher keine Rolle mehr spielt. Der getaufte Betrachter erkennt im Umschreiten des Taufbeckens, dass zur Sündenreinigung immerwährende Bußtätigkeit notwendig ist – wie beispielsweise in der Inschrift über der Taufe der Zöllner in dem quis mundo crimina tollat deutlich wird. Hier mag auch eine Rolle spielen, dass das Metall in den Verfahren der Verhüttung und des wiederholten Verflüssigens und Festwerdens in der weiteren Verarbeitung selbst Reinigungsprozessen unterliegt.
Den aktivierten Aspekt des Bronzeflusses für Werk und Inschrift kann man sowohl für eine Material- als auch für eine Technikikonologie veranschlagen. Die Technik des Gießens trifft natürlich auf viele Werkstücke zu, wird aber hier explizit und konkret dem bronzenen Werk, dem Fluss Jordan, dem Zusammenströmen der Gläubigen (confluit) etc. sinnkonstitutiv zugesprochen. In ikonischer Hinsicht ist es werkspezifisch an der Stelle, an welcher die Wellen des Jordans den Bronzefluss assoziieren lassen. Die Frage wäre nun, ob es weitere Darstellungs- und Technikspezifika am Taufbecken gibt, in denen die verwendete Technik konkret mit der Semantik in Verbindung gebracht wird. Daher ist noch einmal auf die Strahlen zurückzukommen, die in der Taufe Christi von Gottvater und dem Heiligen Geist, in den anderen beiden Taufen von einer aus dem Himmel ragenden Hand ausgehen und die Taufe mit dem Geist versinnbildlichen. In der Taufe Cratons kommen dessen Haupt, die Strahlen und die Hand des taufenden Johannes zu einer so verbundenen Figuration zusammen (Abb. 17). Während die Strahlen direkt in bzw. mit der Beckenwand gegossen wurden, sind die beiden Figuren des Craton und des Johannes Evangelista Überfanggüsse (oder separat im Wachsmodell gefertigt). Das Haupt des Craton und der Strahl links sind Kontaktstellen entweder des Überfanggusses oder der Anschlusstellen der verschiedenen Teile des Wachsmodells: Die Figur wird entweder zuerst gegossen und dann während des Gussvorganges des Beckens mit diesem verbunden oder in Wachs gefertigt und vor dem Guss mit dem Modell des Beckens verbunden. In einer material- und technikikonologischen Ausdeutung könnte dies heißen, dass Craton als materiale Bildfigur präexistent ist und zunächst im übertragenen Sinne auch für den ungetauften Craton steht. Im Fall des Überfanggusses erhält ihren Sinn erst im Augenblick des Gussvorgangs des Beckens, wenn sich die flüssige Bronze (kanalisiert zu der Strahlenform) mit der zuvor gegossenen Figur verbindet. In der Bildlogik wird der Täufling im wirksamen Moment der Taufe von den Strahlen des Heiligen Geistes getroffen; in der Logik der Technik berührt das flüssige Metall die Figur und integriert sie in das Werk. Dies ist umso plausibler, da die Strahlen ja nicht nur für den Geist, sondern auch für das Feuer stehen, mit dem Christus dem Johannes-Diktum zufolge tauft: Das Feuer zum Verflüssigen der Erze ist die instrumentale Kraft, die die Figur im Überfangguss an die Beckenwand bindet. Dies mag zunächst spekulativ erscheinen, entspricht aber meines Erachtens sehr viel mehr einer mittelalterlichen Rezeption als beispielsweise die direkte Ableitung eines Bildsinns von einer einzigen Schriftquelle. Johannes Baptist tauft mit Wasser; der, der nach ihm kommt, tauft mit dem Heiligen Geist und mit Feuer (Matth. 3,11): Beides wird gleichsam in dem ‚beseelenden‘ flüssigen, in die Form strömenden Metall wirksam und anschaulich. Diese Rezeption wird auch dadurch gesteuert, dass sich die Täuflinge in einer symmetrischen und damit auffälligen Figuration viel mehr den Strahlen (auf der Beckenwand) zuneigen als den taufenden Heiligen.
Exkurs: Das Hildesheimer Taufbecken
Um zu zeigen, dass die technikikonologische Aspektivierung des Bronzegusses für ein Taufbecken aus diesem Material kein Einzelfall ist, sei hier kurz auf das ebenfalls in Messing gegossene Hildesheimer Taufbecken verwiesen (Abb. 18).
Auch dieses zeigt auf dem Becken als eine von vier Szenen die Taufe Christi, welche die Kenntnis des Lütticher Werkes vorauszusetzen scheint (Abb. 19). Im Gegensatz zu einem kohärenten Taufnarrativ visualisieren die insgesamt acht Bildfelder von Becken und Deckel ein umfangreiches typlogisches Programm zur Taufe, Reinigung, Reinheit und Buße. In Hildesheim wird das Becken nicht von Rindern getragen, sondern von Atlantenfiguren, welche die vier Paradiesflüsse Euphrat, Phison, Geon und Tigris personifizieren und inkorporieren (Abb. 20). Die Personifikationen gießen aus amphorenähnlichen Gefäßen Ströme von Wasser aus, das in diesem Kontext auch das Taufwasser meint und an den Ritus der Weihe des Taufwassers angelehnt ist, in dem der Priester in der Osternacht das Wasser in die vier Himmelrichtungen ausgießt. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Wahl dieser Darstellung auch mit der Technik des Bronzegusses zu tun hat und hier zugleich der Guss der Bronze aus Tiegeln gemeint ist, der das Gerät der liturgischen Taufe hervorbringt. Man hätte demnach auf den typologischen Bezug durch die Rinder verzichtet, um mehr Referenzen zur Technik und ihrer Bedeutung zu integrieren.In der Darstellung des Auszugs aus Ägypten auf der Beckenwand teilt Moses das Rote Meer mit einem Stab, der als Werkzeug an die Kanalisierung des Bronzeflusses und an das Verteilen des flüssigen Metalls genau an dieser Stelle der Darstellung erinnert (Abb. 21).
Aber auch an anderer Stelle wird meines Erachtens auf Bronze verwiesen. Ausgerechnet die Temperantia (Abb. 22), die dem Fluss Geon zugeordnet ist, trägt ein Spruchband mit folgendem Wortlaut aus der Ars Poetica des Horaz: Omne tulit punctum/ qui miscuit utile dulci (‚jede Stimme erhielt [derjenige], wer Süßes und Nützliches mischte‘). Das rechte Maß war für die Mischung der Legierungen ein essentielles Kriterium; temperare konnte sich sowohl auf die jeweiligen Bemessungen der Bestandteile der Legierung als auch auf ein Steuern der relativen Temperaturen beim Schmelzen beziehen. Das hiermit verbundene Wissen kursierte sowohl vor- als auch beschreibend in Rezeptbüchern und in Notaten der Praxis, sowohl im Bereich des Kunsthandwerks als auch der Alchemie. Temperantia ist weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass sie etwas aus einem Gefäß in ein anderes gießt und quasi materialiter auf den Prozess des Mischens anspielt, der in der Dichtung eben nicht ‚haptisch materiell‘ ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Temperantia als Tugend des Maßes und der Ausgewogenheit aller Teile eines Systems ab dem 15. Jahrhundert aktuelle Produkte der artes mechanicae als Attribute zugeordnet werden, wie zum Beispiel die mechanische Uhr. Die von Lynn White konstatierte Instrumentalisierung der Temperantia-Ikonographie für die Glorifizierung technologischer Entwicklungen könnte somit eine längere Tradition haben, als von ihr angenommen. Hinzu kommt am Taufbecken die Zuordnung der Temperantia am Taufbecken zum Fluss Geon, der in der Inschrift als der ‚Erdspalt‘ (TERRE HIATUS) bezeichnet wird und damit auf die Herkunft des Erzes anspielen könnte. Die Idee der Anleihe bei Horaz wäre dadurch begründet, dass Horaz in der Ars Poetica beständig die Dichtkunst mit Vergleichen zu Verfahren der Bronzekunst charakterisiert; das Finish des Dichtens beispielsweis wird metaphorisch als ‚Feilen‘ und ‚Polieren‘ benannt. Im Bild-Schriftprogramm erfährt das metaphorische Verfahren gleichsam eine Inversion: Die Kunst der Beifall erhaltenden Legierung wird mit der ‚Mischung‘ der dichterischen Inhalte analogisiert. Und während Horaz viele seiner Metaphern der Metallkunst entleiht, wendet der Künstler des Taufbeckens ein Diktum der Dichtkunst wiederum auf die Metallkunst an. In der Forschung, die das Horaz-Zitat bereits erkannte, nicht aber den Zusammenhang zur Legierung sah, ist man sich einig, dass der Hildesheimer Domprobst Wilbrand als Auftraggeber des Werkes die Einfügung des gelehrten Zitates initiierte. Das muss aber nicht unbedingt sein: Bronzegießer mussten über vielerlei Kenntnisse der artes, auch der artes liberales verfügen, und der Probst kannte vielleicht seinen Horaz, hatte aber eventuell nicht die Fragen und Feinheiten der Legierungen im Blick. Dies wäre ein Beispiel dafür, dass viele Ideen zu komplexen Bild-Schrift-Programmen nicht einseitig von Künstlern oder Theologen entwickelt werden können, sondern sich in einem gemeinsam verfolgten Diskurs und vielleicht sogar in direktem Austausch ergeben.Das Kunstwerk als materiale Figura
Der Bedeutung des Materials für die Typologie bzw. Figuraldeutung ist bisher wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden, weshalb hier nur ein entsprechendes Desiderat formuliert werden kann. In den Heilsspiegeln des 14. Jahrhunderts, welche die Taufe Christi und das Eherne Meer nebeneinanderstellen, beginnt der Text zum Ehernen Meer mit einer Betonung der Materialien des Taufwassers und des Ehernen Meeres selbst:
Baptismus autem fluminis debet fieri in pura aqua
Non in vino non in lacte ne in quacumque materia alia.
Mare aeneum sive lavatorium factum erat ex ere
in quo consueverunt artifices quelebet metalla commiscere
ita in qualibet lingua possunt verba baptismi pronunciari.
Die Taufe im Fluss sollte jedoch mit reinem Wasser durchgeführt werden
und nicht mit Wein, Milch oder irgendeinem anderen Material.
Ein erzenes Meer oder ein Reinigungsbecken war aus Bronze hergestellt worden,
in der die Handwerker beliebige Metalle zu mischen pflegten,
so wie die Worte der Taufe in jeder beliebigen Sprache ausgesprochen werden können.
Der merkwürdigen Betonung, dass im ‚Material‘ Wasser und nicht in Blut oder Milch getauft werde, folgt der Vers mit der Materialbenennung des Beckens (ex ere – aus Erz), wobei mit mare und lavatorium noch zweimal das Wasser betont wird und Erz und Wasser sich damit im Vers materialiter verbinden. In den folgenden zwei Versen wird das Material Bronze selbst wird als Legierung aspektiviert (vermischte Metalle), für eine typologische Auslegung des alttestamentlichen kultischen Geräts hinsichtlich der nach Durandus in vielen Sprachen gültigen Taufformel.
Aber was bedeutet dies für die Stofflichkeit eines christlichen liturgischen Geräts, das die alttestamentliche Figura in Teilen ‚reinkarniert‘ und mit der christlichen Tauffunktion amalgamiert? Ein bereits angedeuteter Umstand ist in der Forschung bisher wenig reflektiert worden: Wenn das Eherne Meer als Präfiguration der Taufe (Christi) gilt, ist damit seine Nachbildung für die liturgische Ausstattung nicht zwingend gegeben. Typologie ist zunächst eine Beziehung von Altem Testament und Neuem Testament, nicht von Altem Testament und liturgischem Gerät. Das Besondere ist, dass hier das liturgische Gerät als ganzes Objekt zur Figura im typologischen System wird. Der Bezug zwischen Ehernem Meer und der Taufe wird gleichsam im Objekt ‚inkarniert’ oder zumindest substanziell fassbar.
In den Material Culture Studies sind in den letzten Jahren Dingtheorien verschiedener Autoren neu evaluiert worden, das gilt beispielsweise für das „dingende Ding“ bei Heidegger. Es fällt auf, dass in dieser Forschungsgeschichte die spezifische Materialität der Dinge kaum eine Rolle spielt. Dennoch lässt sich an dort gemachte Überlegungen anschließen. Bei Heidegger wären dies Hinweise auf eine dezidierte Agency der Dinge, die man mit Überlegungen zu der Bedeutung des Materials ergänzen kann. Schaut man sich wiederum die Standardwerke der Forschungsliteratur zur Bedeutung typologischer Deutungen an, so ist auch dort die Frage des Materials nicht unbedingt prominent vertreten. Dies gilt auch für den wichtigen Figura-Aufsatz von Erich Auerbachs, der die geschichtsphilosophische Bedeutung der Typologie herausstellt. Auerbach rekonstruiert eine Verwendung des Begriffs ‚Figura‘, die ihr ganz grundsätzlich eine gewisse Gegenständlichkeit zuschreibt. Er diskutiert die Figura als eine in weiterem Sinne ‚plastische’ Gestalt, in der eine veritas zur Erscheinung kommt oder angekündigt wird; zwar im Prinzip nicht als etwas Substanzloses, weil generell und dezidiert ‚Fleischliches‘, aber doch jenseits einer bestimmten Materialität. Dies mag damit zu tun haben, dass Auerbachs Perspektive nicht die Bildende Kunst ist, sondern die Literatur. Sein Hauptbeispiel ist die Figur ‚Beatrice‘ in Dantes Commedia, die als eine für die Erlösung stehende Figura insofern intradiegetisch ‚fleischlich‘ ist, weil sie zugleich als eine historische Figur postuliert wird. Ihre Materialität als Kunstfigur hingegen wird rein textlich konstituiert, während in der Bildenden Kunst die ästhetische Instanz des Materials einer Figura hinzukommt. Zudem stellt Auerbach in seiner Diskussion der Tradierung des Figura-Begriffs seit der Antike sehr wohl heraus, dass figura zuallererst eine plastische Gestalt assoziieren ließ, die ohne irgendeine Vorstellung von Material kaum denkbar ist.
Insofern soll hier diskutiert werden, ob und wie genau für die Gestaltwerdung der Figura eine tatsächliche Materialität zum Tragen kommt oder kommen kann. In der antiken und mittelalterlichen Bedeutung ist Figura die Gestalt, in der etwas in Erscheinung tritt, evident wird, fassbar wird. In der Realprophetie des typologischen Systems, in der der Figura-Begriff vermutlich seine größte Kraft entfaltet, ist der Clou quasi der, dass die alttestamentliche Figura, die auf die Wahrheit des Neuen Testaments verweist, nicht nur Schatten, sondern auch ein Körper eigenen Rechts ist, wie es das vielzitierte nec omnia umbrae, sed et corpora des Tertullian programmatisch fasst. Genau dieser Aspekt unterscheidet die Figura von der Allegorie: Adam oder die Opferung Isaaks haben ihren eigenen Platz in der Heilsgeschichte und sind gleichzeitig Figurae Christi bzw. des Opfertodes am Kreuz. Für Auerbach steht die Figura als Mittlerfigur zwischen historia und veritas.[6] Damit ist sie die Instanz, die der (unsichtbaren) Wahrheit am nächsten ist. Die Frage, ob ein Kunstwerk Figura in diesem Sinne sei, wirft Auerbach sehr vorsichtig auf: „Nicht ganz deutlich ist es mir wie weit die ästhetischen Vorstellungen figural bestimmt sind – wie weit also das Kunstwerk als figura einer noch unerreichbaren Erfüllungswirklichkeit aufgefasst wird.“ Wenn man zudem den Umstand berücksichtigt, dass beispielsweise die christliche Liturgie sich zu Passion und Heilstod Christi postfigurativ verhält, ist die Frage nach dem Kunstwerk als Figura berechtigt. Oder anders gesagt: Neben der Frage, wie Kunstwerke der Heilsgeschichte Gestalt verleihen, ließe sich fragen, wie sie sich in den typologischen und figurativen Systemen positionieren und welche Rolle das Material dabei spielt.
Man könnte zunächst annehmen, dass das Material in der Figuraldeutung des Christentums typologiewürdig und bedeutungsstiftend ist, da die Nennung von Materialien im Alten Testament keine geringe Rolle spielt. Es versteht sich, dass die als Präfiguration der Kirche geltende Arche aus Holz ist; bei Artefakten wie der Bundeslade wird mit dem Akazienholz sogar die Holzart genannt. Der Thron Salomos bestand laut seiner Beschreibung im Alten Testament aus vergoldetem Elfenbein, was zum Beispiel für die im 6. Jahrhundert entstandene Maximianskathedra in Ravenna konstitutiv ist (Abb. 23).Museum für Spätantike und Byzantinische Kunst in Berlin. Hier sind die Throne Darstellungen innerhalb einer Szenerie und sie sind faktisch aus dem Material Elfenbein, aus dem aber eben auch die Figuren und das Objekt selbst bestehen.
In der christlichen Exegese ist das Eherne Meer Präfiguration für die im Neuen Testament institutionalisierte Taufe, d. h. die Taufe Christi, und nicht etwa für die Taufbecken einer liturgischen Gegenwart. Wenn das Lütticher Taufbecken sich quasi selbst durch Material, Form, Inschriften und Bildprogramm als eine Postfiguration des Ehernen Meeres ausweist, dann ist dies eine neue Figura – nicht identisch mit der Figura des Ehernen Meeres, welches der ‚Schatten‘ der Taufe des Neuen Testaments ist, sondern als Kunstwerk die Gestaltwerdung der Wahrheit und Wirklichkeit der an ihm vollzogenen Taufe. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass das ‚Gießen‘ der Bronze und das ‚Gießen‘ des reinigenden Wassers bereits im Alten Testament (oder im Tempel selbst) in einen Zusammenhang gebracht worden wären. Daher bietet das theoretische Modell der Aspektivierung die Möglichkeit einer Erfassung, wann und in welcher Funktion solche Aspekte überhaupt kulturell wirksam werden, das Material Kultur aktiv mitgestaltet und neue Episteme oder Epistemologien schafft. Für die Aspektivierungszusammenhänge zwischen Bronze und Wasser kommen in Lüttich weitere Links hinzu, wie der Jordan als Spender des ersten Taufwassers und die Seitenwunde Christi, aus der sich Blut und Wasser als Stiftung der Sakramente Eucharistie und Taufe ergossen hatten. Das semantische Konzentrat all dieser Zusammenhänge existiert nur im Kunstwerk selbst und in seinen performativen Vollzügen. Die Frage einer Materialikonologie ist in diesem Fall nicht nur die nach der Bedeutung der Bronze in der mittelalterlichen Kultur oder nach einer allgemeinen Begründung, warum Taufbecken, Türen oder Aquamanilien aus Bronze gefertigt wurden. Die Aspektivierung und das Pointieren des Materials im einzelnen Kunstwerk selbst – mit verschiedenen Verfahren im Bild-Schrift-Objektsystem – ist in diesen Fällen eine ebenso individuelle Bedeutungsstiftung in diesem einen Kunstwerk wie sein spezifisches Bild-Schriftprogramm. Oder anders gesagt: Jedes Kunstwerk ist durch ein System von konmedialen, materialen und gegebenenfalls performativen Bestandteilen geprägt, wobei diese Bestandteile sich in ihrer Bedeutung nicht aufaddieren, sondern in referenzgebenden Beziehungen stehen. So weist das Horaz-Zitat auf dem Hildesheimer Taufbecken die spezifische ars des Taufbeckens nicht auf einer allgemeinen Ebene der Analogisierung von Dichtung und Bildender Kunst aus, sondern macht einen kunsttheoretischen Grundsatz der Dichtung für das spezifische Material dieses einen Taufbeckens und die scientia seines Gießers fruchtbar.