Ein methodischer Versuch, Wasser als Material ernst zu nehmen
Abstract
Der Umgang mit Wasser stellt einen zentralen Interaktionsanlass dar, der sich nicht darin erschöpft, Wasser bereitzustellen und zu entsorgen. Als allgegenwärtiges und lebensnotwendiges Material nimmt es Einfluss auf unterschiedlichste Handlungen und Praktiken. In jeweils variierenden Konstellationen zwischen Menschen und ihrer Umwelt treten dabei spezifische Aspekte und Eigenschaften des Materials Wasser in den Vordergrund. Für städtische Gemeinschaften in Spätmittelalter und Früher Neuzeit sind nur manche davon durch schriftliche Quellen erschließbar, besonders dann, wenn einzelne Eigenschaften des Materials Wasser gemeinsame Anstrengungen provozierten, etwa, um auf die Ressource Wasser zuzugreifen oder den zerstörerischen Charakter von Wasser abzuwenden.
Der vorliegende Beitrag nähert sich dem Eindruck von Wasser auf das Handeln der Menschen aus der Perspektive der Materialeigenschaften. Er wird danach fragen, welche Aktionen, Reaktionen oder Handlungsangebote durch spezifische Eigenschaften von Wasser wie Fließen, Gefrieren, Befeuchten, etc. aktiviert werden und gemeinschaftliches Handeln, Praktiken oder Wechselwirkungen zwischen menschlicher Gesellschaft und Natur auslösen. Als Untersuchungsgegenstand dient dafür die spätmittelalterliche Verwaltungsüberlieferung der Donaustädte Krems, Stein und Wien, die durch ihre Lage am Fluss in besonderem Maße mit den Eigenschaften von Wasser in Interaktion treten.
Damit soll ein Beitrag geleistet werden, die Frage nach Materialität und Materialien für stadtspezifische Prozesse nutzbar zu machen.
Zu diesem Artikel existiert eine Episode des begleitenden Podcasts “Sonic Trinkets”:
Abstract (englisch)
Dealing with water is a central reason for interaction that is not limited to the provision and disposal of water. As a ubiquitous and vital material, it influences a wide variety of actions and practices. In varying constellations between people and their environment, specific aspects and properties of water as a material become the focus of attention. For urban communities in the late Middle Ages and early modern period, only some of these are accessible through written sources, especially when individual properties of the material water provoked joint efforts, for example, to access the resource water or to avert the destructive character of water.
This paper will approach the impact of water on people’s actions from the perspective of its material properties. It will ask about the actions, reactions or possibilities for action being activated by specific properties of water such as flowing, freezing, wetting, etc. and triggering communal actions, practices or interactions between human society and nature. The late medieval administrative records of the Danube cities Krems, Stein and Vienna serve as a research object for this purpose. Due to their location at the river, these cities particularly engage in interactions with the attributes of water.
Thus, a contribution is made in order to explore the question of materiality for urban agendas.
Inhaltsverzeichnis
Wasser aspektivieren
In den vergangenen Jahren rückte Wasser zunehmend in die Aufmerksamkeit historischer Forschung. Neben einer umfangreichen Anzahl an technik- und umweltgeschichtlich orientierten Studien, die sich Fragen der Ver- und Entsorgung von Wasser oder der sozio-naturalen Bedeutung von Fließgewässern widmeten, beschäftigte sich in jüngerer Zeit eine Reihe von Sammelbänden multiperspektivisch und basierend auf zahlreichen Quellenbeständen mit Wasser als einer der zentralen Ressourcen menschlichen Lebens.
Diese Herausforderung greift der folgende Beitrag auf und versucht eine Annäherung an das Material Wasser: Es soll dabei im Zusammenspiel seiner in der jeweiligen Konstellation aktivierten Aspekte und den damit in Beziehung stehenden Praktiken in den Vordergrund gerückt werden. Damit folgt dieser Beitrag aus der Perspektive der Geschichtswissenschaften einem am IMAREAL entwickelten gemeinsamen Frageinteresse danach, wie Materialien kulturbildend wirksam werden. Um den verschiedenen disziplinären Zugängen – Archäologie, Bildwissenschaften, Geschichte und Kunstgeschichte – einen gemeinsamen Zugriff zu ermöglichen, wurde der Begriff ‚Aspektivierung‘ gewählt. Damit wird jener Vorgang beschrieben, „aus der Vielzahl der Eigenschaften, Verfügbarkeiten, Zuschreibungen und Bedeutungen eines Materials jene Aspekte zu fixieren, die in dem aus einem bestimmten Material gefertigten Objekt oder in den damit in Beziehung stehenden Praktiken zum Tragen kommen.“ Mit diesem Zugriff soll deutlich werden, dass es die Materialität von Wasser ist, die nicht nur anlassbezogen menschliches Handeln bewirkt, sondern in seiner Kontinuität und Beständigkeit Menschen dazu zwingt dieses Handeln in Praktiken zu strukturieren und abrufbar zu machen. Solche Aspekte können Eigenschaften sein, Formen von Materialien oder Materialverhalten, genauso aber das Wissen um den Umgang mit Wasser, konkrete Umsetzungen dieses Wissens oder das Sprechen bzw. Schreiben darüber. Die Wirkmacht von geweihtem Wasser ist damit ebenso Teil einer Gesamtheit von Aspekten wie die Fähigkeit von Wasser sich auszudehnen, über Ufer zu treten oder ausreichend Sauerstoff zu lösen und so bestimmten Lebewesen einen Lebensraum zu bieten. Verändert sich die Materialität – etwa, wenn Wasser zu Eis wird –, so verändern sich zwangsläufig auch die Praktiken, die auf die jeweils unterschiedlichen Aspekte Bezug nehmen. Damit kann auch an jüngere materialgeschichtliche Zugänge angeschlossen werden. So geht etwa die neuere Stoffgeschichte von der Annahme aus, dass (Roh-)Stoffe nicht von vornherein als gegebene Objekte verstanden werden können, sondern erst „durch Wissen, Ideen, Erwartungen oder Planungen […] konturiert“ werden. Mit jeweils neuem Wissen geht „eine Veränderung des Eigenschaftsprofils“ einher. Dies trifft auch für Wasser zu, das in den drei Aggregatzuständen ‚flüssig‘, ‚fest‘ und ‚gasförmig‘ Menschen in Vergangenheit und Gegenwart zu Aktivität provozierte und provoziert.
Um dieses sehr breit angelegte Frageinteresse nach einer konstitutiven Relevanz von Wasser als Material strukturiert fassen zu können, werden die gewählten Fallbeispiele hinsichtlich des Materialverhaltens ‚Fließen‘ befragt. Dabei interessiert besonders die produktive aber auch destruktive Relevanz, die Wasser und dessen ‚Fließen‘ für das Handeln der Menschen hat. Es soll danach gefragt werden, welche Aktionen, Reaktionen oder Handlungsangebote aktiviert werden und dadurch gemeinschaftliches Handeln, Praktiken oder Wechselwirkungen zwischen menschlicher Gesellschaft und Natur auslösen.
Wasser fließt
Das Materialverhalten ‚Fließen‘ meint die Bewegung flüssiger Körper, die in ihrem Bewegungszustand schwachen Zusammenhang behalten und sich zudem neben- und übereinander bewegen können. Dieser Materialaspekt bezieht sich insbesondere auf Wasser, kann aber auch auf bei durchschnittlichen Temperaturen feste Materialien wie etwa Wachs, Blei, Pech oder Gold Anwendung finden, wenn sie durch Wärme aufgelöst werden.
Derartige Zuschreibungen zur Eigenschaft des Fließens, wie sie beispielsweise am Ende des 18. Jahrhunderts im Grammatisch-Kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart festgehalten wurden, finden neben der Beschreibung eines bestimmten Materialverhaltens im übertragenen Sinn auch auf eine ganze Reihe von anderen Beschreibungsszenarien – manche davon bis heute – Anwendung: Formulierungen wie ‚fließende Textilgewebe‘, ‚Gedanken, die fließen‘, oder der ‚fließende Schnitt‘ eines Kupferstechers greifen diese besondere Materialeigenschaft von Wasser und flüssigen Materialien auf. Die Anwendungsbeispiele können dabei auch auf die mit diesem Verhalten verbundenen Auswirkungen verweisen, etwa wenn mit der Formulierung ‚die verflossenen Jahre‘ auf das stetige Fortschreiten der Zeit ohne Wiederkehr Bezug genommen wird. Dabei wird erneut aspektiviert: erst das Wissen darum, dass flüssige Materialien schwer aufgehalten werden können, lässt den Sinnzusammenhang der Metapher deutlich werden: Materialwissen wird diskursiviert. Das technische Wissen um spezifisches, hinsichtlich der Bereitstellung von Trinkwasser, der Ableitung von Schmutz, Unrat und Abwässer sowie des Antriebs von Mühlen bedeutsames Materialverhalten fand auch Eingang in theologische und naturphilosophische Berichte und Traktate. Thomas von Aquin etwa greift in seinem Traktat De aqua diesen Aspekt auf und setzt ihn in Beziehung zum stofflichen und geistlichen Wasser. Während aus seiner Sicht das stoffliche Wasser nach unten fließt, führt das geistliche nach oben. Hildegard von Bingen differenziert bei der Beschreibung von Gewässern zwischen ‚fließend‘ und ‚nicht fließend/stehend‘ und ordnet sie in kosmische und geografische Bezüge ein. Und Isidor von Sevilla verweist darauf, dass nicht jegliche congregatio aquarum als Meer bezeichnet werden dürfe, sondern von jenen unterschieden werden müsse, die sich durch dauerhafte fließende Bewegung auszeichneten. Die Bedeutung von Wasser für den Bestand ihrer Gemeinschaften wird besonders von der Ordensgemeinschaft der Zisterzienser explizit angesprochen – und dies nicht nur in einer Vielzahl von Namensgebungen ihrer Abteien. Beschreibungen zisterziensischer Wasseranlagen nehmen das Materialverhalten in den Blick und verweisen damit auf Konsequenzen und Möglichkeiten für Gebrauch und Bedarf der Gemeinschaft. So bewässern beispielsweise nach den Angaben der Descriptio Claraevallensis kleine, vom Fluss abgeleitete Bäche Obst- und Gemüsegärten sowie Gartenbeete, während das Flusswasser zur Hälfte durch die Abtei geleitet wird, um Mühle, Walke, Gerberei und andere Gebäudeteile zu versorgen, bevor sein Verlauf das Gelände wieder verlässt.Intromissus vero quantum murus, portarii vice, permisit, primum in molendinum impetum facit, ubi multum sollicitus est, et turbatur erga plurima, tum molarum mole far comminuendo, tum farinam cribro subtili segregando a furfure. Hic jam vicina domo caldariam implet, se igni coquendum committit, ut fratribus potum paret […]. coquendis, cribrandis, vertendis, terendis, rigandis, lavandis, molendis, molliendis, suum sine contradictione praestans obsequium. Postremo, ne quid ei desit ad ullam gratiam, et ne ipsius quaquaversum imperfecta sint opera, asportans immunditias, omnia post se munda relinquit. Et jam peracto strenue propter quod venerat, rapida celeritate festinat ad fluvium.
Wenn er [der Bach] aber eingelassen ist, soweit die Mauer nach Art eines Pförtners dies gestattet, macht er zuerst einen Anlauf auf die Mühle, wo er gar sehr geschäftig ist und sich um vielerlei sorgt. Durch der Mühlsteine Wucht zerreißt er das Korn, und durch ein feines Sieb sondert er das Mehl von der Kleie. Dann füllt er schon im nahen Hause den Kessel und lässt sich auf dem Feuer kochen, um den Brüdern einen Trank zu bereiten […]. Ohne Widerspruch bietet er seine Dienste an, sei es zum Kochen, Sieben, Drehen, Bewässern, Reiben, Putzen, Waschen, Mahlen, Einweichen, und zu guter Letzt, damit ihm für den Dank nicht irgendetwas fehle oder seine Arbeit irgendwie noch unvollkommen sei, trägt er allen Unrat mit sich und lässt alles sauber zurück, und hat er die Arbeit, zu der er gekommen war, ausgeführt, so eilt er in schnellem Lauf zum Flusse zurück.
Als fortdauernder und kraftvoller Energieträger wird dem Fluss eine aktive Rolle zugeschrieben. Es ist der Fluss, der die Arbeit der Mönche durch seine Fließkraft unterstützt, sie mit Wasser versorgt und den Abfall wieder abtransportiert. Als Diener der Gemeinschaft tritt dieser dabei als eigenständige Persönlichkeit auf; die Materialeigenschaft des Fließens erscheint als seine Aufgabe, die ihm im Rahmen der Abtei zugewiesen wird und die er aktiv wahrnimmt. Gleichzeitig bietet die Beschreibung des Materialverhaltens Gelegenheit, Verhaltensweisen innerhalb der Klostergemeinschaft zu verdeutlichen. Die kontinuierliche Bewegung von Wasser wird in Beziehung gesetzt zur kontinuierlichen Arbeit als Teil der vita activa. Die Formulierungen macht auch deutlich, dass erst mit der Einbindung von Wasser in das Kanalsystem des Klosters Aspekte seiner Materialität im Sinne der Gemeinschaft genutzt werden können. So wird durch die Kanalisierung aus dem Stoff ‚Wasser‘ ein Material.
In der englischen Zisterze Rievaulx wiederum ist von verborgenen Rinnsalen die Rede, über die ein kleines Tauchbecken im Novizenhaus mit eiskaltem Fließwasser versorgt wurde, um die innere Hitze zu kühlen.
Nec pretereundum quomodo in probatorio cassellam testeam ad modum paruule cisterne sub terra fabricauerat, cui per occultos riuulos aqua influebat. Os autem eius lapide latissimo claudebatur ne a quoquam cerneretur. In quam Alredus machinam intrans, si quando secretum silencium reperisset, et aqua frigidissima totum corpus humectans calorem in sese omnium extincit uiciorum.
Ich möchte nicht versäumen zu erzählen, wie er [Ailred] unter dem Boden des Novizenhauses eine kleine Kammer aus Ziegelsteinen gebaut hatte, die wie ein kleines Becken aussah, in das Wasser aus versteckten Rinnsalen floss. Die Öffnung war mit einem sehr breiten Stein verschlossen, so dass niemand sie bemerken konnte. Ailred ging hinein, wenn er allein und ungestört war, und tauchte seinen ganzen Körper in das eiskalte Wasser, um so die Hitze aller Laster in sich zu stillen.
Ähnlich wie beim Taufritus wird in der Beschreibung dieses von Abt Ailred genutzten Tauchbeckens auf das Eintauchen des gesamten Körpers und dem damit verbundenen Übergießen mit fließendem Wasser Bezug genommen – dies umso deutlicher, als das geschilderte Bad im eiskalten Wasser dazu diente, die „Hitze aller Laster“ zu stillen. In der Taufliturgie wird der fließenden Bewegung von Wasser ein zentraler Stellenwert für die Wirksamkeit des Sakraments zugeschrieben. Durch das den Täufling überfließende Wasser wird ihm das Heil schaffende Wirken Gottes gewährt. Das fließende Wasser wird zum ‚Heiligen Zeichen‘.
Fließendes Wasser hat jedoch auch andere Potenziale – und Gefahren. So konnte die durchaus modern anmutende Ausstattung einer Burg mit fließendem Wasser auch Risiken mit sich bringen, wie die vielzitierte Nachricht des Chronicon Eberpergense des 11. Jahrhunderts zeigt. Sie berichtet vom Einsturz des Saals im Obergeschoß der an der Donau gelegenen hochmittelalterlichen Burganlage Persenbeug in die darunterliegende Badstube. Die Begebenheit interessierte meist aufgrund der im Bericht genannten Persönlichkeiten, darunter Kaiser Heinrich III., der Bischof von Würzburg und der Abt von Ebersberg, oder aufgrund der frühen Bezeugung des Badstubenbetriebs auf Burgen. Die Erzählung aspektiviert jedoch auch hinsichtlich des Materialverhaltens. Bischof und Abt stürzten in die unter dem Saal gelegene Badstube, in die gerade Wasser eingeleitet wurde. Die Fließkraft des Wassers scheint Verursacherin des massiven Unfalls mit Todesfolgen gewesen zu sein, denn – so berichtet die Chronik – die hölzerne Säule hielt dem Druck nicht stand und der Stubenboden stürzte ab. Die Schilderung macht deutlich, dass die Burg nicht nur über eine Badstube verfügte, die sich direkt unter dem (Fest-?)Saal befand, sondern ebenso über ein komplexes Wasserversorgungssystem, das die Fließeigenschaft nutzte, um Wasser über den Berg in die Burg einzuleiten. Zudem rekurriert sie auf eine weitere Eigenschaft von Wasser, die in Zusammenhang mit bestimmten Materialien aktiviert wird, nämlich die Durchdringung von organischen Zellwänden, etwa von Holz. Dessen Materialverhalten wiederum wird durch die Möglichkeit, Wasser in seine Zellwände aufzunehmen, aspektiviert. Angemessene Mengen von eingelagerter Feuchtigkeit bewirken Elastizität und Spannkraft, während ein Überschuss das Material aufweicht; es wird morsch und verliert seine Stützkraft. So führte wohl die Kombination von fließendem Wasser und schwindender Stützkraft dazu, dass die hölzerne Säule dem Druck nachgab.Der Umgang mit fließendem Wasser als Praxis
Mit den bisher angeführten Beispielen wurden Überlieferungskontexte ausgewählt, die in erzählender, beschreibender oder einordnender Form auf Wasser im Allgemeinen und dessen Fließeigenschaften im Besonderen Bezug nehmen, auch wenn fließendes Wasser hier nur selten im Mittelpunkt des Erzähl- oder Erklärinteresses steht. Wohl aber wurden das Verhalten von Wasser – ‘Fließen‘ – und dessen Wirkungen aufgegriffen und in Bezugssysteme von Menschen, Dingen und Umwelt eingebettet. Dieses Bezugssystem wirft bestimmte Fragen auf: Wie prägte fließendes Wasser die Interaktion der Menschen untereinander und mit ihrer Umgebung? Inwiefern beeinflussten die materiellen Eigenschaften des Wassers die Arbeitsweisen der Menschen? Welche Eigenschaften von Wasser mussten für welche Zwecke ‚verwaltet‘ werden? Mit der Notwendigkeit, mit Wasser zu interagieren, um Versorgung sicherzustellen, es als Antriebskraft zu nutzen oder die Zerstörung von Gebäuden, Anlagen oder Wohnräumen zu verhindern, erscheint Wasser als Bestandteil eines engen Beziehungsgeflechts zwischen menschlichem Handeln und der materiellen Welt, mit komplexen Auswirkungen. Es wird im Folgenden zu zeigen sein, unter welchen Umständen einer der zahlreichen Aspekte, nämlich die Fließeigenschaft von Wasser, in praktisches Handeln mündete und dieses wiederum Eingang in Schriftgut fand, das sich mit administrativen Fragen des Zusammenlebens beschäftigt. Als Untersuchungsrahmen eignet sich dafür der städtische Raum:
Der städtische Raum bietet mit seinen zahlreichen Beweggründen für Interaktion, die sich nicht darin erschöpfen, Wasser bereitzustellen und zu entsorgen, einen geeigneten Untersuchungsrahmen für die vorgeschlagene Aspektivierung von Wasser. Als allgegenwärtiges und lebensnotwendiges Material nimmt es aktiv wie passiv zentrale Rollen in Handlungen und Praktiken ein. In jeweils variierenden Konstellationen zwischen Menschen und ihrer Umwelt treten dabei spezifische stoffliche Aspekte – darunter Eigenschaften, Materialverhalten, Wissen im Umgang mit dem Material – in den Vordergrund. Für städtische Gemeinschaften in Spätmittelalter und Früher Neuzeit haben manche davon auch Eingang in die schriftliche Überlieferung gefunden, besonders dann, wenn Aspekte wie Materialeigenschaften oder Materialverhalten gemeinschaftliche Belange betrafen, etwa, um auf die Ressource Wasser zuzugreifen oder den zerstörerischen Charakter von Wasser abzuwenden. Damit findet – je nach Anforderung, die an das Material Wasser gestellt wird – eine Aspektivierungsleistung statt, die wiederum in Handlungen und Praktiken resultiert. Diese gemeinschaftlichen Handlungen und Praktiken werden schließlich als Wechselwirkungsprozesse mit den Aspekten des Materials in der Überlieferung fassbar.
Die Tatsache, dass Wasser für die Grundversorgung von Menschen nicht ohne Weiteres für alle gleichermaßen frei und zugänglich zur Verfügung steht, macht es besonders für städtische Gemeinschaften notwendig, seine Fließeigenschaften zu organisieren und zu optimieren. Städte sind kein kohärenter, ausschließlich hierarchisch strukturierter Organismus; vielmehr ist ihre innere Struktur – sozial, wirtschaftlich, politisch, aber auch topografisch – kleinteilig, auf nachbarschaftliche Verhältnisse, gewerbliche Verbünde, soziale Zugehörigkeiten hin organisiert. Sie alle haben Bedarf an Fließwasser, sei es für den individuellen Gebrauch, die Durchführung ihrer Arbeitsaufgaben oder die Leistungen an der Gemeinschaft. Somit ist die Bereitstellung von Wasserleitungen, Pumpsystemen oder Abwasserkanälen eine Praxis, die auf unterschiedlichen Ebenen der Zusammenarbeit und Kooperation basiert. Die im Zusammenhang mit diesen Praktiken entstandenen Texte – Handbücher, Rechnungen, Anweisungen – werden dem Verwaltungsschriftgut zugeordnet, das weniger erzählendes Interesse verfolgt, sondern vermehrt auf die Dokumentation und praktische Vermittlung von technischem Wissen, Abläufen, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten abzielt. Damit wird auch im Rahmen des Verschriftlichungsprozesses aspektiviert: In Rechnungsbüchern finden sich die Kosten jener Aktivitäten, die durch fließendes Wasser verursacht wurden, normative Texte legen spezifische Handlungen fest, die in Bezug auf Wasser gesetzt werden müssen. Auch das Verhalten von Materialien wird in spezifischen Fällen angesprochen, wenn etwa – wie im sogenannten Baumeisterbuch des Endres Tucher – bestimmte Tätigkeiten für die Aufrechterhaltung der baulichen Ordnung der Stadt begründet werden. 1465 musste der Nürnberger Stadtbaumeister Tucher die ober- und unterhalb des Wasserspiegels gelegenen Bestandteile einer steinernen Brücke mit Eisenklammern stabilisieren, da sie das wasser aussgespult hett. Im Zusammenhang mit der Wartung eines Überflussbeckens (güspett) nimmt Tucher ebenfalls auf das Materialverhalten explizit Bezug. 1463 hatte er veranlasst, das unterhalb eines Mühldammes gelegene Becken zu dämmen, um im Fall von vermehrtem Wasseraufkommen – etwa durch Regengüsse – ein zu starkes Herabschießen des Wasserstrahls zu vermeiden. Bei der Beschreibung der Arbeitsschritte weist er besonders auf die mit einer Erhöhung des Beckens verbundenen Gefahren hin, denn das wasser stieß sust die quader uber den spunt auß und were alles vergebens, kost, mühe und arbeit. Fließen als ein Aspekt der Materialität von Wasser wird damit explizit in direkte Beziehung gesetzt zu Kosten, Mühen und Arbeit, die den handelnden Akteuren daraus erwachsen.
In den städtischen Rechnungsbüchern wird nicht nur die Materialeigenschaft ‚Fließen‘ aspektiviert, indem die Kosten der Einrichtungen zur Versorgung von Städten mit fließendem Wasser aufgelistet werden, sondern auch durch die Institutionalisierung des Umgangs mit Wasser, wie dies am Beispiel der Entwicklung eines eigenen städtischen Amtes gezeigt werden kann. Am Hohen Markt in Wien befand sich in unmittelbarer Nähe des Gerichtsgebäudes (Schranne) ein Brunnen, an dem täglich frischer Fisch zum Verkauf angeboten wurde. Dieser erfolgte – nicht zuletzt aus hygienischen Gründen – unter besonderer Aufsicht des städtischen Rats. Ab dem 13. Jahrhundert wurde der Verkauf von Fisch in einer Reihe von Verordnungen geregelt. Die dafür notwendigen Einrichtungen wie Tische, Bottiche, Tröge, Wannen etc. wurde durch die städtische Verwaltung bereit gestellt; den damit verbundenen Aufwand hatten die Fischhändler durch festgelegte Abgaben auszugleichen. Über die Ausgestaltung des Brunnens ist wenig bekannt: 1499 scheint ein Malermeister beauftragt worden zu sein, ein Marienbildnis und ein Schild mit dem Wappen der Stadt für den vischprunen am hochenmarkht anzufertigen. Die Ausstattung wird in einer Beschreibung des 17. Jahrhunderts konkretisiert.
Auf diesem Markt ist auch ein huebscher Roehr-Kasten zu sehen, uber denen Wasser-Roehren Wall-Fische ligen, so die Schweiffe in die Hoehe wenden, vmb die Säul aber zu jeder Seiten die Kaiserliche Wapen mit der Jahrzahl 1565 und zu oberst ein Rosen-Topf mit Blumen stehet.
Auf der 1547 angefertigten Planzeichnung des Bonifaz Wohlmuet scheint der Fischbrunnen mit einer gemauerten Einfriedung auf, die den Fischmarkt vom übrigen Teil des Hohen Marktes abtrennte. Über eine Schöpfvorrichtung konnte dem Brunnen Wasser entnommen werden, deren Bestand allerdings erst Anfang des 17. Jahrhunderts dokumentiert ist.
Im Kontext dieses Wirtschaftszweigs – regelmäßig stattfindender Fischmarkt mit der dafür notwendigen Bereitstellung von Behältern, um die Fische zum Kauf anzubieten, sowie Frisch- und Fließwasser – entstand ein eigenständiges städtisches Verwaltungsamt, das so genannte Trögelamt. Über Jahre scheint es an wohlhabende Bürger verpachtet gewesen zu sein, denn in der städtischen Rechnungsführung werden wöchentlich ansehnliche Einnahmen verbucht. Meist üben die Pachtinhaber auch einschlägige Berufe aus, wie etwa Fischerei oder fischverarbeitende Gewerbe (Hausenschroter). Gegen Ende des 15. Jahrhunderts übernahm die städtische Verwaltung jedoch selbstständig die Organisation und stellte für das einträgliche Geschäft einen eigenen Beamten ein. Der Fischverkauf am Hohen Markt in Wien, die damit verbundene Institutionalisierung der Bereitstellung von frischem Wasser und die schließlich in den Verwaltungsablauf integrierte Praktiken verweisen auf die Aspektivierung des Stoffes Wasser durch die städtische Obrigkeit. In der schriftlichen Überlieferung wird dies im Fall des Fischbrunnens am Hohen Markt insbesondere an den Einnahmen aus der Verpachtung des Trögelamtes sichtbar und manifestiert sich nicht zuletzt in den routinisierten Einträgen der städtischen Rechnungsbücher, mit denen die sich wöchentlich regelmäßig wiederholende Besoldung des Tröglamtsinhabers ausgewiesen werden.Die Einhaltung von Gefällehöhen, die Reinigung der Pump- und Brunnenanlagen, der Abwasserkanäle, etc. weisen auf eine Kenntnis hinsichtlich der mit der Bereitstellung von Trink- und Fließwasser verbundenen Gefahren hin.
So wurde Mitte des 16. Jahrhunderts aus begründetem Anlass eine Infektionsordnung erlassen, deren Stoßrichtung auch auf die reinigende Wirkung von Fließwasser abzielte. Die Abwasserkanäle waren jeweils mittwochs und samstags durch frisches Wasser aus den Wasserkästen in den Bädern und aus den Rohrbrunnen auf den öffentlichen Plätzen zu reinigen. Die Verantwortlichen der Stadt wurden aufgefordert, nicht gepflasterte Stellen, an denen sich Tümpel bilden konnten, auspflastern zu lassen. Zudem wurden das Öffnen und Räumen der Abtritte und Senkgruben während der Dauer der Infektion eingeschränkt. Hinsichtlich der Instandhaltung der Abflussmechanismen lässt sich aus der Rechnungsüberlieferung noch eine weitere Beobachtung machen. Auch die Aufwendungen, die mit der Reinigung der Abwasserkanäle verbunden waren, haben Eingang in die alltägliche Praxis der städtischen Verwaltung gefunden. Denn in den Ausgabenverzeichnissen erscheinen die einzelnen als Mörungen bezeichneten Kanäle und Gerinne bereits vorab rubriziert und als fixe Kostenpunkte ausgewiesen. Nicht immer fielen Kosten dafür an – entsprechend blieb das freigehaltene Feld dafür leer.Diese Praxis lässt sich über mehrere Rechnungsjahre beobachten, sodass deutlich wird, dass diese Ausgabenrubrik als regelmäßig wiederkehrender Bestandteil des Budgets wahrgenommen wurde.
Äußere – wetterbedingte – Einflüsse konnten dieses Nutzungsangebot rasch einschränken: Hochwasser, verursacht durch Starkregenereignisse oder durch winterlichen Eisstoß, schränkten nicht nur die Befahrbarkeit der Flüsse ein, sie beeinträchtigten meist auch das Ufergebiet und dessen Bewohner*innen. In der schriftlichen Überlieferung werden vor allem die daraus resultierenden Folgen thematisiert: Chronikale Einträge, die von erhöhter Fließgeschwindigkeit berichten, durch die mobiler und immobiler Besitz beschädigt, zerstört oder gar weggeschwemmt wurde, geben dazu ebenso Auskunft wie Unterstützungsgesuche, die das Ausmaß der Zerstörung durch die massive Kraft des Fließwassers beklagen.
So wird im Besitzverzeichnis des Salzburger Benediktinerklosters St. Peter für das Jahr 1190 vermerkt, dass der Eisgang der Donau die Mauern seiner dortigen Besitzungen überflutet habe:
Ähnlich wie in chronikalen Aufzeichnungen wird auch in Begründungen für Beistandsersuchen das Fließverhalten von Wasser aspektiviert, um konkrete Handlungen zu provozieren. Um den Schäden an Brücken, Gräben und Wehren, die 1434 und die Jahre davor in Krems und Stein durch starke Regenfälle entstanden waren, beizukommen, ersuchte die städtische Gemeinde Krems und Stein den Landesfürsten um finanziellen Beistand. Ansuchen auswärtiger Grundbesitzer in Krems, etwa Klosterherrschaften mit Weingartenbesitz und zugehörigem Wirtschaftshof, finden sich sowohl in der städtischen als auch stiftischen Überlieferung. In den Jahren 1456 und 1458 informierte beispielsweise Johannes, der Abt des Klosters Osterhofen, die Amtsträger von Krems und Stein über seine missliche Lage nach einem massiven Hochwasser der Donau und bat die Stadtverwaltung um Unterstützung. Gleichzeitig forderte er sie auf, seine Ordensgemeinschaft nicht mit zusätzlichen Zahlungsforderungen zu belasten. Der sich in Flussnähe befindliche Wirtschaftshof des Klosters war – genauso wie eine Reihe von benachbarten Gebäuden und Wirtschaftsflächen – vom Hochwasser massiv in Mitleidenschaft gezogen worden. Stets sorgte bisher das Kloster selbst wieder für die Instandsetzung und die Absicherung der Gebäudeteile. Diesem Beispiel sollten nun auch die Klöster der benachbarten Besitzungen wie Admont und Mondsee folgen und das Kloster Osterhofen in seinen Bemühungen unterstützen. In einem ausführlichen Schreiben an den Rat von Krems und Stein legte der Abt die umfassenden Anstrengungen dar, auf deren Grundlage nicht nur sein eigener Hof gegen Verwüstungsschäden durch Wasser und anderer Art geschützt wurde, sondern auch eine ganze Reihe an weiteren Liegenschaften profitieren konnte. Dass nun zusätzliche Steuerleistungen eingehoben werden sollten, schien dem Abt wenig einsichtig. Dem für den Fall der Zahlungssäumnis angedrohte Abriss des Hofes stellte Abt Johannes entgegen, dass ihn die Stadt Krems um Unterstützung des Konvents bei der Errichtung einer bis zur Donau reichenden Mauer ersucht hatte:
Auch begeret ir hilff zu der maur dy man auf dem graben herab auf dy Dunaw fueren sol. Liebn freunndt wes ir uns und das gozhaus nicht vertragen und verantwurtten mugt wellen wir doch in dhainem weg wieder ew sein und allsach nachtperlich lieblich und freuntlich mit ew hallten, daran zweifelt nicht […].
Die Formulierung legt eine ganze Reihe von Praktiken dar, die im Kontext der wassernahen Lage von Stadt und klösterlichen Besitzungen zur Diskussion stehen: Die jeweiligen Interessenslagen werden zwar durch die Ausverhandlung zwischen den beiden Akteuren deutlich, der Bau einer Wasserschutzmauer ist jedoch aus der Perspektive der städtischen Verwaltung ebenso notwendig, um die Bewohner*innen und deren mobilen und immobilen Besitz vor Überflutung zu bewahren, wie die Instandhaltung der baulichen Einrichtungen des Klosterhofes am Donauufer für die Klosterherrschaft. Klar und deutlich wird hervorgehoben, dass die zu lösenden Probleme in der Fließdynamik des nahen Flusses zu suchen sind und konkrete Handlungen erfordern. Auch die im donaunahen Ort Weinzierl bei Krems gelegenen Wirtschaftshöfe der Zisterzienserklöster Lilienfeld und Raitenhaslach setzten explizit auf die Errichtung und Instandsetzung von Wasserschutzdämmen zum Schutz ihrer Liegenschaften.
Auf ähnliche Weise hat die ufernahe und damit exponierte Situation einiger Häuser in Stein Eingang in die Stadtordnung des Jahres 1524 gefunden. Ausgangspunkt der Regelung des Abschnitts 63 ist die gängige Praxis, die in den Kellern gelagerten Weinfässer rechtzeitig vor herannahenden Überflutungen herauszuziehen und an anderen – sicher gelegenen – Orten zwischen zu lagern. Diese Bestimmung als Reaktion auf die Fließkraft der Donau brachte ein weiteres rechtliches Problem mit sich. Wein durfte grundsätzlich nur im eigenen Keller ausgeschenkt und verkauft werden. Mit der Erlaubnis der Verlagerung der Fässer wurde auch der Verkauf von Wein an den Lagerort der Fässer gebunden. Wasser, das seinen für ihn vorgesehenen Rahmen im Flussbett sprengte, wurde in der Mitte des 16. Jahrhunderts mit Blick auf Krems in Form eines Klagelieds rezipiert. 1580 veröffentlichte Daniel Holzman in Augsburg ein new kleglich Lied von der schröcklichen Wetters nott vnd Wockenbruch weliches beschechen zwo Meil wegs vmb Krembs und Stein. Das Unwetter hatte sich im Mai desselben Jahres zugetragen und wurde von einem Augenzeugen – David Gessner – dokumentiert. Die Flugschrift ist eingefügt in einen handschriftlichen Kontext, der die Authentizität der dargestellten Ereignisse nochmals unterstreicht, indem betont wird, dass alles warhafft, dann er [es] selbs zu Krembs gesehen, sei.Zu Krembs auch in der statte
durch die statt maur so hoch:
das wasser gemacht hatte
ein gross einbrochen loch.
Und hat vber die massen
sehr grossen schaden thon
erfuelt keller vnd strassen
abgefuert auss den gassen
was an dem weg thet ston.
Das Unwetter braute sich im Umkreis von zwei Meilen um Krems zusammen, wo auch erste Opfer zu beklagen waren. Neben Eselstein und Hadersdorf waren Furth/Göttweig und Herzogenburg von den Regengüssen betroffen. Die Massivität des Wolkenbruchs und seine Konsequenzen werden im Bericht anhand unterschiedlicher Schauplätze und Beispiele angesprochen: verwüstete Weingärten, zerstörte Wagenladungen an Getreide und Wein, ertrunkene Menschen, weggeschwemmte Häuser. Visuelle Darstellungen verleihen dem katastrophalen Charakter des Ereignisses besonderen Ausdruck.
Deutlich wird das Energie-Potenzial von Wasser in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt. Durch seine Masse reißt der durch den Gewitterguss verursachte Wasserstrom alles mit, was sich in den Gassen und auf den Wegen befindet: Viel heuser seind versuncken / viel menschen auch vorauss: Ubergaehling ertruncken […] seind ellend wegkh geschwummen / durch des wassers gewalt. Die Dynamik der Fließkraft durchbrach die Stadtmauer und hinterließ ein Loch: Zu Krembs auch in der statte / durch die statt maur so hoch: das wasser gemacht hatte / ein gross einbrochen loch.Damit bedient sich dieses Flugblatt einer Sammlung an Versatzstücken, Motive, wie etwa die in den Fluten schwimmenden Menschen, Tiere und Hausrat, die von den Fluten weggeschwemmt werden. Dennoch beinhaltet die grafische Darstellung des Flusses im Klagelied eine interessante Komponente: Die Wassermassen scheinen durch das Stadttor heraus in die Donau zu fließen und Häuser, Fässer, Tiere und Menschen mit sich zu reißen. Ob damit eine Überschwemmung des von Norden in die Donau mündenden Alauntalbach durch den Wolkenbruch angedeutet wurde, lässt sich aufgrund der Genrehaftigkeit der Darstellung nicht nachvollziehen. Die archäologischen Grabungen im räumlichen Umfeld des heute verlandeten Alauntalbaches haben jedoch von größeren Wassermassen angehäufte Schwemmkegel zutage gebracht.
Einer Überlegung wert erscheint in diesem Zusammenhang auch die Frage, in welchen Zeiträumen das oben bereits angesprochene Fassziehen aus den Kellern erfolgen konnte. Angesichts von sich rasch aufbauenden Gewitterzellen und Starkregenereignissen erscheint dies ein aussichtsloses Unterfangen; die in der grafischen Darstellung zum Gedicht in der Donau schwimmenden Fässer mögen dieser Annahme Nahrung geben. Doch kann auch mit der Beobachtung von sich langsamer aufbauendem Donauhochwasser gerechnet werden? Für die oberösterreichische Stadt Wels scheint es dafür Hinweise zu geben: Dort wurde angesichts hoher Wassermassen nach der beginnenden Schneeschmelze ein Brückenjoch für die Flussabwärtsfahrt angehoben. Deutliche Vorkehrungen für eine rechtzeitige Warnkette finden sich jedenfalls im Baumeisterbuch des Nürnberger Stadtbaumeisters (15. Jh.). Um die Weihnachtszeit wurden dort die weiter flussaufwärts gelegenen Gemeinden Lauf und Hersbruck an der Pegnitz durch Boten wöchentlich kontaktiert, um den aktuellen Stand des Wasserlaufs in Erfahrung zu bringen. Dem Nürnberger Stadtrat war diese Frage derart wichtig, dass die Kosten für die Botenlöhne – seien es reitende Boten oder jene, die zu Fuß unterwegs waren – in jedem Fall übernommen wurden. Kam schließlich eine entsprechende Information, so wurde eine Kette an Abläufen in Gang gesetzt, um einen möglichst reibungslosen Durchfluss der Pegnitz durch die Stadt zu gewährleisten. Die Müllner wurden instruiert, Gegenstände entlang des Flusslaufes zu entfernen und das Mühlgatter zu öffnen; der Stadtbaumeister hatte eigenhändig dafür zu sorgen, dass die Ufer frei von Baumaterialien gehalten wurden, die mitgerissen werden, sich an den Brücken verkeilen und diese beschädigen konnten. Auf den Brücken wurden Wachen stationiert, die eine Beschädigung der Brückenjoche durch herannahende Eisschollen und Schwemmgut verhindern sollten. Das dafür notwendige Gerät – Hacken, Eisschaufeln, Seile und Fackeln − lag an ausgewiesenen Stellen, meist an den Brückenköpfen, bereit. Für die Situation in Krems des Jahres 1573 sind lediglich die Folgen eines Eisstoßes dokumentiert. In einem Schreiben des Stadtrates an den Stadtherrn Kaiser Maximilian II. (1564−1576) baten die Vertreter der Gemeinde um finanzielle Hilfe und Steuernachlass. Um den Bitten Nachdruck zu verleihen, erfolgte eine ausführliche Schilderung des Ablaufs. Neben den weit über die Stadtmauer und -türme aufragenden Eismassen waren es auch hier die anschwellenden Wassermassen, die verheerende Folgen mit sich brachten. Immer wieder wurde betont, dass vor allem die Mauern der Häuser und der Befestigungsanlage durch das Wasser aufgeweicht wurden und – ähnlich wie im oben angeführten Klagelied – keinem Druck mehr Stand zu halten vermochten.
Fazit
Dass der Umgang mit Wasser zentral für mittelalterlicher Städte ist, wurde bereits hinlänglich in der Forschungsliteratur festgestellt. Die systematische Zugänglichkeit und Bereitstellung von Wasser, die Entsorgung von Schmutzwasser, die Formulierung von Schutzmaßnahmen und Reinigungsvorschriften etc. oblagen der Aufsicht der städtischen Verwaltungsorgane und führten zu Aushandlungsprozessen über Verantwortlichkeiten, Kompetenzen und Zuständigkeiten zwischen den beteiligten Akteuren, die schließlich in schriftlichen Dokumenten Niederschlag fanden. Deren Entstehungszusammenhänge unterlagen Anforderungen, die den zeitgenössischen Umständen geschuldet waren und hatten meist nicht den Anspruch, alle denkbaren Aspekte eines Materials zu dokumentieren. So können Quellen in der ausdrücklichen Absicht entstanden sein Normen zu setzen, zu legitimieren und durchzusetzen, um Handlungsroutinen oder Arrangements in einer bestimmten Form zu strukturieren. Sie zielen darauf ab Mängel zu identifizieren oder problematisieren die Differenz zwischen den beobachteten Vorgängen und den normativen Vorstellungen.
Der vorgeschlagene Zugang der Aspektivierung ermöglicht eine Strukturierung dieser in der schriftlichen Überlieferung abgebildeten Handlungen und Praktiken, die im Zusammenhang mit einzelnen Aspekten von Wasser stehen. Dies wurde am Beispiel des Materialverhaltens ‚Fließen‘ an einigen ausgewählten Beispielen zu vermitteln versucht. Während die Bereitstellung von Fließwasser für die Haltbarkeit von frischem Fisch, zur Versorgung der städtischen Bewohner*innen mit Wasser oder zur Entsorgung von Schmutz und Unrat meist indirekt auf das Materialverhalten Bezug nimmt, wird dessen Verhalten in erzählenden und beschreibenden Texten – und dazu gehören auch Urkunden und normative Texte mit ihren narrativen Anteilen – vermehrt thematisiert. Damit wird ein Zugang ermöglicht, der Wasser nicht nur als allgegenwärtige und unverzichtbare Ressource oder Bedrohung beschreibbar macht, sondern verdeutlicht, welche Strategien im Umgang mit dem Materialverhalten ‚Fließen‘ in unterschiedlichen Kontexten entwickelt, welche davon routiniert und im Rahmen von Normierungs- oder Sinngebungsprozessen verarbeitet werden.
Aspektivierung erfolgt dabei auf mehreren Ebenen: im Umgang mit Wasser, in der Verschriftlichung dieses Umgangs und dessen Folgen, und schließlich in der Etablierung von Praktiken, die den Umgang mit fließendem Wasser organisieren und strukturieren.
Auf allen Ebenen werden jeweils andere Wasser innewohnende Aspekte ausgeblendet, nicht wahrgenommen oder hervorgehoben. So aspektiviert beispielsweise der Verfasser des Klagelieds nicht die kühlende Eigenschaft von Wasser – oder, vielleicht naheliegender, die Aussicht auf feuchtigkeitsspendenden Regen ankündigende Wolkenfront. Auch die Klosterherrschaft hat im Moment der Zerstörung seiner Weingärten durch Überschwemmung nicht die Vorteile von fließendem Wasser für den Transport von Wein oder die heilbringende Wirkung von Weihwasser im Blick. Das Hauptaugenmerk liegt in allen genannten Fällen auf jeweils spezifischen Aspekten von Wasser, welche konkrete Reaktionen provozieren, die wiederum schriftlichen Niederschlag gefunden haben. Darauf wird reagiert, Handlungen werden systematisiert und gehen bei Bedarf als Praxis in das allgemeine Verständnis zum Umgang mit Wasser über. Die daraus entstandenen Texte, Stadtordnungen, Ansuchen oder Verordnungen reflektieren und diskursivieren diese Aspektivierungen in Form von Normierungen, Handlungsanweisungen oder Problemstellungen, ohne jedoch das Material in seiner Gesamtheit im Blick zu haben.
Aspektivierung findet schließlich auch als Form der Quellenkritik statt. Ob Texte etwas über das Materialverhalten von Wasser aussagen, hängt immer auch von deren Intention ab. Wenn das Ersuchen um finanzielle Unterstützung – wie etwa im Bittschreiben der Kremser Bürger*innen – auf die Dringlichkeit des Bedarfs abzielen soll, stellen drastische Sprachbilder zur zerstörerischen Gewalt von fließendem Wasser ein probates Mittel der Überzeugung dar. Es zielt darauf ab, zeitgenössisches Wissen um Wasser zu aktivieren. Die Erschließung dieses Wissens wiederum bleibt den Betrachtenden überlassen.