Erzählende Dinge im Netz der Graphdatenmodellierung einer digitalen Edition von Giovanni Domenico Tiepolos Bildzyklus Divertimento per li Regazzi
Abstract
Der Beitrag beschäftigt sich mit der Rolle erzählender Dinge in Giovanni Domenico Tiepolos Bildzyklus Divertimento per li Regazzi. Das Divertimento lässt sich als narrativ strukturierte Bildfolge verstehen, bei der die Anordnung der einzelnen Blätter allerdings nur lose vorgegeben ist und sich zu unterschiedlichen Geschehensabläufen zusammenfügen lässt. Neben der chronologischen Anordnung kommt dabei einzelnen Gegenständen besondere Bedeutung zu, die in den Blättern als Bildmotive immer wiederkehren und es erlauben, das Material nach Kohärenzmustern zu sortieren, die Ähnlichkeiten zu Praktiken des Repertoirespiels der Commedia dell’Arte aufweisen. Der Beitrag zeigt zudem, dass sich diese Sinnpotenziale des Divertimento am besten in einer auf einem Graphdatenmodell beruhenden Digitaledition darstellen lassen.
Abstract (englisch)
The contribution deals with the role of narrative things in Giovanni Domenico Tiepolo’s drawing series Divertimento per li Regazzi. The Divertimento can be understood as a narrative sequence, in which the arrangement of the individual sheets is only loosely predetermined, however, and can be combined to form various sequences. In addition to the chronological arrangement, objects that appear in the drawings as recurring motifs allow the material to be sorted according to patterns of coherence that show similarities to practices of the repertoire play of the Commedia dell’Arte. The article also shows that the characteristic structure of the Divertimento can best be represented in a digital edition based on a graph data model.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Der gegen Ende des 18. Jahrhunderts vom venezianischen Maler Giovanni Domenico Tiepolo geschaffene Bildzyklus Divertimento per li Regazzi bewegt sich im Übergangsbereich zwischen Erzählung und Bildkunst: Die Blätter des Zyklus zeigen allesamt die aus der italienischen Commedia dell’Arte bekannte Figur des Pulcinella
, die in verschiedenen Lebenssituationen (z.B. Geburt, Kindheit, Heranwachsen, Tod) dargestellt wird. Der Zyklus scheint daher eine Art Geschichte Pulcinellas zu erzählen, ohne dass jedoch über die narrative Fügung letzte Gewissheit zu erlangen ist, da sich einzelne Szenen widersprechen oder wiederholen. Im Wortsinn des Divertimento eröffnet der Zyklus daher eher Spielräume möglicher Erzählungen als einen festgelegten Handlungsstrang. Wir wollen im folgenden Beitrag zeigen, dass bei dieser spielerischen Fügung der Narration ganz wesentlich auch Gegenstände, Dinge, Objekte von Bedeutung sind, die auf einer quer zur linearen Abfolge der Erzählung liegenden Achse für narrative Kohärenz sorgen können. Um dieses vielfältige Geflecht an Bedeutungsbeziehungen zu modellieren, bietet sich eine digitale Edition des Bildzyklus an, wie sie zurzeit von uns an der Universität Stuttgart erarbeitet wird. Der Beitrag bietet daher nicht nur eine kunstgeschichtliche Diskussion von möglichen Dingbezügen, sondern auch einen Einblick in mögliche digitale Datenmodellierungen und deren Effekte auf die Darstellung der Bedeutungspotenziale des Zyklus.
Das Divertimento per li Regazzi als erzählendes Objekt?
Betrachtet man die Darstellungen, aus denen sich das Divertimento per li Regazzi zusammensetzt, lassen sich darin die Grundzüge einer biografischen Erzählung erkennen, die mit der Geburt und Kindheit Pulcinellas ihren Anfang nimmt, eine Vielzahl unterschiedlicher Begebenheiten umfasst, die ihm im Verlauf seines weiteren Lebens widerfahren und dann mit seinem Tod, seiner Bestattung und schließlich seiner Auferstehung endet. Ein primäres Ziel vor allem der älteren Forschung zum Divertimento war es deshalb, die korrekte Reihenfolge der Blätter zu eruieren, um so die vom Künstler intendierte Bildsequenz wiederherzustellen oder zumindest einen möglichst plausiblen Verlauf der Lebensgeschichte Pulcinellas zu bestimmen.
Um besser zu verstehen, wie das Divertimento erzählt, bzw. wie es als Grundlage einer performativen Erzählpraxis durch den Betrachter dienen kann, erweist es sich zuerst als produktiv, seine Verortung im Kontext der Commedia dell’Arte und des Puppentheaters zu vertiefen, die in der bisherigen Forschung weitestgehend rudimentär blieb.
Der Bildzyklus im theatralen Kontext
Pulcinella ist eine wohl zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstandene Figur der Commedia dell’Arte
, die sich in der Folge nicht nur auf der italienischen Halbinsel, sondern auch in weiten Teilen Europas ausbreitete. Im Venedig des 18. Jahrhunderts, einem der bedeutendsten europäischen Theaterzentren der Zeit, trat Pulcinella als beliebtes Karnevalskostüm, als Straßenunterhalterin und vor allem als Theaterpuppe in Erscheinung, wo er eine derart zentrale Rolle spielte, dass das venezianische Wort i puricinei als Oberbegriff für alle Handpuppen (burattini) geläufig wurde. In der venezianischen Ausprägung der Commedia dell’Arte spielte sie dagegen höchstens eine untergeordnete Rolle.Pulcinellas Rolle als Protagonist des Puppentheaters erweist sich gleich in doppelter Hinsicht als bedeutsam. Einerseits erreichte es einen großen Teil der venezianischen Gesellschaft, denn neben den zahlreichen Puppenspielern, die ihre Aufführungen auf den Straßen und Plätzen der Stadt präsentierten, besaßen auch einige wohlhabende Familien eigene, zum Teil prächtig ausgestattete Marionettentheater, die nicht nur zur Unterhaltung der Kinder dienten, sondern auch Aufführungen für ein anspruchsvolles Erwachsenenpublikum bieten konnten.
Andererseits übernahm das Puppentheater die Charaktere, Szenarien und Spielpraktiken der Commedia dell’Arte und tradierte sie im eigenen Medium weiter , weshalb es folgerichtig ist, Pulcinella, trotzdem er auf den ‚großen‘ Bühnen Venedigs im 18. Jahrhundert nur kleine Rollen spielte, im Lichte der Commedia und ihrer spezifischen Aufführungspraxis zu betrachten.Im Gegensatz zu dem bis heute weit verbreiteten Idealbild war die Commedia dell’Arte kein freies Stegreiftheater, das organisch aus jahrhundertealten folkloristisch karnevalesken Traditionen hervorging. Vielmehr handelte es sich um eine in hohem Maße professionalisierte Theaterform, die von Schauspielerinnen und Schauspielern ausgeübt wurde, die sich unterschiedlichen Publikumsgruppen und ihren Geschmäckern anzupassen wussten und sich ihre Stoffe aus verschiedenen, unter anderem hochliterarischen Quellen aneigneten.
Auch ihre Aufführungspraxis entsprach nicht dem heutigen Konzept der freien Improvisation. Vielmehr verfügte jede Darstellerin und jeder Darsteller über ein zu seinem Rollentypus passendes Repertoire aus sprachlichen, gestischen und akrobatischen Elementen, die vielfältig einsetzbar waren und modular miteinander kombiniert werden konnten. Ein solches Repertoire bestand aus Material, das entweder eigenständig erfunden oder aber von anderen Darstellern sowie aus literarischen Quellen übernommen und in entsprechenden Büchern, sogenannten libri generici bzw. zibaldoni, gesammelt und geordnet wurde. Dass nahezu alle erschlossenen zibaldoni des 17. und 18. Jahrhunderts von Laienschauspielern und Sammlern stammen, lässt darauf schließen, dass diese Art des Schauspiels auch nicht-professionellen Darstellerinnen und Darstellern vertraut war. In diesem Kontext sind auch Publikationen gesammelter Repertoiretexte einzelner Theatermasken zu betrachten, die so einem breiteren Publikum interessierter Amateure zur Verfügung gestellt wurden. Als Beispiele seien die in Dialogform verfassten Le bravure del Capitano Spovento Francesco Andreinis (1607) sowie die Raccolta di vari motti arguti, allegorici, e satirici ad uso del teatro Atanasio Zanonis (1789) genannt, die beide in Venedig gedruckt wurden.In der Aufführung, deren Plot von einem kurzen Szenario grob umrissen wurde, griffen die Darsteller auf ihr Repertoire zurück, dessen Bestandteile sie auf verschiedene Weise miteinander verknüpften, um ein und dasselbe Grundnarrativ immer wieder neu auszugestalten.
Die ‚Improvisation‘ einer Darstellerin oder eines Darstellers der Commedia dell’Arte bzw. einer Puppenspielerin oder eines Puppenspielers war damit keine Neuschöpfung aus dem Nichts, sondern vielmehr eine geschickte Rekombination vorbereiteten Materials.Eine Bezugnahme des Divertimento auf einen theatralen Kontext lässt sich schon am Frontispiz ablesen, das als solches die Betrachterin und den Betrachter in den Zyklus einführt und deren Wahrnehmung der Blätter vorstrukturiert (Abb. 1).
Es zeigt einen Pulcinella, der mit dem Rücken zur betrachtenden Person vor einem steinernen Gebilde steht, dessen Inschrift den Titel der Serie und die Anzahl der Blätter nennt und dessen Quaderform Assoziationen mit einem Altar, einer Tumba oder auch einem Bühnenpodest weckt. Diese letzte Lesart wird durch die an den Quader gelehnte Leiter, die Pulcinella den Weg hinaufweist, noch weiter konkretisiert, denn das Besteigen liegt bei einer Bühne nun mal näher als bei einem Hochgrab oder einem Altar. Auf der linken Seite des Podestes steht eine Reihe konischer Gnocchi-Töpfe, deren Form die des Hutes Pulcinellas spiegelt und die eines der charakteristischen Attribute der gemeinhin für ihren enormen körperlichen Appetit bekannten Figur sind. Zu Füßen Pulcinellas liegt eine Reihe unterschiedlicher Gegenstände. Darunter ein Weinkrug, ein abgelegter Mantel und ein Teller mit Gnocchi, die im Laufe des Zyklus allesamt mehrfach und in unterschiedlichen Kontexten auftauchen werden und die, wenn man den Quader als Bühne begreift, als eine Sammlung von Requisiten betrachtet werden können, die für das anstehende Schauspiel benötigt werden. Ähnliches gilt auch für den Hund, der im Verlauf des Divertimento eine Reihe von Auftritten hat. Die Puppe dagegen, die Pulcinella im Arm trägt und an deren Fuß der Hund schnuppert, ist in der Folge auffallend abwesend. Bemerkenswert ist dies insofern, als sie einerseits diversen Frauenfiguren auf den anderen Blättern ähnelt und andererseits offenbar eine Marionette ist und damit explizit auf das Puppentheater verweist. Für diese Deutung sprechen nicht nur ihre Größe und anachronistische Gewandung , sondern auch die Tatsache, dass es sich bei ihr um eine nur leicht variierte Version einer Theaterpuppe aus einer früheren Zeichnung Domenicos handelt, die dort ebenfalls an der Seite eines Pulcinella, in diesem Fall einer Pulcinella-Puppe, zu sehen ist (Abb. 2 und 3).Von diesen gesammelten Indizien ausgehend liegt es nahe, das Frontispiz als ein Moment ‚vor Vorstellungsbeginn‘ zu lesen. Pulcinella ist dabei das Bühnenpodest zu besteigen und die nachfolgenden Szenen mithilfe der Puppe, die die weiblichen Figuren mimt, des Hundes
und der verschiedenen Requisiten zur Aufführung zu bringen. Die Parallelen zwischen Bildzyklus und theatraler Praxis beschränken sich jedoch bei weitem nicht nur auf die Gestaltung dieses Blattes, das diese Assoziation suggeriert und so gewissermaßen als eine Art Lektüreanweisung für die Zeichnungen gelten kann.Denn obschon das Divertimento keine einzige explizite Darstellung einer Theatersituation enthält, weist es auf struktureller Ebene tiefgreifende Übereinstimmungen zu der oben skizzierten Spielpraxis auf. Es gleicht in vielen Punkten dem Rollenrepertoire eines Commedia dell’Arte-Darstellers oder Puppenspielers, mit dem Unterschied, dass es sich nicht aus memorierten Texten, Bewegungen und akrobatischen Einlagen zusammensetzt, sondern aus Bildern. Auch Tiepolos Vorgehen bei der Zusammenstellung dieses Repertoires stimmt überein mit dem eklektischen Schöpfen aus den unterschiedlichsten Quellen, die für Commedia dell’Arte-Schauspieler charakteristisch war. Denn bei der Komposition der einzelnen Blätter des Divertimento bedient er sich vielfach nicht nur eigener früherer Arbeiten, sondern auch derer seines Vaters oder anderer Künstler
, die er ausführlich oder nur in Teilen übernimmt, ihrem neuen Kontext entsprechend variiert und sie mit Pulcinelli bevölkert.Im Umgang mit den Zeichnungen wird der Betrachter nun selbst zum ‚Bildspieler‘, wobei es schlussendlich unwesentlich ist, ob man von einem intendierten externen Betrachter oder von Domenico selbst als Rezipienten ausgeht. Pulcinellas Lebensgeschichte fungiert dabei als ein „rote[r] Faden“
, als minimalistisches Gerüst, auf dem aufbauend eine, im Sinne der oben beschriebenen Aufführungspraxis, improvisierende Generierung unterschiedlicher narrativer Sequenzen möglich ist. Die semantische Offenheit einzelner Szenen, die je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen haben können, ebenso wie die Fähigkeit nach Bedarf verschiedene Figuren im Bild zum Protagonisten zu erklären, machen eine offene Form erzählender Kombinatorik möglich, die jedoch, wie aus dem Folgenden deutlich wird, nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden darf.Narrative Strukturen im Divertimento per li Regazzi
Die Zusammenschau des Zeichnungskorpus mit zeitgenössischen theatralen Praktiken zeigte, dass das Divertimento seinen Rezipienten zu einer analogen performativen Erzählpraxis befähigt. Im Folgenden werden nun die dem Zyklus zugrundeliegenden Strukturen betrachtet, die eine solche Praxis erst möglich machen.
Dabei ist ein elementarer Unterschied zwischen einer konventionellen (Bild)Erzählung und dem Divertimento als einer Art modularem Erzählrepertoire zu beachten. Domenico Tiepolos Zeichnungskorpus präsentiert seinem Betrachter keinen bereits im Voraus konstruierten, mehr oder weniger stringenten Handlungsfaden, dessen Verlauf dieser passiv nachvollzieht. Stattdessen lassen sich die Blätter nach verschiedenen Prinzipien miteinander zu narrativ sinnvollen Sequenzen verknüpfen, diese Verknüpfungsarbeit muss jedoch von dem Rezipienten geleistet werden, dem damit ein explizit aktiver Part zukommt.Die Biografie Pulcinellas bildet ein dem Divertimento zugrunde liegendes narratives Fundament, das sich aus der Auswahl der in der Serie enthaltenen Blätter ergibt und eine elementare syntagmatische Ordnung etabliert.
Dieser entsprechend können Szenen chronologisch, kausal und teleologisch miteinander verbunden werden. Als Beispiel soll die folgende Sequenz dienen: Ein Pulcinella wird aus dem Ei eines Truthahns geboren (Abb. 4), von seiner Familie umsorgt und gewickelt (Abb. 5) und erlernt schließlich, ebenfalls im Kreise der Verwandten, das Laufen (Abb. 6).Wenn der Betrachter annimmt, die drei Pulcinella-Kinder seien ein und dieselbe Person, bilden die Szenen eine chronologisch schlüssige Abfolge: Die Blätter zeigen in dieser Reihung aufeinanderfolgende Augenblicke in der Entwicklung eines Kindes. Ähnlich offensichtlich ist der kausale Zusammenhang: Damit ein Kind gewickelt und versorgt werden kann, muss es erst einmal geboren werden und damit es laufen lernen kann, muss es ein gewisses Alter erreichen und ist in dieser Zeit auf die Pflege durch seine Familie angewiesen. Die teleologische Komponente ergibt sich schließlich aus der jedem Lebenspfad inhärenten Stringenz, dem unumkehrbaren Weg von der Wiege zur Bahre.
Diese Bildfolge ließe sich nun beispielsweise durch die Anfügung weiterer Blätter, die ein älteres Pulcinella-Kind zeigen (bspw. Abb. 7), fortsetzen. Ebenso können andere Szenen (bspw. Abb. 8) an die Stelle der oben ausgewählten Zeichnungen treten und so eine alternative Version dieser Passage bilden, ohne dass sich an der ihr zugrunde liegenden biografischen Logik etwas ändern würde.
Schließlich kann die Bildfolge je nach Wunsch des Rezipienten mehr oder weniger ausführlich, das heißt unter Zuhilfenahme einer größeren oder kleineren Anzahl von Zeichnungen, erzählt werden. Hier wird noch einmal die Parallele zu der oben skizzierten Form des Repertoirespiels deutlich. Die einzelnen Elemente solcher Repertoires erlaubten nicht nur diverse Arten der Rekombination zu unterschiedlich langen Sequenzen, sondern waren bereits in sich elastisch, konnten also den Erfordernissen der Aufführungssituation entsprechend ausgedehnt oder gekürzt werden.
Bemerkenswert ist, dass sich bei dieser Form der syntagmatischen Bezüge kaum zwingende Abfolgen ergeben, sondern sich meist mehrere verschiedene Verbindungsmöglichkeiten anbieten. Auf diese Art und Weise können sogar einander explizit ausschließende Handlungsstränge konstruiert werden, die dennoch chronologisch wie kausal konsequent aus ein und derselben Ausgangssituation folgen. Exemplarisch zeigt sich diese Form der Flexibilität daran, dass die naheliegenden Anschlussmöglichkeiten an die Verhaftung Pulcinellas (Abb. 9) sowohl seine Begnadigung vor Gericht (Abb. 10) als auch eine Prügelstrafe (Abb. 11) oder aber eine von zwei Hinrichtungsszenen (Abb. 12 und 13) sind.
Neben der syntagmatischen Dimension verfügt das Divertimento auch über eine paradigmatische. Diese fußt auf einem feinmaschigen Netz unterschiedlicher Bezüge, die nicht nur Verknüpfungen einzelner Blätter jenseits der linearen Logik der Biografie, sondern auch eine Reihe ‚externer‘ Bezüge zu anderen Werken, aber auch zu zeitgenössischen Praktiken, Konzepten und Vorstellungen erlauben, die neue Möglichkeiten der Kontextualisierung und Deutung der jeweiligen Zeichnungen erschließen. Solche Bezüge werden unter anderem durch die Wiederkehr bestimmter Motive und Elemente sowie in Form ikonografischer Verweise etabliert und können, wie das folgende Beispiel zeigt, zu durchaus unterschiedlichen Verknüpfungen, Neuordnungen und Bedeutungszusammenhängen führen.
Einerseits ist das Divertimento selbst ein erzählendes Objekt, bzw. eines, das seinem Rezipienten eine Möglichkeit gibt, selbst zum Erzähler zu werden. Andererseits dienen die in den Zeichnungen dargestellten Gegenstände und ihr wiederholtes Auftauchen als wichtiges kohärenzstiftendes Moment, das es erlaubt, diese Blätter zusammenzudenken. So erscheinen die eingangs bereits erwähnten Gnocchi-Töpfe in insgesamt sieben Zeichnungen. Neben dem Frontispiz (Abb. 1) und der Szene mit dem gewickelten Pulcinella-Kind (Abb. 5) finden sie sich beispielsweise auf einem Regalbrett über einem Pulcinella auf seinem Totenbett (Abb. 14) sowie bei einer festlichen Pulcinella-Prozession (Abb. 15).
Letztere Darstellung enthält ebenso einen Steinquader, der dem auf dem Titelblatt in hohem Maße ähnelt und sich in leicht variierter Form auf insgesamt fünf Zeichnungen findet. Von diesen Objekten ausgehend lassen sich die Blätter auf unterschiedliche Weise in Verbindung setzen. In Kombination mit dem Festzug wird das Frontispiz beispielsweise zum Ort einer nun offenbar vergangenen Feierlichkeit. Die Gnocchi-Töpfe, die die Pulcinelli mit sich trugen, stehen nun auf dem Steinquader, die festliche Gesellschaft dagegen ist, mit Ausnahme der einzelnen verbliebenen Gestalt, wieder davongezogen.
Weiter spezifizieren lässt sich der Anlass, wenn man den in den Blättern angelegten ‚externen‘ Verweis auf den Venerdì Gnoccolare erkennt, eine Veroneser Karnevalstradition, die Domenico Tiepolo vermutlich kennengelernt hat, als er seinen Vater dort bei Auftragsarbeiten unterstützte. Jene Feier bestand im Wesentlichen aus einem Umzug, der in ein großes, aus Gnocchi und Polenta bestehendes Festmahl mündete, welches auf einem steinernen Tisch vor dem Grabmal des legendarischen Stifters der jährlichen Feier gereicht wurde. Eine zentrale Rolle kam dabei jungen als Pulcinelli verkleideten Männern zu, die von einem ebenfalls als Pulcinella kostümierten, auf einem Esel reitenden Papà del Gnocco bzw. Capo dei Maccheroni angeführt wurden (vgl. Abb. 16).Alle diese Elemente sind ohne Schwierigkeiten auf den beiden Zeichnungen zu erkennen, wobei der steinerne Quader gewissermaßen eine Verschmelzung aus Grabmal und Tisch darstellt.
Eine gänzlich andere Geschichte ergibt sich, wenn man das Frontispiz mit einer Darstellung zusammenbringt, die ebenfalls einen Steinquader und daneben einen am Boden liegenden Pulcinella zeigt, der gerade offenbar zusammengebrochen ist.
Sinnhaft erweitern lässt sich dieses Paar durch die oben erwähnte Szene am Totenbett (Abb. 14), denn die Gnocchi-Töpfe auf dem Regal über dem Bett bilden die gleiche Anordnung wie die auf dem Frontispiz. Diese drei Zeichnungen, die durch die Wiederholung einzelner dargestellter Objekte zusammengebracht wurden, ergeben eine, auch im Sinne eines biografischen Verlaufs nachvollziehbare Abfolge. Auf den Zusammenbruch folgt eine Zeit auf dem Krankenlager und dann schließlich der Tod. Syntagmatische und paradigmatische Bezüge fallen hier auf produktive Weise zusammen. Abschließend ist hier noch ein ‚externer‘ Bezug anzumerken. Die Idee, dass Gnocchi-Töpfe als Totengaben für einen verstorbenen Pulcinella dienen können, findet sich nicht nur bei Domenico Tiepolo, sondern auch beispielsweise auf einem Ölgemälde, das vermutlich einige wenige Jahrzehnte vor dem Divertimento ebenfalls in Venedig entstand (Abb. 18).
Eine digitale Modellierung des Divertimento
Wie in den vorangegangenen Abschnitten dargelegt wurde, lässt sich dem Divertimento eine modulare Erzähllogik unterstellen, die durch mögliche und teilweise regelgeleitete, aber nicht zwingend notwendige Verknüpfungen auf zwei Ebenen geprägt ist: Einerseits, auf einer syntagmatischen Ebene, durch die (nicht immer genau zu bestimmende) chronologische Abfolge der Ereignisse, andererseits, auf einer paradigmatischen Ebene, durch die Assoziationsmöglichkeiten, die sich durch Motivkorrespondenzen ergeben, die nicht nur auf andere Blätter des Zyklus, sondern auch auf andere Artefakte und sogar kulturelle Praktiken verweisen können. Eine konventionelle Darstellung des Zyklus im Druckmedium, wie sie etwa der Katalog von Gealt darstellt, vermag diese Fülle an Bezügen nicht zu fassen. Aufgrund der Linearität des Buchmediums wird zudem eine feste Abfolge der Blätter vorgegeben, die dem spielerischen Charakter des Divertimento nicht gerecht wird. Dies gilt auch dann, wenn wie im Falle des Gealt’schen Katalogs die Unumstößlichkeit dieser Abfolge explizit gar nicht behauptet wird. Denn dessen ungeachtet stellt der Druckkatalog bislang nach wie vor die wichtigste Arbeitsgrundlage für die Beschäftigung mit dem Bildzyklus dar und hat damit mit seiner Zusammenstellung implizit normierende bzw. kanonisierende Wirkung. Im Bereich der Textwissenschaften wurde auf solche kanonisierende Effekte von Texteditionen wiederholt hingewiesen.
Um solche ‚Festschreibungen‘ aufzulösen, erscheint nun der Einsatz digitaler Mittel besonders geeignet: Gerade digitale Editionen mit ihren variablen und potenziell unbegrenzten Darstellungsmöglichkeiten schaffen die Grundlage dafür, unterschiedliche Textzustände und sogar unterschiedliche editorische Herangehensweisen nebeneinanderzustellen und damit einen multiperspektivischen Blick auf Artefakte zu etablieren.Dementsprechend bietet sich im Fall des Divertimento ein Methodentransfer vom Gebiet der Texteditionen auf jenes der Bildedition an: Gerade mit digitalen Mitteln lassen sich für den Zyklus Spielräume eröffnen, die sowohl seiner Variabilität und Dynamik, aber auch den in Ansätzen vorhandenen Kohärenzstrukturen Rechnung tragen können. Für die Modellierung der Bildfolge erscheint dabei insbesondere ein Graphdatenmodell zweckmäßig, wie es in den digitalen Geisteswissenschaften jüngst vermehrt zum Einsatz kommt.
Die Grundlage für ein solches Graphdatenmodell bietet stets die durch eine Kante oder Relation ausgedrückte Beziehung zwischen unterschiedlichen Knoten. So können etwa die einzelnen Bildblätter des Divertimento als Knoten aufgefasst werden, zwischen denen vielfältige Beziehungen bestehen. Um diese Beziehungen jedoch nicht völlig wahllos zu benennen und so die Chance auf Austauschbarkeit und Interoperabilität der Datenmodellierung zu vergeben, greifen wir in unserem digitalen Editionsprojekt des Divertimento, das zurzeit an der Universität Stuttgart erarbeitet wird, auf eine standardisierte Ontologie zurück, nämlich auf das aus dem Kulturerbe-Bereich stammende CIDOC Conceptual Reference Model (CRM). Das CRM hat sich in den Digital Humanities immer mehr zu einer umfassenden Top-Level-Ontologie entwickelt, die als Referenz-Modellierung für unterschiedliche Bereiche herangezogen werden kann.Im Fall des Divertimento ist jedoch nicht nur die durch das CRM gewährleistete Standardisierung der Datenmodellierung von Vorteil, sondern auch dessen grundlegende Struktur, die sich als Event-basiert beschreiben lässt: Neben Objekten stellen temporale Ereignisse einen wesentlichen Baustein des CRM dar. Auch für die Modellierung des Divertimento liegt der Grundgedanke nahe, nicht von den einzelnen Artefakten auszugehen, sondern eine Art ‚virtuelle Lebensgeschichte‘ des Pulcinella als Grundgerüst anzusetzen, anhand derer die einzelnen Bildobjekte sortiert werden. Dementsprechend wird die gesamte Lebensgeschichte in der Terminologie des CRM als E4_Period-Knoten angesetzt, dem wiederum E5_Event-Knoten untergeordnet sind, die die einzelnen Stationen der Lebensgeschichte wie etwa Pulcinellas Geburt und Kindheit, seine Professionen oder seinen Tod repräsentieren. Diese Knoten sind durch die CRM-Beziehung P120_occurs_before miteinander verknüpft. Die einzelnen Bildobjekte schließlich werden durch die Beziehung P62_depicts in die Chronologie gleichermaßen ‚eingehängt‘.
Paradigmatische Objekte
Obwohl die Bilder als physikalische Entitäten damit auf den ersten Blick der chronologischen Ereignis-Struktur nachgeordnet erscheinen, spielen dennoch Objekte gerade in unserer Modellierung eine entscheidende Rolle, nämlich bei der Verknüpfung der Motivkorrespondenzen auf der paradigmatischen Ebene. Bildmotive wie etwa der Gnocchi-Topf, die Leiter oder der Hund sind als Knoten im Modell angelegt; wenn eines der Blätter ein solches Motiv darstellt, wird der Motivknoten dem Bildknoten wieder mit der Beziehung P62_depicts zugeordnet.
Im Front-End der Edition ermöglicht diese Modellierung zunächst eine bequeme Umsortierung des Bildzyklus, die nun nicht mehr temporale Kohärenzstrukturen, sondern Motivassoziationen zum Ausgang nimmt. Den Weg von der syntagmatischen zur paradigmatischen Ordnung demonstrieren die Ansichten auf das Webinterface unserer Edition in den Abbildungen 19 und 20.
Abbildung 19 zeigt zunächst die Hauptarbeitsansicht unserer Edition, bei der ein von dem User bzw. der Userin gewähltes Bild in der Mitte des Bildschirms steht. In der rechten Spalte lassen sich die einzelnen Eventkategorien auswählen, die erzähllogisch nach diesem Bild liegen, in einer platzsparenden Slideshow-Darstellung lässt sich durch die einzelnen Bilder der Eventkategorien hindurchblättern. Durch Klick auf ein Bild kann dieses einer individuell zusammengestellten ‚Story‘ hinzugefügt werden, die in der linken Spalte in einer Voransicht als Thumbnails zur Darstellung gebracht ist. Mit Hilfe dieser variablen Darstellung kann also die oben angesprochene Rolle des Rezipienten bzw. der Rezipientin bei der je eigenen Zusammenstellung von narrativen Kohärenzstrukturen zum Grundprinzip auch der editorischen Darstellung gemacht werden.
In Hinblick auf die paradigmatischen Objektverknüpfungen ist nun die Leiste unterhalb des in der Mitte ausgewählten Bildes von besonderem Belang: Hier sind einzelne ausgewählte Motive, die das Bild beinhaltet, aufgelistet. Durch einen Klick auf den Motivnamen kann eine Gegenüberstellung jener Bildblätter erreicht werden, die das Motiv aufweisen und so die chronologische Ordnung zugunsten der paradigmatischen Kohärenz aufgelöst werden. So zeigt etwa der Screenshot in Abbildung 20 alle Blätter, die das Motiv des Gnocchi-Topfs wiedergeben, wobei die lineare Abfolge zugunsten einer verteilten Darstellung im Raum aufgebrochen ist.
Die digitale Edition öffnet damit den Blick dafür, dass andere Kohärenzstrukturen als die chronologische Lesart des Zyklus möglich sind, aber auch, dass diese Strukturen zwar mitunter gegenläufig ausfallen, aber dennoch zu einem Gesamtnetz an Bezügen verwoben sind, die unterschiedliche Perspektiven an Bedeutungszuschreibungen gerade in ihrem Zusammenspiel und/oder in ihrer Gegenläufigkeit eröffnen. Damit wird aber auch ein Umgang mit den Blättern möglich, welcher einen mutmaßlich für die Entstehungszeit typischen kennerschaftlichen Umgang mit Zeichnungen bzw. druckgrafischen Blättern gewissermaßen digital simuliert. Denn auch die ursprüngliche Rezeption der ja immer als Einzelobjekte frei anordenbaren Blätter war wohl nicht (oder nicht zwingend) auf Linearität angelegt, sondern auf ein relativ freies Sortieren der Blätter nach Themen und Motiven. Vorstellbar wäre etwa, dass die Bilder auf einem Tisch in vielfältigen Beziehungen angeordnet wurden. Die ‚Lektüre‘ der Blätter erhält damit eine zweite Dimension, die auch in der digitalen Edition umgesetzt werden kann.
Dass dabei die digitale Darstellung der Rolle erzählender Dinge in dieser räumlichen Anordnung in besonderem Maße gerecht werden kann, wird etwa an dem oben angeführten Beispiel der Sequenz von Zusammenbruch, Krankheit und Tod deutlich, bei dem die chronologische Abfolge durch die Motive des Steinquaders und des Gnocchi-Topfs auch auf der paradigmatischen Ebene gespiegelt wird: In unserer Edition ließe sich diese Sequenz sehr einfach konstruieren, indem man sich zuerst alle Blätter aus dem Bereich ‚Krankheit und Tod‘ anzeigen lässt, sich dort eines der drei Blätter aussucht und dann die Sequenz über die paradigmatische Verknüpfung ‚Gnocchi-Topf‘ bzw. ‚Steinquader‘ weiterverfolgt. Ebenso wäre aber auch der umgekehrte Weg denkbar: Man lässt sich alle Bilder mit einem bestimmten Motiv, etwa dem Steinquader, anzeigen, wählt eines (oder mehrere) davon aus und springt dann über einen mit dem Bild/den Bildern assoziierten Themenbereich auf die syntagmatische Ebene. Eher als dem Modell des linearen – und wenn man so will eindimensionalen – Katalogs, das durch die Printausgabe der Blätter nahegelegt wird, folgt die digitale Darstellung damit dem Modell der Mappe. Während im Katalog-Modell die Beweglichkeit der Blätter aus dem Blick gerät und diese als fest angeordnete sukzessive Seiten erscheinen, rekonstruiert das Mappenmodell die einzelnen Blätter als zwar aufeinander bezogene, aber nicht fix verbundene Artefakte, was auch dem ursprünglichen Rezeptionskontext des Bildzyklus näherkommen dürfte. Nicht zuletzt versetzt die digitale Modellierung damit aber auch in die Lage, ein und dasselbe Blatt unterschiedlichen inhaltlichen Gruppen zuzuordnen, was im gedruckten Katalog nicht möglich ist. Das Frontispiz beispielsweise hat bei uns eben nicht nur den Charakter des Eingangsbildes, sondern ist zugleich mit dem Thema ‚Krankheit und Tod‘ bzw. ‚Festumzug‘ verknüpfbar. Über die einzelnen Objekte, Motive und Dinge im Bild ergeben sich dann weitere Verzweigungen, die eine Vielzahl narrativer Kombinationen ermöglichen und die unsere Edition mithilfe der Datenmodellierung sichtbar machen kann.
Wie oben dargelegt, sollen in unserer Edition nicht nur die internen Verweisstrukturen erfasst werden, sondern auch externe Bezüge des Divertimento kenntlich gemacht werden. Diese externen Verweisstrukturen könnten in der Edition selbst angelegt werden, indem etwa Werke wie die Grandes Misères de la guerre Jacques Callots oder auch die Veroneser Karnevalstradition als eigene Knoten im Datenmodell angelegt werden. Freilich ist eine solche Vorgangsweise wenig flexibel und macht von der Dynamik und potenziellen Vernetzbarkeit des Digitalen wenig Gebrauch. Jeder identifizierte Bezug müsste sozusagen von Hand in der Edition angelegt werden und Artefakte, die eigentlich gar nicht Gegenstand der Edition im engeren Sinn oder bereits in anderen Repositorien verzeichnet sind, eigens modelliert werden. Besser generalisierbar erschiene demgegenüber die Vorgangsweise, in der Edition bloß die Anknüpfungspunkte für mögliche externe Bezüge anzulegen. Methodisch erfordert dies wieder die Orientierung an Standards, die insbesondere durch den Einbezug von Normdaten bewerkstelligt werden kann. Für die Klassifizierung von Bildmotiven steht derzeit beispielsweise das Iconclass-System zur Verfügung, das eine Taxonomie von Bildgegenständen etabliert hat. Freilich ist diese Taxonomie auf Generalisierung angelegt, so dass nicht alle domänenspezifischen Details des Divertimento-Zyklus in gleicher Weise abgebildet werden können. Das Motiv der Leiter oder des Hundes lässt sich noch relativ gut mit Iconclass verzeichnen, der Gnocchi-Topf stellt freilich schon ein zu spezielles Bildmotiv dar: Während „ladder“ oder „dog“ eigene Einträge in der Iconclass-Systematik besitzen, kann im Fall des Gnocchi-Topfes nur allgemein auf „pot“ verwiesen werden.
Damit gerät die wichtige Frage in den Blick, wie stark eingeschränkt die Schnittstellen nach außen in einer Digitaledition überhaupt angelegt sein sollen: Sollen möglichst alle Bezüge und Assoziationen eröffnet werden, und damit gewissermaßen vorurteilsfrei die Einbettung eines Gegenstands wie des Divertimento in ein großes kulturhistorisches Modell zu ermöglichen, getreu dem Grundsatz, dass Editionen grundlegende Erschließungen des Materials vor jeder Interpretation darstellen? Oder verlangt gerade die starke Thesenhaftigkeit unserer Edition des Zyklus, die auf die Ermöglichung von offenen, aber letztlich regelgeleiteten Interpretationsspielräumen abzielt, eine stärkere Restriktion und Anleitung, was als externer Bezug zu verstehen ist? Bejaht man die zweite Frage, wäre eine allgemeine Klassifizierung der Gnocchi-Töpfe als „pots“ wohl ungenügend, auch wenn sie das Ausgreifen in ein potenziell unendliches Großmodell der Kulturhistorie ermöglicht. Da es zweifellos wenig erhellend wäre, gewissermaßen alles mit allem zu vergleichen bzw. zu verbinden, stellt sich damit letztlich die Frage, „an welcher Stelle des Prozesses dem Material Sinn gegeben wird“, „erst im traditionellen wissenschaftlichen Text“ oder „bereits unterhalb des traditionellen gelehrten Narrativs in strukturierten datenbankähnlichen Systemen“.
Konkret auf das Motiv des Gnocchi-Topfs bezogen gibt es natürlich unzählige Topf-Darstellungen, auf die die Blätter des Divertimento zu beziehen wenig sinnvoll wäre. Wo genau die Grenze zwischen noch und nicht mehr sinnvollen Assoziationen zu ziehen ist, lässt sich aber wohl nicht mit Sicherheit bestimmen und hängt letztlich auch von der Fragestellung ab, die man an den Zyklus heranträgt. Wieder trägt aber die sozusagen doppelte Multiperspektivität von Digitaleditionen dazu bei, dass die Auswahl zwischen den beiden Alternativen vielleicht gar nicht getroffen werden muss: Denn nicht nur lassen sich in Digitaleditionen unterschiedliche Perspektiven auf den zu erschließenden Gegenstand darstellen, sondern auch unterschiedliche konzeptionelle Zugänge, die sich eigentlich widersprechen, nebeneinanderstellen: Konkret wäre es etwa im Fall unserer Divertimento-Edition möglich, sowohl enge Bezugnahmen auf Motive und Praktiken in das Datenmodell mit einzuschreiben (etwa durch die Modellierung von Bezugspunkten, die uns erhellend erscheinen, als Knoten), als auch Anknüpfungspunkte für allgemeiner gefasste Motivkorrespondenzen zu bieten (durch die Klassifizierung nach standardisierten Normdatensystemen).Um ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen grenzenloser Offenheit und allzu großer Restriktion schon in der Datenmodellierung zu finden, ließe sich als möglicher Zielpunkt die Maxime ausgeben, insbesondere solche Kontexte zu rekonstruieren, die einem kunstinteressierten Zeitgenossen Tiepolos oder Tiepolo selbst offensichtlich waren. Dabei zeigt sich aber, dass gerade die Einrichtung von relativ offenen Anknüpfungspunkten an externe Ressourcen dazu beitragen kann, diese Kontexte genauer und auch enger zu fassen. Ein Beispiel hierfür bietet etwa die Referenz der Erschießungsszene des Divertimento (Abb. 13) auf die Grandes Misères de la guerre Callots: Von den allermeisten Forschern wird die dort eingefügte Erschießungsszene als Kommentar der Zeitgeschichte zur Gewaltherrschaft der Truppen Napoleons gesehen und als ein Dokument der Grausamkeit des Menschen wider den Menschen.
In dieser Hinsicht erschiene es dann auch nicht zu weit hergeholt, auch einen Bezug zu Goyas kompositorisch nicht unähnlich gestalteter Erschießung der Aufständischen von 1814 herzustellen, welche jedoch erst zehn Jahre nach Tiepolos Tod entstand. Ein genauer Blick auf Callots Blätter, der digital z.B. durch einen Link auf die entsprechende Wikimedia-Seite leicht zu bewerkstelligen ist, zeigt jedoch, dass dort nicht Unschuldige oder Aufständische erschossen werden, sondern marodierende Soldaten, die zuvor ihr Unwesen mit der Zivilbevölkerung getrieben haben. Dadurch ergibt sich für Tiepolos Blatt ein ganz neuer Kontext, der den Blick auf diese Zeichnung in eine ganz andere als von der Forschung bisher verfolgte Richtung lenkt.Fazit
Domenico Tiepolos Divertimento per li Regazzi ist ein komplexes Objekt, das seinem Nutzer eine performative Erzählpraxis ermöglicht, die sich am Repertoirespiel der Commedia dell’Arte bzw. des Puppentheaters orientiert und auf der Rekombination seiner Blätter zu unterschiedlichen narrativen Sequenzen basiert. Diesem freien Umgang mit den Zeichnungen, der das narrative Potenzial erst in vollem Maße nutzbar machen kann, wird ein regulärer Katalog, der diese zwangsweise in eine lineare Ordnung bringt, nicht gerecht. Die von uns entwickelte digitale Edition gestattet es hingegen, die Blätter nach vielfachen Kriterien immer wieder neu zu sortieren und zu verknüpfen. Hierzu erweist sich die zugrundeliegende Graphdatenmodellierung als besonders sinnvoll, da sie die Elemente der Edition nicht in einer bloß linear verknüpften, sondern in einer vernetzten Struktur vorhält, die im Frontend des Online-Interface auf vieldimensionale Weise dargestellt werden kann. Ein solches Vorgehen entspricht nicht nur einer Praxis, wie sie für eine Mappe loser Zeichnungen naheliegend ist, sondern auch der oben beschriebenen Form des Repertoirespiels. Denn die Commedia dell’Arte- Darsteller bzw. Puppenspieler mussten ihre Repertoireelemente nicht nur memorieren, sondern auch mnemotechnisch so ordnen, dass sie diese der Situation entsprechend auf unterschiedliche Weise verknüpfen konnten. Das digitale Modell erweist sich damit als eine mehr als adäquate Möglichkeit, die narrative Funktionalität des Divertimento zu erschließen und dem Nutzer sichtbar und zugänglich zu machen. Die Modellierung der zahlreichen externen Bezugnahmen einzelner Zeichnungen auf andere Werke, Praktiken etc. erlaubt es zudem die unterschiedlichen Zusammenhänge sichtbar zu machen, die Tiepolo und seinen Zeitgenossen bekannt gewesen sein durften. Hierdurch lassen sich vielfach neue Kontexte eröffnen, vor deren Hintergrund die Blätter weitere Bedeutungsfacetten erhalten und auf neue Art und Weise gedeutet werden können.