Eine Einleitung
Abstract
Kein anderer kreativer Gestaltungsprozess steht der biblischen „creatio ex nihilo“ näher als das Formen mittels amorpher Materialien wie beispielsweise Ton, Wachs, Pappmaché oder Teig. Die Ausgabe geht anhand ausgewählter Materialien und Herstellungsverfahren der Frage nach, inwieweit das aus dem Umgang mit den konkreten Materialien generierte Wissen kulturstiftend wirkte: Wie wurden die mit amorphen Materialien verbundenen Herstellungsprozesse wie Freihandformung, Gießen, Modeln oder Prägen symbolisch ausgedeutet? Wie floss diese Ausdeutung wieder in den kreativen Schaffensprozess ein? Dieser vielfältige und höchst produktive Rückkoppelungseffekt wird aus der Perspektive unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen beleuchtet.
Abstract (englisch)
No other process of creative labour stands closer to the biblical “creatio ex nihilo” than the shaping of amorphous materials such as clay, wax, papier maché or dough. This paper serves as an introduction to MEMO 6 and, by focussing on selected materials and manufacturing techniques, will trace the knowledge produced in the course of human-material-interaction and its generative impact on culture, especially keeping in mind the level of abstract ideas and concepts. How did those manufacturing techniques that were connected with amorphous materials in particular – like free-style modelling, casting, moulding or embossing – undergo symbolic interpretation? And how did the symbolic knowledge coming from such interpretive practices then re-enter the creative processes? We will look at this multifaceted and highly productive reciprocal effect from the perspective of materials, objects, techniques and examples from literary texts.
Inhaltsverzeichnis
Bereits in einem sehr frühen Stadium ihrer Entwicklung begannen Menschen, auf kreative Weise mit ihrer materiellen Umwelt zu interagieren und aus zunächst formlosen – oder zumindest formlos erscheinenden – Materialien bewusst geformte Objekte zu erschaffen. Der formende Umgang mit Materialien ist, so könnte man plakativ feststellen, so alt wie menschliche Kultur selbst; er ist zugleich Kultur begründend wie auch Ausdruck von Kultur. Die Frage, wie Materialien im konkreten (historischen) Umgang mit ihnen menschliches Denken und Verhalten bis hin zu Welt-Anschauungen beeinflussen und mitprägen, steht bereits seit geraumer Zeit im Fokus der Forschung am Institut für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (IMAREAL) in Krems an der Donau. Die Forschungsperspektive Material(i)ties beleuchtet materielle Kultur nicht, wie sonst üblich, primär über (fertige) Objekte, sondern über die Materialien, aus denen diese materiellen Objekte bestehen und die somit die Grundlage materieller Kultur bilden. Die Bandbreite der dabei behandelten Aspekte reicht von den verschiedenen Ebenen des Materialwissens (intrinsisch versus medialisiert, empirisch versus diskursiviert) bis hin zu den vielfältigen Formen der Metaphorisierung von Materialien und deren Eigenschaften in spezifischen (etwa christlich-religiösen, künstlerischen, literarischen) Kontexten. Die vorliegende Ausgabe von MEMO fokussiert, wie bereits der Titel Shaping Matter(s) impliziert, auf Materialien, deren zentrale Eigenschaft die plastische Formbarkeit ist und deren Rohzustand als per se formlos wahrgenommen wird. Einhergehend mit dieser scheinbaren Formlosigkeit, Weichheit und Willfährigkeit ist ihnen oft, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, ein spezifischer Angebotscharakter für ein breites Spektrum kultureller Praktiken und künstlerischer wie religiöser Reflexionen zu eigen. Solche Handlungsangebote, die von der materiellen Umwelt an den Menschen gerichtet sind, beziehungsweise überhaupt die prinzipielle Fähigkeit der materiellen Welt, handlungsfähige Subjekte zu bestimmten Handlungen aufzufordern, kann als Affordanz bezeichnet werden. Weiche, formbare Materialien wie Wachs oder Ton laden dazu ein, ihnen eine Form zu geben, oder fordern in anderen Zusammenhängen vielleicht sogar dazu auf. Sie tun dies offenbar auf eine direktere und eindringlichere Weise als beispielsweise Marmor, der durch seine Härte schwieriger zu bearbeiten ist, oder Metall, das für ein umfassendes in Form Bringen zunächst einmal flüssig gemacht werden muss. Ein wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang ist der unmittelbare sensorische Kontakt, der mit Materialien wie Ton, Wachs oder auch Teig möglich ist: Es ist prinzipiell möglich, diese Materialien mit den Händen und ohne weitere Hilfsmittel oder Werkzeuge zu formen. Diese direkte Interaktion mit dem Material hat wiederum weitreichende Auswirkungen auf dessen symbolische und spirituelle Aufladung und die Art, wie historische Individuen seine Teilhabe am Kulturbildungsprozess imaginierten.
Ex nihilo? Formen als schöpferischer Gestaltgebungsprozess
Grundsätzlich lassen sich zwei formgebende Gestaltungstechniken unterscheiden, die sich gut mit kunstbezogener Terminologie beschreiben lassen, auch wenn die Vorgehensweise dieselbe wie bei handwerklicher Tätigkeit ist: Während bei der skulpturalen Herstellung Material vom Formkörper durch Meißeln, Schnitzen, Gravieren etc. abgetragen wird, entstehen Plastiken im engeren Wortsinn durch Formgebungsprozesse an zuvor amorphen Substanzen – sei es durch freihändiges Arbeiten, das Abformen mittels Modeln oder durch Abgüsse.Deborah Krohn in dieser Ausgabe).
Dabei gab und gibt es eine große Anzahl an kombinierten Verfahren, beispielsweise bei Siegeln, welche zunächst händisch geformt und dann mithilfe eines entsprechenden Werkzeuges geprägt werden. Problematisch und fallweise entsprechend weiter zu fassen ist hierbei der Begriff „amorph“, sind doch die Ausgangsmaterialien zumeist nicht im engsten Sinne formlos, sondern erscheinen vielmehr nur durch ihre Weichheit und Elastizität so. In der Physik und Chemie bezeichnet der Begriff „amorph“ das Gegenteil von „kristallin“ und beschreibt (Fest-)Stoffe, deren Atome nicht in geordneten Strukturen vorliegen. Dem gegenüber steht der alltagssprachliche Gebrauch des Begriffs in der Bedeutung „ungeformt, gestaltlos“. Materialien wie Ton oder Wachs erscheinen in ihrer Eigenschaft als Rohstoffe zumeist in Form von Klumpen oder Platten, ebenso wie Teige. Einen Sonderfall bilden Textilien wie etwa Servietten, die aus einer zwar als wenig geformt wahrgenommenen, aber dennoch bereits fixierten Ausgangsgestalt heraus durch extremes Stärken, Bügeln und Falten beliebig oft wiederholbar zu dreidimensionalen Objekten geformt und danach wieder in ihre Ausgangsgestalt zurückversetzt werden können (siehe dazu das Interview mitAufgrund der spärlichen Überlieferung aus der menschlichen Frühzeit ist unser Wissen in Bezug auf die historische Entwicklung der beiden wichtigsten Gestaltgebungstechniken eingeschränkt; daher gelten aktuell plastische Verfahren als die jüngeren Formgebungstechniken, obwohl ihnen das bereits sehr früh bezeugte Sammeln fossiler Abdrücke sowie das Nachahmen von Tierspuren im Höhlenlehm durch Gravur oder Abdruck schon sehr nahe steht beziehungsweise bereits ein Interesse an diesem Phänomen erkennen lässt. Die ältesten erhaltenen Keramikplastiken aus mährischen Fundorten sowie aus Krems an der Donau sind 24.000 bis 29.000 Jahre alt; etwas jüngere Funde sind mittlerweile auch aus dem mediterranen Raum bekannt. Auch hier gilt, dass das Formen von Lehm bzw. Ton sowie das Festigen desselben durch Trocknen und Brennen nicht nur für künstlerische Zwecke, sondern im Vorderen Orient bereits seit der Jungsteinzeit auch beim Bauen Anwendung fand.
Im Lauf der vorchristlichen Jahrtausende wurde das plastische Formen auf viele weitere Materialien ausgedehnt. Dabei stellt der Metallguss eine besondere technologische Leistung dar, wurde doch die Affordanz des während des Verhüttungsprozess (zäh-)flüssigen Metalls für die Produktion von Objekten in Modeln ebenso frühzeitig erkannt wie die Möglichkeiten, die das erkaltete, dünn ausgewalzte Metall bot – beispielsweise für die Abformung menschlicher Gesichter mittels dünner Goldfolien. Die literarische Reflexion der Formgebung aus amorphen Materialien findet sich dementsprechend in den frühesten überlieferten Schriftquellen des Vorderen Orients, und am wirkmächtigsten wohl in der 2. Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments, als Gott den Menschen aus dem Erdboden (limus terrae nach der Vulgata) formt. (Abb. 1)
Dass es sich dabei wohl um ein im Mediterraneum breiter vermitteltes Narrativ handelt, lässt sich durch eine ähnliche Beschreibung in Ovids Metamorphosen erschließen.
Darin lässt sich das Faszinosum erahnen, das für Menschen im Gestaltungsprozess aus amorphen Materialien bestand und entsprechend früh zur metaphorischen Übertragung herangezogen wurde. Im Buch Jeremiah (18,3-6) wird dieser Schöpfungsakt aus Lehm wieder aufgegriffen, hier allerdings in Form der Mahnung Gottes an das Volk Israel durch die Metapher eines „Ausschussproduktes“, das von Gott als Töpfer wieder verworfen wird (Abb. 2):Surge, et descende in domum figuli, et ibi audies verba mea.
Et descendi in domum figuli, et ecce ipse faciebat opus super rotam.
Et dissipatum est vas, quod ipse faciebat e luto manibus suis: conversusque fecit illud vas alterum, sicut placuerat in oculis ejus ut faceret.
Et factum est verbum Domini ad me, dicens:
Numquid sicut figulus iste, non potero vobis facere, domus Israel, ait Dominus? Ecce sicut lutum in manu figuli, sic vos in manu mea, domus Israel.
„Mach dich auf und geh zum Haus des Töpfers hinab! Dort will ich dir meine Worte mitteilen.
So ging ich zum Haus des Töpfers hinab. Er arbeitete gerade mit der Töpferscheibe.
Missriet das Gefäß, das er in Arbeit hatte, wie es beim Ton in der Hand des Töpfers vorkommen kann, so machte der Töpfer daraus wieder ein anderes Gefäß, ganz wie es ihm gefiel.
Da erging an mich das Wort des Herrn:
Kann ich nicht mit euch verfahren wie dieser Töpfer, Haus Israel? – Spruch des Herrn. Seht, wie der Ton in der Hand des Töpfers, so seid ihr in meiner Hand, Haus Israel.“
Das Verwerfen und Neu-Schöpfen fehlerhafter Töpferware im Buch Jeremiah wird in der deutschsprachigen Predigt Aber von dem Advent des sogenannten Priesters Konrad aus dem 14. Jahrhundert wieder aufgegriffen und als konkretisierender Vergleich für den Neuen Bund Gottes mit den Menschen durch die Menschwerdung Christi herangezogen. Dabei wird beinahe die gesamte ‚chaîne operatoire‘ der Töpferarbeit religiös ausgedeutet:
Da saz der havenære ob sime werche unde hete æin vil schonez vaz al nach sime willen uf siner schiben gedræt. Daz vaz zerviel unde zerais dem havenære en allen gahes under den handen, e erz bi dem viwer vol bestætiget. Da graif er sambalde dar widere unde nam im des selben horwes unde scuof im aun ander vas unde bestætiget do daz bi dem viwere al nach sime willen. […] da hat er sich uber in erbarmet unser herre, unser scephære, daz elliu sin hantketat verlorn sollte sin von aines mannes sunden, unde hat er nu hine widere gegrifen, der unser havenær, der unser scephære, unde hat von dem selben horwe
, von der selben materie, mit sinen gotlichen henden ain ander vaz unde ain niwez vaz ze sime lobe unde zuo sinen eren gescafen, wan daz ist von der wirme unde von dem fiwere wol bestætiget unde wol vol chomen nach allem sime willen. daz ander vaz unde daz niwe vaz, daz er nu gescafen hat, unser scephære, daz ist unser herre, der heilige Christus, wan der ist daz here unde daz liebe vaz […]“Da saß der Hafner bei seinem Werk und hatte ein sehr schönes Gefäß auf seiner Scheibe getöpfert. Das Gefäß zerfiel und zersprang dem Hafner ganz plötzlich unter den Händen, noch bevor er es im Feuer härtete. Da griff er sogleich wieder hin und nahm vom selben Ton und schuf ein neues Gefäß und härtete es im Feuer, ganz nach seinem Willen. […] Er erbarmte sich dessen, unser Herr, unser Schöpfer, und wollte nicht, dass das ganze Werk seiner Hände verloren sein sollte wegen eines einzigen Mannes Sünden, und so griff er nun wieder hin, unser Töpfer, unser Schöpfer, und schuf aus demselben Schmutz, aus demselben Material mit seinen göttlichen Händen ein anderes, neues Gefäß zu seinem Lob und seinen Ehren; denn dieses ist von der Wärme und dem Feuer gut gehärtet und ganz vollkommen nach seinem Willen. Das andere, neue Gefäß, das unser Schöpfer nun geschaffen hat, das ist unser Herr, der heilige Christus, denn er ist das erhabene und das geliebte Gefäß […]“
In der Fleischwerdung Christi wird von Konrad auch nochmals der doppelte Schöpfungsakt des Menschen – mit einem irdischen Leib aus Schmutz (von demselben horwe) und einer nach göttlichem Vorbild gemachten Seele – verdeutlicht: Während das hor / der Schmutz für die Vergänglichkeit alles Irdischen steht, wird allein die Seele „nach göttlicher Natur“ Bestand haben. Somit ist die Abbildhaftigkeit Gottes in den Menschen nach Priester Konrad nur auf immaterieller Ebene angelegt, worauf noch zurückzukommen sein wird:
die versmachait unde den itiwîz den hat er uns wol gesenftet, wan er ist selbe her zuo zuns chomen unde hat im selbem uz dem selben horwe da er uns uoz gescafen hat flaisk unde pain unde ware mennislich nature genomen. da zuo so hat im allez gevestent unde gesterchet diu wirme unde daz fiwer. diu wirme unde daz fiwer daz in dar zuo hat gesterchet daz ist diu heilige gotes minne, diu heilige gotes erbarmunge, diu in vil lieben herren des betwungen hat, daz er siner armen hantketat ze helfe chomen ist. wan swie er uns den lip gescafen hete von dem horwe, idoch so heter uns die sele gescafen nach siner heren gotlichen nature.
„Die Schmach und den Tadel hat er für uns gemildert, indem er selbst zu uns kam und sich selbst aus derselben Erde, aus der er auch uns geschaffen hat, Fleisch und Knochen und wahre menschliche Natur nahm. Gefestigt und gestärkt hat ihm all dies die Wärme und das Feuer. Die Wärme und das Feuer, das ihn darin bestärkt hat, das ist die heilige Liebe Gottes, die heilige Barmherzigkeit Gottes, die unseren lieben Herrn dazu gebracht hat, dass er seinem armen Werkstück [i.e. dem Menschen] zur Hilfe kam. Denn auch wenn er uns den Leib aus Erde geschaffen hat, so hat er uns doch die Seele nach seiner erhabenen göttlichen Natur geschaffen.“
Der Mensch als Produkt des göttlichen Formgebungsprozesses wird als hantketat – als Manufakt, als von Hand Gemachtes – bezeichnet, das allerdings auch nach seiner Fertigstellung noch der liebevollen Zuwendung seines Machers bedarf. Die Wärme und das Feuer haben nicht nur den Lehm gehärtet und somit das Produkt veredelt, sondern in Form von göttlicher Liebe und Erbarmen auch Gott selbst ganz im Wortsinne „dafür erwärmt“, den Menschen weiter zu verbessern und zu veredeln – nämlich durch Zugabe einer göttlichen Seele und letztlich durch die Menschwerdung Christi.
Wenn ein Töpfer aber Fehlprodukte erzeugen kann, so lässt sich aus dieser Metapher auch indirekt auf die Individualität im Schöpfungsakt schließen. Dies wird in der oben zitierten Predigt ausgeführt und explizit wieder aufgegriffen in Sebastian Brants „Narrenschiff“ von 1494, wo die Vielfalt an keramischen Gefäßen mit den individuellen Schöpfungsakten Gottes analog gesetzt und als sichtbares Zeichen für die gottgegebene Ordnung gedeutet wird:
Eyn hafner vß eym erdklotz macht
Eyn erlich gschyrr / sunst vil veracht
Als kachlen / hæfen / wasserkrüg
Do man jn / boeß / vnd guottes tüg
Die kachel spricht nit wyder jn
Ich solt eyn kruog / eyn hafen syn
Gott weiß (dem es alleyn zuo stat)
War vmb er all ding geordnet hat/[…]
„Ein Hafner aus dem Erdkloß macht
Geschirr, wie er sich hat erdacht,
Formt Kacheln, Häfen, Wasserkrüge,
Damit es jedem Wunsch genüge,
Die Kachel spricht ihm nicht darein:
»Ich sollt’ ein Krug, ein Hafen sein!«
Gott weiß, dem es allein zukommt,
Wie jedes Ding dem Menschen frommt, […]
In der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen deutschsprachigen Literatur finden sich immer wieder Beispiele für eine Gleichsetzung der Erschaffung des Menschen mit einer Töpferarbeit, beziehungsweise mit dem Freihandformen aus Lehm/Erde. Die religiöse Ausdeutung plastischer Formprozesse bleibt aber insgesamt nicht auf Ton beschränkt. Eine besondere Form der Reflexion von plastischen Herstellungsprozessen ex nihilo liegt im sogenannten „Guss in der verlorenen Form“ vor: Bei diesem Verfahren wird, vereinfacht ausgedrückt, das Objekt zunächst in Wachs gestaltet und mit Ton/Lehm ummantelt. Durch Erhitzen wird dabei einerseits der Mantel – das Formnegativ – ausgehärtet, andererseits das Wachs verflüssigt, es geht „verloren“. Zurück bleibt der Hohlraum in der Gussform, der im nächsten Schritt nun in der Regel mit flüssigem Metall wie Gold, Silber oder Kupferlegierungen aufgefüllt wird. Nach Entfernen des Mantels bleibt das Positiv in Metall übrig, das zuletzt eine finale Überarbeitung erfährt. Die primäre Wachsplastik wird also durch einen Metallkörper gleicher Gestalt ersetzt und damit der Schöpfungsakt ex nihilo quasi verdoppelt: Durch die Schaffung des Primärobjekts aus amorphem Wachs und durch dessen metallenes Substitut bei gleichzeitigem Verlust des Primärkörpers. Genau dieser Vorgang wird auf einer Inschrift auf zwei Türziehern mit Löwenkopf vom Trierer Dom thematisiert, wo die Umschrift auf einem der beiden Objekte lautet: QUOD FORE CERA DIDIT TULIT IGNIS ET ES TIBI REDDIT („was werden sollte, gab das Wachs, das Feuer nahm es fort, das Erz gab es zurück“). (Abb. 3)
An der Domtür angebracht, bezieht sich diese Inschrift und somit auch die Technologie einmal mehr auf Gott, der in Christus unser vergängliches Leben (Wachs) durch das Feuer des Sühnetodes mit ewigem Leben „ersetzt“.
Darüber hinaus verweist das Beispiel auf die unter dem Konzept der Intermaterialität fassbaren komplexen Beziehungen von Materialien und ihren Eigenschaften zu einander, sei es, wie hier, in der direkten Materialkombination als technische Notwendigkeit in der Operationskette der Produktion, oder, wie im Folgenden ausgeführt, um spezifische neue Materialien mit entsprechenden Qualitäten zu generieren.Amalgam und Transmutation: Zur Stofflichkeit von formbaren Materialien
Eine der kulturprägendsten Potenziale von amorphen Stoffen ist, dass sie mit anderen vermengt werden können. Am offensichtlichsten ist dies bei Flüssigkeiten, aber in Verbindung mit Herstellungsprozessen, die aus plastischen Stoffmischungen durch Aushärten – meist unter Wärmeeinwirkung – Feststoffe produzieren, entstehen neue Materialien – Kunst-Stoffe im weiteren Sinn der Wortbedeutung. Ebenso wichtig ist, dass diese Prozesse in manchen Fällen, wie bei Metalllegierungen, reversibel sind, in vielen anderen jedoch nicht. Die Transmutation – die Stoffumwandlung im alchemistischen Sprachjargon – ist somit eine vollständige.
Im engeren Sinne wird heute darin nur die Umwandlung von chemischen Elementen bei radioaktiven Prozessen verstanden, diese Definition ist aber auf vormoderne Kulturen aufgrund eines anderen Verständnisses von ‚Element‘ und ‚Stoff‘ nicht 1:1 übertragbar.Der historisch wie aktuell geläufigste, mutmaßlich älteste und in seiner Wirkung wohl am meisten unterschätzte Prozess mit formbaren Materialien ist die Nahrungszubereitung, vor allem das Kochen und Backen. Selten werden dabei Stoffe in „Reinform“ verarbeitet, sondern Materialmischungen stellen geradezu ein zentrales Merkmal aller Rezepte dar. Es verwundert daher auch nicht, dass in vielen Sprachen Vokabular der Nahrungszubereitung auf andere Lebens- und Produktionsbereiche übertragen wurde, wie beispielsweise in der deutschen Sprache der Begriff der „Kannenbäcker“ oder „Tonpfeifenbäcker“ für spezifisches Töpfergewerbe, oder aber das Bild vom Backvorgang im Ofen als Sprachbild für die Schwangerschaft. Selbst ein auf den ersten Blick so simples Verfahren wie die im Beitrag von Hubert Feiglstorfer u.a. in der vorliegenden MEMO-Ausgabe vorgestellte Lehmziegelproduktion benötigt schon bei der Homogenisierung des Ausgangsmaterials bisweilen verschiedene Lehme, von der Magerung mit nicht-plastischen Materialien und der Beifügung von Wasser ganz zu schweigen.
Über Jahrtausende bildete für all diese Verfahren die Elementelehre ein taugliches Mittel zur Beschreibung und Erklärung der entsprechenden Prozesse sowie auch zur Weitergabe des damit verbundenen Materialwissens.
So konnte beispielsweise in der Metallurgie mit den Wechselwirkungen der vier Elemente ‚Erde‘, ‚Feuer‘, ‚Wasser‘ und ‚Luft‘ nicht nur die Scheidung von Stoffen zur Gewinnung von Metallen und zur Herstellung von Legierungen erklärt, sondern mit Sinneseindrücken, wie Farbigkeit des Feuers im Rennofen oder der Legierung des Endprodukts intersubjektiv beschrieben und memoriert werden. Dieses durch Empirie gewonnene intrinsische Wissen wird beispielsweise mit modernen materialanalytischen Methoden und experimenteller Archäologie verfahrenstechnisch nachvollzogen, oftmals fehlt es aber noch an der Übersetzung der daraus gewonnenen Daten in ein plausibles Modell vormoderner Speicherung von Materialwissen. Sprachlich überliefert findet sich Materialwissen vor allem in antiker und mittelalterlicher Gelehrtenliteratur, wobei hier Vorsicht bei der Unterscheidung eines von älteren Autoren übernommenen „Wissens“ im Gegensatz zu empirischem Know-How angebracht ist. Immerhin reicht hier jedoch das Spektrum von metallurgischer Literatur, wie der Schedula diversarum artium des Theophilus Presbyter bis hin zu einer großen Bandbreite an diätetischer Literatur mit Kochrezepten. Grundsätzlich findet sich aber nur wenig zu den weniger prestigeträchtigen Materialien am ‚unteren Ende der Bewertungshierarchie‘ wie Lehm/Ton, Wachs, Gips oder Pappmaché; allenfalls werden sie am Rande erwähnt, wenn sie, wie am Beispiel des „Gusses in der verlorenen Form“ ausgeführt, für die Operationskette von Relevanz sind.Die Fähigkeit, als höherwertig angesehene Materialien, insbesondere Metalle, durch Verhüttung aus Erz zu gewinnen bzw. durch Raffinationsprozesse und Legierungen veredeln zu können, wurde in vielen Gesellschaften in die Nähe der Magie gerückt. Umgekehrt erklärt dies neben ökonomischen Motiven oder wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen, warum Herrscher sich vor allem in der Frühen Neuzeit gerne mit Alchemisten umgaben bzw. sich selbst als Alchemisten inszenierten.
Eine mögliche ältere Wurzel dieser Form von social display ist die Paarung „Fürst/König“ und „Schmied“, wie sie beispielsweise in der Wielandsage zum Motiv wurde – mit Vorbildern in der Vita Sancti Severini – und wie sie aus archäologischer Sicht in elitären frühmittelalterlichen Grablegen mit Schmiedegerät als Beigaben möglicherweise ihren materiellen Ausdruck im Bestattungsritus fand.In diesen Zusammenhang passt auch ein dritter Aspekt der Transmutation: Die Tatsache, dass dieser Begriff in der alchemistischen Literatur auch als philosophisches Modell der moralischen Selbstveredelung verwendet wird,
verweist auf ein bislang weniger untersuchtes Forschungsfeld, nämlich die metaphorische Einbettung von Materialien und deren Verarbeitung in religiösen Texten. Das bereits weiter oben genannte „Uramalgam“ ist nach dem 2. Schöpfungsbericht der Mensch selbst, denn Gott schuf ihn nicht nur aus dem limus terrae, sondern, wie im Vers davor zum Ausdruck kommt, wurde der Erdboden zunächst durch Feuchtigkeit getränkt: ed fons ascendebat e terra inrigans universam superficiem terrae (Genesis 2,6 nach der Vulgata). Erst die Kombination aus Wasser und Erde schafft formbaren Lehm, das wusste der Schreiber des Schöpfungsberichts.Es entspräche aber nicht dem mittelalterlichen Denken, wären die beiden hier diskutierten Phänomene nicht ambivalent diskursiviert: Im Fall der (alchemistischen) Transmutation war es die Nähe zur christlichen Transsubstantiationslehre – dem göttlichen Gnadenakt der Verwandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi unter Beibehaltung der physischen Substanz des Ausgangsmaterials während des Gottesdienstes –, die erstere aus theologischer Sicht als Selbsterlösungskonzept zur Häresie machte. Die Potenz der Amalgamierung von plastischen Stoffen eröffnete wiederum die Möglichkeit, Materialien durch minderwertige Beimengungen zu verfälschen und somit – wie beispielsweise bei der Münzproduktion – betrügerische Akte zu setzen.
Da Reinheit aber ein zentrales christliches Konzept darstellt nimmt es nicht zu wunder, dass es auch hinsichtlich der Materialität der Hostie in der lateinischen Kirche seit dem 11. Jahrhundert explizite Reinheitsgebote in der Herstellung derselben gibt: Christus kann eben nur in einem in Hinblick auf das Material makellosen Körper re-inkarnieren.Ephemer und dauerhaft: Zentrale Eigenschaften formbarer Materialien im Wechselspiel
Das Formen mit plastischen Materialien hat sich mit mannigfaltigen Bildern der Vergänglichkeit in das kulturelle Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben: Fußspuren im Schnee oder Fußabdrücke im Sand, die am Strand von Wind und Meerwasser getilgt werden, gehören zu den geläufigsten Sujets. Umso mehr berührt es, wenn zufällig fossile Abdrücke von prähistorischen Menschen oder von Tieren früherer Erdzeitalter aufgefunden werden. Es ist das Paradox der Präsenz und gleichzeitigen Abwesenheit derer, die diese Abdrücke hinterlassen haben, welches das Faszinosum ausmacht. Eindrückbare Materialien besitzen darüber hinaus die Affordanz des wiederholten Auslöschens und Überschreibens, welche beispielsweise in der Wachstafel aufgegriffen wird, die durch Einglätten das mehrfache Beschreiben desselben Trägermaterials erlaubt. Die Möglichkeit des Formens, Verwerfens und wieder neu Formens bestimmter Materialien ist auch für die Zurschaustellung höfischer Pracht im Rahmen festlicher Veranstaltungen von zentraler Bedeutung, wenn etwa, wie von Deborah Krohn beschrieben, an renaissancezeitlichen europäischen Höfen Stoffservietten und andere Tischtextilien zu ephemeren Plastiken gestaltet und danach wieder zu zweidimensionalen Objekten reduziert werden. Dennoch dürfte genau diese Vergänglichkeitserfahrung eine Haupttriebfeder für die Entwicklung von ‚Haltbarkeitstechniken‘ gewesen sein, wie sie das Brennen von Ton zu Keramik anschaulich vor Augen führt. Das Gewinnen neuer Eigenschaften geht aber oftmals mit dem ungewollten Erwerb anderer einher: Keramik und Glas sind spröde und können leicht zu Bruch gehen; bei Metallen stellen Elastizität und Härte zwei Gegensätze dar, die zwar durch spezifische Legierungen oder beispielsweise bei Eisen durch Verschweißen von Eisen- und Stahlschichten unterschiedlicher Eigenschaften ‚versöhnt‘ werden können, aber dennoch das Spektrum möglicher Materialverwendungen maßgeblich beeinflussen.
Am Beispiel von Wachs lässt sich dieses Spannungsfeld besonders gut veranschaulichen: ‚Wachs‘ ist nach dem Standardwerk von Reinhard Büll keine Substanz, sondern ein Begriff für eine Gruppe von Stoffen mit ähnlichem Materialverhalten.
Ihre gemeinsamen Eigenschaften sind leichte Verarbeitbarkeit infolge Schmelzens und Erstarrens bei moderaten Temperaturen, ihr Abdichtungsvermögen und ihre chemische Beständigkeit. Hinzu kommen Aspekte wie Klebe- und Kittwirkung, das Potenzial, Farben zu binden, Glanzvermögen, Hydrophobie und Brennbarkeit. Damit umfassen Wachse bitumenartige mineralische Substanzen und Harze bis hin zum klassischen Bienenwachs. Das arabische Wort mumijah für Stoffe mit wachsähnlichen Eigenschaften verweist auf dessen Bedeutung für die Mumifizierung von menschlichen wie tierischen Körpern, ein Verfahren, das selbst bei Bienen für organische Stoffe im Bau, die sie nicht entfernen können, Einsatz findet. Damit ist bereits die enge Verbindung zwischen Wachs(en) und dem (menschlichen) Körper indiziert, wobei der Einsatz derselben an Leichnamen von Erhaltungsmaßnahmen bis hin zu Substituten, beispielsweise bei der Nachmodellierung von Gesichtern, reichte. Von diesen Verwendungsbereichen gab und gibt es einen fließenden Übergang zur Keroplastik, das heißt dem Imitat menschlicher Körper und Körperteile. Diese Technik fand und findet eine breite Anwendung von der Kunst über medizinische Modelle bis hin zu Votivgaben. (Abb. 4 und 5)Umgekehrt kann das Wachsmodell, wie oben ausgeführt, im Verfahren des Gusses in der verlorenen Form selbst substituiert werden. Ohne an dieser Stelle in die Tiefe der Materie eindringen zu können, eignen sich somit die Eigenschaften von Wachsen in Bezug auf den menschlichen Körper, diese Substanzgruppe mit dem Menschen per se metaphorisch in Verbindung zu bringen. So vergleicht der Psalmist in Psalm 22 (21), Vers 15 seinen inneren Zustand der Auflösung mit dem Verflüssigungszustand von Wasser und Wachs: Sicut aqua effusus sum; et dispersa sunt omnia ossa mea. Factum est cor meum tamquam cera liquescens in medio ventris mei.„Ich bin hingeschüttet wie Wasser, / gelöst haben sich all meine Glieder. / Mein Herz ist in meinem Leib wie Wachs zerflossen.“ Beispiele finden sich aber nicht nur im geistlichen Bereich, sondern auch in der weltlichen Literatur des Mittelalters. Albrecht von Eyb empfiehlt Männern in seinem Ehebüchlein, statt einer Witwe lieber eine Jungfrau zur Ehefrau zu nehmen, da diese noch formbar sei wie Wachs. Zweihundert Jahre früher beschreibt Konrad von Würzburg in seinem höfischen Roman Engelhard die zwillingshafte Ähnlichkeit des Protagonisten Engelhard mit dem Jüngling Dietrich mithilfe der Siegeltechnik: Die beiden edlen Jünglinge gleichen einander so, als hätte man zwei Wachsklumpen in ein und das selbe schöne Siegel hineingedrückt. Das im Mittelalter und der Neuzeit gängigste Einsatzgebiet von Wachs – zumindest für schriftkundige Menschen – war tatsächlich das Siegeln. (Abb. 6)
Betrachten wir zunächst hier die Eigenschaften, die Wachs im Vergleich zu anderen Trägermaterialien von Siegeln im Laufe der Geschichte hat, so fällt seine geringe Haltbarkeit im Vergleich zu Blei und Gold auf, wie sie vorrangig von der päpstlichen Kurie für die Erstellung von Bullen, aber auch vereinzelt von anderen Bischöfen und der Kanzlei im Heiligen Römischen Reich verwendet wurde.
Dieser Nachteil wird bei Siegelwachs dadurch ausgeglichen, dass ihm spezielle Tone beigefügt wurden, wodurch es besser aushärten konnte. Die Frage der Haltbarkeit und der Verwendung ist somit weder von den Materialien, noch vom Herstellungsprozess zu trennen. Blicken wir daher im Folgenden auf die Technik des Abformens, um die kulturelle Bedeutung von Wachs in Vergleich zu anderen formbaren Materialien noch etwas besser verstehen zu können.Repräsentation: Strukturelle Objekte aus formbaren Materialien
Eine sehr früh erkannte Eigenschaft von plastischen Materialien, die durch weitere Verarbeitungsprozesse haltbar gemacht werden können, ist, dass sie sich hervorragend als Speichermedien für Informationen eignen. Dies gilt natürlich im Prinzip für jedes Artefakt, da ihm seine Herstellungstechnik und der Umgang mit ihm zumindest implizit eingeschrieben sind, und für jedes Werk der Bildenden Kunst mit seiner spezifischen Codierung umso mehr. Spätestens mit der Entwicklung der Schrift in der mesopotamischen Hochkultur zwischen 3300 und 2700 vor Christus entstand mit der sich entwickelnden Reichsadministration das Bedürfnis, mobile und gleichzeitig haltbare Schriftträger zu entwickeln, wofür sich die Erfahrung mit Keramik anbot. Die Keilschrift war die ideale Technik, in der durch Stempeln Schriftzeichen in den weichen Ton übertragen und durch Brennen dauerhaft haltbar gemacht werden konnten. Über Jahrtausende blieb Keramik ein wesentlicher Faktor für die Informationsübertragung, wenngleich als Schriftträger Papyrus, Pergament und Papier eine nachhaltigere Rolle spielten. Die Möglichkeit der seriellen Produktion durch Model schuf hier aber neue Potenziale, die im Mittelalter vor allem für religiöse Devotionalobjekte, aber auch für die bildliche Ausgestaltung von Ofenkacheln oder Bodenfliesen genutzt wurden. (Abb. 7) Bezeichnenderweise fand ab dem 15. Jahrhundert ein intensiver Austausch zwischen jenen Kunstgewerben statt, die sich in Form von Modeln, Guss- oder Druckverfahren der seriellen Kunstproduktion widmeten, sodass neben der persönlichen Wertschätzung der Gewerbe damit auch das Potenzial des Wissens- und Kulturtransfers mit diesen Massenmedien erkannt wurde. Der Beitrag von Magdalena März zu Terrakotten in der Bauplastik als Marker von Innovation und Kulturtransfer im Machtfeld Habsburg – Valois – Tudor um 1530 in dieser Ausgabe führt exemplarisch das Potenzial vor, das Künstler und ihre elitären Auftraggeber in diesen Form-Steinen im engeren Wortsinn für die Übertragung von Ideen über größere Räume hinweg sahen. Dass dieses Konzept auch im digitalen Zeitalter noch nicht aufgegeben wurde, führt das Projekt „Memory of Mankind“ vor, das zentrale Schriftwerke der Menschheit, auf Keramikplatten eingraviert und im Salzbergwerk von Hallstatt eingelagert, für die nächsten Jahrtausende verfügbar machen möchte.
Das Potenzial vieler plastischer Materialien, durch Modeln oder Prägen mehr oder weniger gestaltidentische Multiple zu produzieren, hat insbesondere in den letzten Jahren die Kulturwissenschaft interessiert und zu entsprechend hohem Publikationsoutput geführt. Dabei lassen sich – sehr vereinfacht – zwei Zielrichtungen in der Forschung verfolgen: Die Rehabilitation des reproduzierbaren bzw. multiplen bildhaften Objekts gegenüber dem singulären Kunstwerk von Seiten der Kunst- und Bildwissenschaften sowie die Frage des Verhältnisses von Präsenz versus Absenz bei Siegeln und siegelartigen Objekten von Seiten der Kulturwissenschaften. Es vermag nicht zu überraschen, dass es zwischen diesen beiden Fachrichtungen keine klaren Grenzen (mehr) gibt, zumal die Frage von „Autorschaft“ und „Autorität“ beide Zugänge miteinander verbindet. Nach Carl Knappet, aufbauend auf Rosalind Knauss, handelt es sich bei Modeln und Abformungen um „structural objects“, die durch ihre identische Gestalt, nicht aber durch ihr gleiches Material, mit einander verbunden sind. Die Paradoxa des Abdrucks hinsichtlich Präsenz und Absenz des ‚Autors‘ wie auch hinsichtlich der Unterscheidung von Unikat – in Form der Matrize oder des Prägestempels – und den multiplen Abformungen wird nach Georges Didi-Huberman durch den Akt der physischen Berührung aufgehoben: Das Wissen um, oder zumindest der Glaube an diesen Autorisierungsakt bildet den immateriellen Link zwischen Sender und Empfänger, und dies gilt gleichermaßen für ein vervielfältigtes Bildwerk oder eine besiegelte Urkunde. Das Bewusstsein über diese Beziehung eignete sich insbesondere für Berührungsreliquien im engeren wie im weiteren Sinne, zu denen auch Pilgerzeichen zu zählen sind. (Abb. 8)
Ihr siegelartiges Aussehen und entsprechende Umschriften verliehen diesen Objekten einen autoritativen Charakter, wenngleich sie nicht als Rechtsobjekte im engeren Sinne anzusprechen sind.
Entscheidender für die Rezipient*innen dürfte in diesem Kontext aber ihr Herstellungsprozess im Abgussverfahren gewesen sein, denn er ermöglichte in Verbindung mit Segens- und eventuellen Berührungsritualen am Pilgerort die Etablierung einer geschlossenen physischen Kontaktbrücke bis zum Körper der Trägerperson. Entsprechend wurde vom Auflegen von Pilgerzeichen auf kranken Körperstellen oder der körperlichen Aufnahme abgeschabter Partikel Heilswirkung erhofft. In umgekehrter Richtung konnte mit der Überbringung von Votivgaben, insbesondere aus Wachs, das körperliche Gebrechen durch Krankheit oder Unfall direkt dem Heiligen ‚auferlegt‘ werden, wie entsprechende Darstellungen von Heiligengräbern und Gnadenkapellen zeigen (siehe auch Abb. 5).Die serielle Produktion von essbaren Kultbildern in Form von gemodelter „Bildbäckerei“ aus Marzipan, Feingebäck oder Lebkuchen bis hin zu Butter und Käse
(Abb. 9) kulminiert in einem besonders signifikanten Beispiel religiöser Autorisierung durch „Besiegelung“: Das Backen der Hostien für die Eucharistie involviert Waffeleisen, welche üblicherweise mit christologischen Motiven und Monogrammen graviert waren, die durch das Backen des Teiges in der Form auf die Hostie übergingen. (Abb. 10) Die Frage von Präsenz und Absenz der – in diesem Fall göttlichen – Autorität wird im Fall der erneuten Inkarnation Christi in der Eucharistie besonders deutlich. (Abb. 11)Dass die Eucharistie tatsächlich als Neubesiegelung
des Bundes zwischen Gott und den Menschen seiner Gnade angesehen wurde (Abb. 12), belegt unter anderem Konrad von Würzburg in seinem Werk Die Goldene Schmiede (zw. 1275 u. 1277), in dem er in zahllosen Sprachbildern die Gottesmutter rühmt. Sie, die gleichzeitig als Urbild der Ecclesia für die Gemeinschaft der Gläubigen steht, wird dabei auch folgendermaßen gepriesen:dû bist ein wârez ingesigel,
dar în nach menschlicher art
diu gotheit gedrücket wart,
und an sich nam ir zeichen.
die siechen und die weichen
kan dîn genâde spîsen.
dû bist ein oblâtîsen
des lebenden himelbrôtes.
Du bist ein wahres Siegel,
in welchem die Göttlichkeit
in menschliche Form eingedrückt wurde
und deren Aussehen annahm.
Die Kranken und die Schwachen
kann deine Gnade speisen.
Du bist ein Oblateneisen
des lebendigen Himmelsbrotes.
Obiges Beispiel könnte die Gemeinsamkeiten von Siegel und Oblate als Medien des Heils kaum eindringlicher vor Augen führen. Das abstrakte Göttliche erfährt seine Formgebung erst durch das Einprägen in weiche Materie – hier die menschliche Körperlichkeit Mariens. Quasi in einem zweiten Schritt erfolgt die Medialisierung: Die Gleichsetzung Mariens mit einem Oblateneisen hebt auf die durch Christus in Gang gesetzte Verbreitung und „Multiplikation“ des Heils ab, das nun vielfach als spirituelle Speise – analog zur körperlichen Speise des Brotes – die Christenheit laben kann.
Nicht nur die Metaphorik von Inkarnation und Eucharistie stützt sich wesentlich auf die Bildspendebereiche des Siegelns und Prägens, sondern auch die Vorstellung der Seele als Substanz, die danach strebt, die Form des Göttlichen anzunehmen um sich letztlich mit dieser zu vereinigen, wie sie in den Schriften der Mystik formuliert wird. Wie bei dem oben beschriebenen Beispiel von Maria als Siegel steht auch im folgenden Text das Wachs als Material im Zentrum; allerdings tritt hierbei seine Fähigkeit der Verflüssigung unter Wärmeeinwirkung in den Vordergrund und akzentuiert so die Eigenschaft seiner Formbarkeit, vor allem aber auch seiner Reformierbarkeit. Der sogenannte Mönch von Heilsbronn, ein Mystiker des frühen 14. Jahrhunderts, beschreibt in seinem Buch der sieben Grade die contemplatio wie folgt:
An disen heiligen plicken
Beginnet sich wider schicken
Di sêl nach got ir pilde;
Dem si waz worden wilde
Und von sunden ungeleich,
Nach dem schicket si wider sich.
Alz swenn von hicze czeflewzzet
Ain wahs, so man es gawzzet
Oder in ain insigel druchet,
Cze hant ez an sich czuchet
Von hiecz und von der waichen
Dez insigels czaichen;
Also beginnet di sêl czerfliezzen
Von frewden und sich giezzen
Wider in di lauterchait
Dez pildez, daz si nach treit.
„In diesem heiligen Anschauen beginnt die Seele wieder nach Gott, ihrem Vorbild, zu streben. Von diesem war sie abgewichen, und durch Sünden war sie ihm unähnlich geworden; nun will sie ihm wieder gleich werden. So, wie Wachs durch Hitze zerfließt, wenn man es gießt oder in ein Siegel drückt: sogleich zieht es durch die Hitze und die Weichheit die Formen des Siegels an sich. Genauso beginnt die Seele vor Freude zu zerfließen, und sie ergießt sich wieder in die Reinheit des Bildes, das sie annimmt.“ (Übers. G.S.)
Der Text beschreibt an dieser Stelle die Wirkung der unverhüllten Schau Gottes. Im Anschauen „zerfließt“ zunächst die Seele, es wird also die durch Zeit und Sünden an ihr verursachte Fehlbildung aufgelöst; sodann prägt sich das Heil wie das Motiv eines Siegels auf der nun wieder in den neutralen Status eines formbaren Rohstoffs zurückgeführten menschlichen Seele ein, womit die Abbildhaftigkeit Gottes im Menschen eine Erneuerung erfährt.
Während die Menschwerdung Christi analog zur Prägung der Hostie und die Wirkung der Gottesschau auf die Seele als ein Eindrücken des göttlichen Bildes in Wachs imaginiert werden konnte, ging von der Vorstellung eines Abdrucks des göttlichen Antlitzes auf einem von Menschen gemachten Stoff das gesamte Mittelalter hindurch eine große Faszination aus. Ein wesentlicher Angelpunkt der zugehörigen religiösen Praktiken stellte das „wahre Antlitz Christi“ dar, das in Form textiler Reliquien als Vera Icon in Rom, im Turiner Grabtuch oder im Mandylion von Edessa verehrt wurde bzw. wird. Auch wenn deren Bedeutung für die religiösen Praktiken des Spätmittelalters und ihr Einfluss auf die Entwicklung von Kultbildern kontrovers diskutiert wird,
so spricht doch viel dafür, dass diese ‚von Gott selbst‘ stammenden Abdrucke maßgebliche Promotoren für die Akzeptanz vervielfältigter religiöser Bilder und Objekte und in weiterer Folge auch für die Integration gedruckter oder anderweitig kopierter Kultbilder in private wie gemeinschaftliche devotionale Praktiken waren.Fazit
Aus dem umfangreichen Feld der plastisch formbaren Materialien und der zu ihnen gehörigen Formgebungstechniken konnten in dieser Einleitung lediglich einzelne Aspekte herausgegriffen werden, ebenso wie die Beiträge der vorliegenden Ausgabe von MEMO nur einige wenige Beispiele des Umgangs mit plastischen Materialien behandeln. Was aber dennoch deutlich wird ist, dass die zentrale Eigenschaft dieser Materialgruppe – ihre Formbarkeit – das Handeln mit und Denken über diese Stoffe über Jahrtausende hinweg im wahrsten Sinne geprägt hat. Beide grundlegenden Gestaltungstechniken – das freie Formen wie auch das Modeln und Prägen – konnten durchaus in den Dienst der jeweils anderen gestellt werden, wie das Beispiel des „Gusses in der verlorenen Form“ zeigt. Das freihändige Erstellen von Modellen aus Wachs oder Ton für den Skulpturenguss wäre ein Beispiel für die gegenläufige Operationskette.
Beide Zugänge, nämlich aus amorphen Stoffen Formen zu schaffen bzw. in amorphen Stoffen Formen – als Modeln – einzuarbeiten, sind Erfahrungen von Kreativität par excellence und bilden somit Analogien zum göttlichen Schöpfungsprozess wie auch zum Verhältnis des (schöpferischen) Menschen als Abbild Gottes zu Gott als dem allumfassenden Schöpfer beziehungsweise „Töpfer“. Nicht zuletzt lässt sich konstatieren, dass die Affordanz plastischer Materialien als Speichermedien eine enorme Wirkungsgeschichte entfaltet hat, die – wenig überraschend – in der religiösen Medienproduktion des Mittelalters und der frühen Neuzeit eine Blüte erfuhr und bis heute unsere Sprache und unser Denken maßgeblich mitbestimmt.Featured Image: Ausschnitt aus Abb. 2, Jeremia und der Töpfer, kolorierte Federzeichnung aus den Concordantiae Caritatis, Stift Lilienfeld, 1349-1351 Stiftsbibliothek, Cod. 151, fol. 211v. REALonline Bild Nr. 004091B. Foto: IMAREAL.