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Kiril Petkov
Erstveröffentlichung: 1997

Abstract

Medium Aevum Quotidianum 37 (1997) 40-57

Abstract (englisch)

Medium Aevum Quotidianum 37 (1997) 40-57

Inhaltsverzeichnis

Die ‘Orientalisierung’ des Balkans in der deutschen Vorstellung
des lS. und 16. JahrhundertL
Eine Untersuchung spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher
Wahrnehmungsmuster in Deutschland
Kyril Petkov
Einleitend sei hervorgehoben, daß dieser Beitrag lediglich Überblickscharakter
haben kann. 1 Sein Umfang macht es unmöglich, alle Einzelheiten en detail zu
erfassen. Er ist jedoch Teil einer umfassenderen Studie über die deutsche
Wahrnehmung der Südslawen des Balkans im Zeitraum der Renaissance und der
Reformation. Die von mir im weiteren Verlauf elaborierte These lautet, daß sich
im Westen im Zeitraum von 1400 bis 1 600, als die gesamte Balkan-Halbinsel mit
der Türkei bzw. dem Ottomanischen Reich gleichgesetzt wurde, eine Vorstellung
vom Balkan entwickelte, die sich am geeignetsten mit dem Begriff ‘ Orientalisierung’
beschreiben läßt. Mit diesem Begriff möchte ich jedoch nicht nur die
formalen und rein politischen Aspekte verbunden wissen, die sich aus der
Tatsache herleiten lassen, daß der Balkan funfhundert Jahre lang Teil des
Osmanischen Reiches war. Lange Zeit vor der osmanischen Eroberung, zu Ende
des 14. und Anfang des 1 5 . Jahrhunderts, neigte man in Mittel- und Westeuropa
dazu, den südöstlichen Teil des Kontinents als ein Gebiet anzusehen, daß nicht
zum übrigen Europa gehörte und erst recht nicht zur lateinisch-christlichen Welt.
Kennzeichen dieser Haltung war es, die betreffende Region als Personifizierung
‘ Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags im Kolloquium fur
spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte, Universität Bielefeld. Für die Einladung
zu diesem Kolloquium möchte ich Prof. Neithard Bulst herzlich danken. Ich möchte mich
zugleich bei den Mitarbeitern von Herrn Bulst, Uli Henselmeyer und Andrea Bendlage, fur die
Hilfe bei der Erstellung der deutschen Version bedanken.
40
des ‘Anderen’ aufzufassen.2 Nur so k01mte es geschehen, daß wesentliche Teile
(Politiker, Chronisten, Kleriker) der westlichen Gesellschaft beim Erscheinen der
Osmanen geneigt waren, grundlegende Elemente dieses Typus des ‘Anderen’ mit
dem Orient zu identifizieren.
Zu Anfang des 15. Jahrhunderts, als der Balkan vom Rest Europas
aufgrund der Erobenmg durch die Osmanen – Angehörige einer orientalischen
Gesellschaft par excellence – in politischer Hinsicht getrermt wurde, fiel diese
gedankliche Verbindung auf fruchtbaren Boden. Schon bald gewarm die
Vorstellung einer kulturellen Alterität der Bevölkenmg des Balkans an Schärfe,
die darin zum Ausdmck kam, daß die Bewolmer von nun an ausschließlich als
Orientalen gesehen wurde.
Mit diese Vorstellung, die die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche
deutschsprachige Welt von der Bevölkenmg des Balkans hatte, möchte ich mich
nun beschäftigen. Eine derartige Herangehensweise soll zugleich deutlich
machen, daß ich in meinen Ausführungen nicht unmittelbar auf das Element
bezugnehmen werde, welches hauptsächlich dazu beitrug, den Balkan zu einer
orientalischen Provinz zu machen, nämlich auf die Osmanen und ihre Präsenz.
Deutliche Spuren ihrer Anwesenheit finden sich jedoch noch immer in allen
Ländern des Balkans – eine Tatsache, die alle sicherlich den jüngsten
Fernsehberichten aus dem bosnischen Kriegsgebiet entnehmen konnten. Ebenso
wichtig ist jedoch auch die Wahrnehmung des Balkans in der westlichen Welt als
ein Ergebnis der Verändenmg der kulturellen Landschaft. Seit mehr als einem
Jal1rhundert ist diese Ausprägung der ‘Orientalisienmg’ der europäischen
Provinzen des osmanischen Reiches Gegenstand deutscher Forschungen und dies
wohl in höherem Umfang als in geschichtswissenschaftliehen Untersuchungen
2 Man kann gute allgemein-theoretische Zusammenfassungen in den folgenden Arbeiten finden·
Ortfiied Schäffler (Hg.), Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und
Bedrohung, Opladen 1 99 1 ; Bernhard Waldenfels, Der Stachel des Fremden, Frankfurt!Main
1990; Manfred S. Fischer, Nationale Images als Gegenstand vergleichender
Literaturgeschichte. Untersuchungen zur Entstehung der komparatistischen lmagologie, Bonn
198 1 ; Petra Dietsche, Das Erstaunen über das Fremde. Vier literaturwissenschaftliche Studien
zum Problem des Verstehens und der Darstellung fremder Kulturen, Frankfurt/Main-Bem-New
York-Nancy 1984; Anitra Karsten (Hg)., Vorurteil. Ergebnisse psychologischer und
sozialpsychologischer Forschung, Darmstadt 1978; Albrecht Classen, Das Fremde und das
Eigene. Neuzeit. In: Peter Dinzelbacher, (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte.
Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1 993, 429-50; Urs Bitterly, Cultures in Conflict:
Encounters Between European and Non-European Cultures, 149 1 – 1 800, München 1 986;
Gabriele Scheidegger, Das Eigene im Bild des Anderen. Quellenkritische Überlegungen zur
russisch-abendländischen Begegnung im 16 und 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch fur Geschichte
Osteuropas 35 ( 1 987) 339-355.
4 1
anderer europäischer Länder. Die Forschungen zur gedanklichen und schriftlichen
Wahrnehmung des türkischen Orients in Deutschland ist reichhaltig, und es ist
daher nicht notwendig, ihre Ergebnisse hier erneut aufzufuhren.3 Vielmehr
möchte ich versuchen, die ‘ Orientalisierung’ der Wahrnehmung der nichttürkischen,
genauer der nicht-osmanischen Bevölkerung des Balkans und
insbesondere der Balkan-Slawen von deutscher Seite zwischen Renaissance und
Reformation zu beschreiben. Diese Wahrnehmung scheint mir ein elementarer
Bestandteil des Bildes des Balkans im deutschen Sprachraum zwischen 1400 und
1 600 zu sein, vor allem da dieser Zeitraum fur die Entstehungszeit nationaler
Stereotype anzusetzen ist, die sowohl Deutschland als auch den Balkan betrafen.
Mit anderen Worten: Im Verlauf der ‘Orientalisienmg’ schärften sich die
Konturen der Unterscheidungsmerkmale der Balkan-Slawen im deutschsprachigen
Raum. Die hartnäckige Ausdauer derartiger langzeitwirkender Vortmd
Einstellungen macht es wenig erstaunlich, daß auch heute noch Überreste
dieser Wahrnehmung deutlich sichtbar sind.
Vorab möchte ich zwei Aspekte hinsichtlich der Darstellung der BalkanSlawen
aufzeigen, mit denen sie von der interessierten deutschen Öffentlichkeit
als ‘Orientalen’ wahrgenommen wurden. Zum einen war die Entwicklung zur
‘Orientalisierung’ der nicht-türkischen Bewohner des Balkans nicht der einzige
oder vorherrschende Trend in den deutschsprachigen Gebieten des Heiligen
Römischen Reiches. Während des gesamten Zeitraums koexistierte er mit
verschiedenartigen Wahrnehmungen des Balkans. Auffallend ist jedoch die
Tatsache, daß diese Entwicklung beinahe alle anderen Facetten des südslawischen
Bildes des Westens beeintlußte, mit einer besonderen Bedeutung
erfullte und schließlich alle anderen Inhalte überdauerte. Zum anderen war die
‘Orientalisierung’ nach meiner Erkenntnis weder ein einheitlicher Prozeß noch
ein konstruiertes Konzept deutschen Bewußtseins im 1 5 . und 1 6. Jahrhtmderts.
Es war das Ergebnis einer Kombination verschiedener Entwicklungen und
Vorstellungen vom Balkan, von denen einige nicht von Natur aus Qualitäten
3 Siehe z. B. Kar! Schottenloher, Bibliographie zur deutschen Geschichte im Zeitalter der
Glaubenspaltung, 1 5 1 7-1 585, Bd. 4, Leipzig 1938, 677-687; August Scholtze, Die
orientalische Frage in der öffentlichen Meinung des sechzehnten Jahrhunderts, Frankenthai
1880; Leo Gerstenberg, Zur Geschichte des deutschen Türkenschauspiels, Meppen 1902; B.
Kamil, Die Türken in der deutschen Literatur bis zum Barock und die Sultangestalten in den
Türkendramen Lowenstens, Kiel 1935; Robert Schwoebel, The Shadow of the Crescent: The
Renaissance Image ofthe Turk, Neulicoop 1967; Carl Göllner, Turcica Ill. Die Türkenfrage in
der öffentlichen Meinung Europas im 16. Jahrhundert, Bukarest-Baden-Baden 1978; Comelia
KJeinlogel, Exotik-Erotik. Zur Geschichte des Türkenbildes in der deutschen Literatur der
fiühen Neuzeit (1453-1800}, Frankfurt/ Main-Bem-New York 1989; Yüksel Kosadoru, Die
Türken. Studien zu ihrem Bild und seiner Geschichte in Österreich, Klagenfurt 1990.
42
besaßen, sie als ‘orientalisierend’ zu definieren, sondern vielmehr eine
eigenständige, unabhängige Bedeutung hatten. Andere beinhalteten eine explizit
orientalische Konnotation. Die Auswirkung ihrer Kombination und ihre graduelle
Akkumulation :fuhrte jedoch zur Herausbildung des Bildes einer Gesellschaft, die
beinahe alle orientalischen Eigenschaften besaß. Nach meiner Einschätzung
erreichte die Menge dieser Konzepte und Vorstellungen am Ende des 16.
Jahrhunderts einen Sättigungsgrad, der es als ausreichend erscheinen ließ, die
Südslawen als ‘Orientalen’ zu bezeichnen. Diese Ideen bildeten darüber-hinaus
die Basis fur die spätere barocke und aufklärerische ‘Orientalisierung’ des
Balkans.
Aus meiner Sicht stellen sich die zentralen Antriebskräfte in der
Herausbildung der deutschen Wahrnehmung der Südslawen als Orientalen
folgendermaßen dar: Erstens wurden Slawen, Bulgaren, Bosnier, Serben und
Kroaten als ‘Ungläubige’ oder ‘Heiden’ angesehen, obschon sie sich bereits im
Frühmittelalter zum Christentum bekaMt hatten und letzte Reste einer
heidnischen Bevölkerung unter ilmen bereits im zehnten Jahrhundert
verschwunden waren. Zweitens war zwnindest im 1 5 . Jal1rhundert die EriMeJung
an die Verbindung des Balkans mit den Mongolen in hohem Maße präsent. Als
dritter und vielleicht wichtigster Faktor ist eine gedankliche Verbindung der
Südslawen mit den osmanischen Türken zu erwähnen, die sich seit dem letzten
Jahrzehnt des 14. Jallfhunderts nachweisen läßt und zum Hauptbestandteil eines
südslawischen ‘Orientalismus’ wurde. Viertens gab es eine Vorstellung von den
Südslawen als einer verweichlichten Gesellschaft von Sklaven, die nun Teil
abgeleitet und zwn Teil unabhängig von letztgenanntem Aspekt war. Schließlich
sei auf die Entwicklung hingewiesen, in der der Balkan in geographischer,
räumlich-klimatischer Hinsicht zunelunend als orientalische Provinz aufgefaßt
wurde, ungeachtet seiner tatsächlichen Lage. Im Verlauf werde ich kurz diese
funf Facetten der Wahrnehmlmg der Südslawen im Heiligen Römischen Reich
diskutieren, ihre Rolle als wesentliche Elemente bei der Konstruktion eines
südslawischen ‘Orients’ nachzeichnen, die Mechanismen ihrer wechselseitigen
Beziehungen beschreiben und sie schließlich in jenen Zeitrawn einordnen, in dem
die Konstruktion eines vollentwickelten Wal1fllehmungsmusters abgeschlossen
war.
Beginnen wir mit der deutschen Vorstellung, daß die Balkan-Slawen der
Renaissance und des Zeitalters der Refonnation ein ‘ ungläubiges’ und
‘heidnisches’ Volk waren. Anfänglich war diese deutsche Vorstellung
unabhängig von einem ‘Konzept des Orients. ‘ ll1re Wurzeln lagen in den
frülunittelalterlichen Auseinandersetzw1gen zwischen Franken und Bayern auf der
einen Seite und Bulgaren und Slawen auf der anderen. Erste Feindseligkeiten
43
lassen sich seit der Zeit Dagoberts im 7 . Jahrhundert nachweisen. Der Konflikt
weitete sich jedoch in den 820er Jahren aus, während der Regierungszeit von
Ludwig dem Frommen und dem bulgarischen Khan Omurtag, als es zum offenen
Krieg zwischen Ostfranken und Bulgaren karn.4 Die frütunittelalterlichen
Bulgaren waren weder ein slawisches Volk, noch waren sie mit den Südslawen
insgesamt identisch. Zeitgenössische deutschsprachige Autoren waren sich dieser
Unterscheidung bewußt. Deren Nachfolger des 1 4. und 1 5 . Jahrhunderts waren
weit weniger einfiüllsarn und präzise in bezug auf die Völker, die ‘ hinter dem
Fluß Sava’ wohnten. Mit der Zeit wurde die exakte ethnische und religiöse Natur
derjenigen, die südlich dieses Flusses lebten, inuner undeutlicher. Für eine Anzalll
deutscher Autoren, Übersetzer und Kompilatoren, die das Frankenreich Karls des
Großen und seiner Nachfolger mit dem spätmittelalterlichen Heiligen Römischen
Reich verglichen, stellte dieser Fluß eine Art politische Grenze dar, die kulturelle
und religiöse Gemeinschaften voneinander trennte. Auf dieser Seite die
Deutschen, ob Franken oder Bayern, Träger der Zivilisation und des christlichen
Glaubens. Auf der anderen Seite standen die barbarischen Ungläubigen. Im 1 1 .
Jahrhundert, mit der Trennung von lateinisch-katholischem und griechischorthodoxem
Glauben, und im 1 2 . Jahrhundert, mit den Kämpfen zwischen
deutschen Kreuzfahrern und orthodoxen Balkan-Slawen verhärteten sich die
Fronten. Die feindliche Einstellung der Orthodoxen gegenüber den frommen
Deutschen, die arn heiligen Krieg gegen die Ungläubigen teilnahmen, machte sie
selbst zu Ungläubigen. Dieses Stereotyp findet sich bereits in zahlreichen
Belegen des Frühmittelalters und war eine gängige Vorstellung. Ungewöhnlich
war jedoch die Tradierung derartiger Implikationen bis in die Zeit der
Renaissance. Für viele Deutsche waren und blieben die Menschen südlich des
Flusses Sava ein indifferentes heidnisches Ganzes, das oftmals in der
Verallgemeinerung ‘Bulgaren und Slawen’ verschmolz.
Einige Beispiele sollen zeigen, wie der Mechanismus der veränderten
Wahrnehmung der Balkan-Slawen des 14. und 1 5 . Jahrhunderts als ‘Ungläubige’
funktionierte. Das erste stammt aus der Hansestadt Lübeck tmd ist in der
Stadtchronik überliefert, die wahrscheinlich in den 1 380-90-Jahren von einem
Franziskanermönch mit Namen Detmar geschrieben wurde. An einigen wenigen
Stellen nimmt Detmar Bezug auf den Südosten Europas. Eine dieser Stellen ist
besonders aufschlußreich. Sie handelt von der Schlacht von Adrianopel im Jahr
1205 zwischen der überwiegend französischen Armee der lateinischen Eroberer
von Konstantinopel, angefuhrt von Baldwin von Flandem und der bulgarischen
‘ Johannes Fried, Der Weg in die Geschichte: Die Ursprünge Deutschlands bis 1 024, Berlin
1994, 356 ff.
44
Annee von Kalojan, die von griechischen und kumanischen Truppen unterstützt
wurde. Die Franzosen verloren die Schlacht, ihren Anführer, viele Ritter tmd den
strategischen Vorteil auf dem Balkan. Für Detmar hatte das Geschehen primär
religiöse Dimensionen. Er schrieb: ‘In deme jare Cristi 1205 do was en grod
slril. lwe heydensche koninghe, de koningh von Blanken unde de koningh von
Bulgarie, de streden mit den Cumanen, Greken unde Turken, unde wuonnen den
zeghe unde doden de besten in deme heere den Greken unde der Turken. ‘5
Detrnar wußte sehr wohl, daß die Griechen – obwohl Schismatiker – dem
christlichen Glauben angehörten. Der einfachste Weg dem Feind einen Namen zu
geben, war ihn als ‘ ungläubig’ zu beschreiben. Auf diese Art wurde das
vermeintliche ‘ Heidentum’ der Bulgaren in das 1 3 . Jahrhundert übertragen. So
verwundert es auch nicht, daß fiir Detmars Nachfolger die deutschen Kreuzfahrer
des Kreuzzugs von Nicopolis im Jahr 1396 das ‘Land der Ungläubigen’
erreichten, obwohl in diesem Fall ein anderer Faktor Einfluß auf die
Wahrnehmung nahm – nämlich die Osmanen, die auch als Ungläubige angesehen
wurden.
Detmar lebte weit entfernt von den Bewohnern des Balkans und beschrieb
sie als Heiden des 13. Jahrhunderts. Aber auch ein Zeitgenosse Detmars, der in
größerer Nähe zu ihnen lebte, bezeichnete sie als Ungläubige. Peter Suchenwirt
war ein Dichter, der am Hof der Österreichischen Herzöge Albrecht II. und
Albrecht III. lebte. Er sang seine volkstümlichen Lieder, die hauptsächlich über
glorreiche Kämpfe von tapferen Rittern wie Burggraf Albrecht von Nümberg,
Graf Friedrich von Ellenbach oder Graf Friedrich von Kreuzeck handelten. All
diese adeligen Abenteurer suchten Ruhm in heidenschoß und Suchenwirt
beschrieb mit offensichtlicher Freude ihre Erfolge gegen die ‘ Ungläubigen. ‘ Unter
jenen führten die Litauer, zu dieser Zeit in der Tat Heiden, die Liste an. Danach
kamen die Südslawen in der Gestalt der orthodox-christlichen Bulgaren, Serben
und Bosnier. Der Balkan war ein Gebiet des Heidentums und somit eine
geeignete Herausfordenmg für den Mut seiner Helden, die deutschen und
Österreichischen Ritter. Darüberhinaus mangelte es den Bewohnern des Balkans
nach Suchenwirts Auffassung an allen Qualitäten, die er den christlichen Rittern
zuschrieb.6 So verlieh er ihrer ‘heidnischen Art’ noch eine zusätzliche Dimension.
Suchenwirts Vorstellungen eines südslawischen Heidentums erfuhren
offensichtlich allgemeine Akzeptanz in den östlichen Gebieten der deutsch-
􀋚 Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhunden, Bd. 1 9. Die Chroniken
der niedersächsischen Städte. Lubeck, Teil I . Göttingen 1 967, S. 285.
6 Alois Primisser (Hg.), Peter Suchenwins Werke aus dem vierzehnten Jahrhunderte. Ein
Beitrag zur Zeit- und Sittengeschichte, Wien 1 827, 22-23, 28, 46-47, 52-53.
45
sprachigen Welt. Eine vierzig Jahre später, um 1 440, stattgefundene Episode
wirft zusätzliches Licht auf diesbezügliche Einstellungen des Adels. Die
Anekdote ist überliefert im Tagebuch der berühmten Hofdame Helene
Kottannerin und berichtet über die Reaktion von Elisabeth, Tochter Kaiser
Sigismunds und Witwe des Herzogs Albrecht IV., als dieser bei ihrer Suche nach
einem neuen Ehemann die Hand des orthodoxen Serbenfursten Lazar, eines Sohn
des Despoten George Brankovitch, angeboten wurde. Die Königin bestÜllJlte ihre
Höflinge mit den Worten: Liebe herren, gebt mir nicht ainen haiden, gebt mir
ainen kristen pauern!7 Dieses eine Wort verdeutlicht die Langlebigkeit der
Vorstellung von den ungläubigen Slawen, die nicht nur auf die Lyrik beschränkt
blieb, wo sich Realität in Schwarz-Weiß-Malerei widerspiegelte: ‘wir’ und ‘sie,’
‘Christen’ und ‘Ungläubige.’
Das deutlichste Beispiel stanunt vom Ende des 1 5 . Jahrhunderts und ist in
Teilen der zahlreichen Arbeiten des bayerischen Geschichtsschreibers Veit
Arnpeck niedergeschrieben. Seine Ansicht ist fur meine These in vielfacher
Hinsicht wichtig. Denn zu ein- und derselben Zeit überspitzt sie die Entwicklung
einer spätmittelalterlichen deutschen Wahrnehmung der Bevölkerung des Balkans
als ‘Ungläubige’, liefert zugleich ein Beispiel dafur, wie diese Form der
Wahrnehmung am Leben gehalten wurde w1d zeigt die Verbindung von
natürlicher Verbreitung und angeblichem südslawischen Heidentum, das heißt die
Vorstellung von den Südslawen als ‘Türken.’ Ampecks Vorstellung wird faßbar
beim Vergleich von Erzählungen aus zwei seiner Werke, der ‘Österreichischen
Chronik’ und der ‘Bayerischen Chronik’, und der vorangehenden Überlieferung
eines fur die Reichsgeschichte wichtigen Ereignisses, der Schlacht von Mühldorf
vom 28. September 1322. An diesem Tag gelang dem Wittelsbacher Ludwig von
Bayern der entscheidende Sieg über die Habsburger Armeen unter den Herzögen
Friedrich und Leopold, der ihm schließlich den Zugriff auf die Reichskrone
sicherte. Beinahe die gesamte schriftliche Überlieferung, die sich auf Berichte
über den Verlauf der Schlacht stützte, schrieb die habsburgische Niederlage dem
Beistand der Gottlosen zu, den die Habsburger von ihren ungarischen
Verbündeten, hauptsächlich heidnischen Kurnanen, erhalten hatten. Der Großteil
der deutschen Chroniken des 1 4. und frühen 1 5 . Jahrhunderts ging nicht auf die
eigentliche Herkunft der habsburgischen Verbündeten ein. Sie nannten sie einfach
‘Ungarn und Ungläubige.’ Wenige Beobachter identifizierten sie als Kumanen,
‘ Stephan F. L. Endlicher (Hg.), Aus den Denkwürdigkeiten der Helene Kottanerin, 1439,
1440, Leipzig 1 846, 15-16.
46
andere behaupteten, daß die ‘Ungläubigen’ Mongolen gewesen seien. 8 In seiner
eigenen Darstellung der Schlacht schloß sich Arnpeck den Deuttmgen an, die ihm
seine Quellen vorgaben. An die Stelle der gemeinhin akzeptierten ‘ungläubigen’
Verbündeten von Erzherzog Friedrich setzte er einfach ‘Bulgaren und Slawen.’9
Aus formeller Sicht gab es nichts, was diese Auswahl gerechtfertigt hätte.
Arnpeck wußte zwar, daß Heiden in Diensten der Habsburger standen. Aber als
er seinen Text niederschrieb, waren die Kurnauen bereits verschwunden und auch
der Schrecken und die Angst vor einer Bedrohung durch die Mongolen nicht
mehr akut. Daher ergriff er die für ihn naheliegendsie Lösung: Er identifizierte die
ungläubigen Verbündeten der Habsburger mit dem einzigen Volk in der Region,
dessen Ruf als Heiden wohlbekarmt war, den Südslawen. An dieser Stelle ist es
wichtig festzuhalten, daß Arnpeck bei der Schildenmg desselben Ereignisses in
der Bayerischen Chronik ‘Bulgaren und Slawen’ schließlich durch ‘Türken’
ersetzte. 10 Diese Entwicklung von Arnpecks Vorstellung in bezug auf Herzog
Friedrichs heidnische Verbündete zeigt die deutlichste gedankliche Verknüpfung
von heidnischen Südslawen mit den Türken.
Bevor ich mich eindeutigeren Zeugen dieses Prozesses zuwende, möchte
ich eine andere Verbindung mit dem Orient erwähnen, wie sie von deutschen
Autoren des 1 5 . Jahrhunderts hergestellt wurde. Wenn ich angeführt habe, daß
die Mongolen als mitteleuropäisches Phänomen in Veit Arnpecks Erinnenmg
wahrscheinlich verschwunden waren und er bestrebt war sie durch ‘bekanntere’
Ungläubige zu ersetzen, heißt das nicht, daß die Deutschen den gewaltigen
Ansturm der Mongolen in der Mitte des 1 3 . Jahrhunderts vergessen hatten oder
daß sie sich der Tatsache bewußt waren, daß diese einen beträchtlichen Teil
Osteuropas in ihrem Besitz hielten. 1 1 Zumindest ein deutscher Autor des 1 5 .
Jahrhunderts, der Konstanzer Bürger Ulrich von Richental, bewies, daß dies nicht
der Fall war. De1m seine Arbeit legte das Fundament fur viele nachfolgende
Arbeiten der Assoziation des Balkans mit Asien und dem Orient. Bekarmtlich
• Allgemeine Darstellung bei Wilhelm Erben, Die Berichte der erzählenden Quellen über die
Schlacht bei Mühldorf ln. Archiv fur Österreichische Geschichte I OS ( 191 7). 229-5 16.
Wichtige einzelne Quellen sind Johannes von Viktring: Friedrich Schneider (Hg.), Iohannis
Abbatis Victoriensis Liber certarum historiarum, Bd. 2, Hannover-Leipzig 1 909-10 (MGH SS,
vol. 36, 1-2), 1 20, und Georg Leidinger (Hg.), Chronica de Gestis Principum (Bayerische
Chroniken des XIV. Jahrhundert) Hannover-Leipzig 1 9 18, 93.
9 Georg Leidinger (Hg.), Veit Arnpeck, Sämtliche Chroniken, München 1 9 1 5 , 2. Aufl. Aalen
1969, 781.
‘0 Ebd 286.
11 Siehe z. B. Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden: die Mongolen im Urteil des
Abendlandes vom 1 3 . bis in das 1 5. Jahrhundert, Sigmaringen 1 994.
47
enichteten die Mongolen im Gefolge ihres heftigen Sturms durch Ost- und
Südosteuropa eine Art politisches Herrschaftssystem im Großteil dieser Gebiete.
Auf dem Balkan war der Druck der Mongolen am stärksten in Bulgarien und
Serbien, weniger stark in Byzanz. Am Ende des 1 3 . Jahrhunderts waren die
Bulgaren und Serben tributpflichtig und mußten mongolische Eingriffe in ihre
inneren Angelegenheiten dulden. Für kurze Zeit saß ein unbedeutender
mongolischer Fürst auf dem bulgarischen Thron. Er wurde bald vertrieben und
seit 1330 schwand der mongolische Einfluß auf dem Balkan mehr und mehr, um
durch denjenigen der Osmanen ersetzt zu werden. Diese Entwicklungen wurden
auch im Reich wahrgenommen und die zeitweilige politische Unterwerfung der
Balkan-Slawen wurde als sicheres Zeichen dafür gewertet, daß sie zu Asien
gehörten. Derart war zumindest die Interpretation des Ulrich von Riebental in
seiner Chronik des Konstanzer Konzils, die er in den 1 430em und 1 440em
verfaßte. Mit dem aufrichtigen Wunsch, die Bedeutung des Konzils zu betonen,
nannte Riebental in seiner Chronik die Teilnehmer des Konzils, die aus allen
damals bekannten Teilen der Welt stammten. Bemüht um eine sorgfaltige
Aufzählung, entschied sich Riebental für die Nennung aller tatsächlichen und
erfundenen Gesandtschaften (darunter die des Presbyter Johannes tmd die des
tatarischen Großkhans) in geographischer Reihenfolge, geordnet nach den
Kontinenten, aus denen sie angeblich stammten. Daher wissen wir, daß der
Gesandte des bulgarischen Herrschers aus Asien kam. Wenige Zeilen später fuhrt
Riebental tatsächlich aus, daß Bulgarien in Asien liegt, zusammen mit Tatarien,
Indien, Arabien, Äthiopien und dem Heiligen Land, und daß seine Bewohner der
mongolischen Goldenen Horde tributpflichtig seien. Möglicherweise hatte
Richental vom Reich der Wolgabulgaren gehört und verwechselte es mit dem
bulgarischen Tenitoriurn auf dem Balkan, das zu diesem Zeitpunkt bereits von
den Osmanen erobert worden war. Wie dem auch sei: Eine derartige
Lokalisierung der ihm bekannten Bulgaren wies dem südslawischen Gebiet eine
starke Verbindung zum Orient zu. Ein Blick auf Riebentals Liste kirchlicher
Würdenträger und weltlicher Herrscher des Balkans bestätigt den Eindruck, daß
die Lokalisierung einzelner Gebiete fur Riebental keine rein geographische
Übung darstellte, denn den Großteil des Balkans verlegte er nach Afrika.
Byzantiner und Serben, die nach Riebentals Meinung weder Juden noch
orthodoxe Griechen waren, standen fur ihn in Verbindung zu Afrika. Um das Bild
des Balkans als einer Nahtstelle der Kontinente zu vervollständigen, fugte
Riebental hinzu, daß die Bosnier, die wohlbekannten Häretiker des spätmittelalterlichen
Europas, Teil dieses Europas seien. Zusammenfassend läßt sich
feststellen: Aufgrund einer politischen Verbindung zu den Mongolen wurden
Teile der Südslawen zu Bewohnern Asiens; aufgrund ihres Abfalls vom
Katholizismus wurden andere Südslawen, die Serben, zu Einwohnern Afrikas.
48
Die Bosnier wurden von einer derartigen ‘Umsiedlung’ verschont, und man kann
sich fragen, ob dieser Umstand möglicherweise der Tatsache zuzuschreiben ist,
daß Teile ihres Landes tmter der Herrschaft der zweifelsfrei europäischen
Venezianer standen. Riebentals Vorstellungskraft und seine politischen und
religiösen Maßstäbe für die Defmition kultureller und geographischer Identität
schnitten einfach eine neue Karte der Welt zu. Auf ihr war der Balkan die
Schnittstelle von drei Kontinenten, und sein größter Teil lag außerhalb Europas,
in Afrika und im Orient -‘2
Obwohl Richentals Zeugnis als Beispiel für die Verbindung des Balkans
mit dem Orient aufgrund der Unterwerfung durch die Mongolen einzigartig ist,
gab es zahlreiche Versuche, die mit vergleichbaren Vorgaben arbeiteten.
Jedenfalls scheint die Verbindtmg von geographischen Neigungen mit kulturellen
Eigenschaften nicht allein auf das frühmoderne deutsche Bewußtsein beschränkt
gewesen zu sein. In der Mitte des 15. Jahrhunderts entwickelte sich jedoch schon
ein weiteres Argurnentationsmuster, die Südslawen als Orientalen zu
identifizieren: das gewaltsame Erscheinen der osmanischen Türken.
Als der bereits erwähnte Veit Ampeck in den fiiihen 1490er Jahren seine
Bayerische Chronik tmd die Geschichte der Schlacht von Mühtdorf schrieb,
entschied er sich für eine Neubetrachtung der Identifikation der ungarischen
Verbündeten, die er wenige Jahre zuvor in seiner Österreichischen Chronik
vorgenommen hatte. Anstelle der ‘Bulgaren und Slawen’ waren die ungläubigen
Verbündeten Herzog Friederichs nun ‘Türken . ‘ 1 3 Diese Ansicht war zur Zeit
Arnpecks weder neu noch beschränkte sie sich auf wenige Zeugnisse. Seit der
Zeit des Kreuzzugs von Nicopolis im Jahr 1 396 und insbesondere seit dem
Anfang des 1 5 . Jahrhunde11s gab es vielfältige Bestrebungen die Annahme
durchzusetzen, der Balkan wäre von nun an ein ‘türkisches Land’ oder ‘Türkei’,
die Sprache ‘Türkisch’ und alle Bewohner dieser Gebiete letztendlich ‘Türken’ .
Tatsächlich handelte es sich beim Großteil der ins Auge gefaßten Territorien,
Sprachen und Völker um Südslawen. Wie im Fall der Verbindung zu den
Mongolen war die Schaffung eines Bildes der Balkanslawen als orientalische
Türken das Ergebnis der osmanischen Erobenmg ihrer Gebiete. Ursprünglich war
die Bedeuttmg dieser Gleichsetzung eine rein politische. Nach gleichem Muster
drückte sich die Eroberung zuerst im Verschwinden der Namen der
12 Ich benutze die Ausgaben von Michael Richard Buck (Hg.), Ulrich von Richental, Chronik
des Constanzer Concils, 1 4 1 4 bis 1 4 1 8, Hildesheim-New York 1 9 7 1 , 47, 158-1 59, 1 90-1 9 1 ,
202-207, und Ulrich von Richental, Chronik des Constanzer Conzils, 1 4 1 4 bis 1 4 1 8 . Text der
Aulendorfer Handschrift, Meerburg-Leipzig 1936, lxxviii, lxxx, lxxxvii, lxxxviii, lx.
13 Siehe oben, Arun. 9.
49
mittelalterlichen slawischen Gebiete und Territorien aus, die durch ‘Türkei’ oder
‘türkisches Land’ ersetzt wurden. Eine Vielzahl der Berichte über den Kreuzzug
von Nicopolis zum Beispiel, die kurz nach seinem Ausgang oder in den folgenden
Jahrzelmten erschien, behauptete, daß die Kreuzfahrer ausgezogen waren, mn in
der Türkei zu kämpfen. Einer der ersten Eindrucke muß derjenige des Nürnberger
Patriziers Ulmann Stromer gewesen sein, der seinen Bruder bei Nicopolis verlor.
Prägnant notierte er in seinem Tagebuch: Erhart Stromer meins bntder enyk/ein
starb in dem grossen zug, do di striten in der Türkey der nyder lagen anno 1395
zu sant Michayels tag. 14 Zu der Zeit, als Stromer seine Erinnerungen
niederschrieb, im Jahr 1 4 1 1 , erhielt der Rat der Stadt Nümberg die Nachricht von
Burggraf Friedrich IV., der sich in Buda aufhielt, daß mechtige botschofle von
den hern der Türkei die do ligt uf disseifen des meres zu Friedensverhandlungen
in die ungarische Hauptstadt gekommen waren. Zwanzig Jahre später, in den
1430er Jahren, erklärte der Dominikaner Hermann Korner, der an der Fortsetzung
der Stadtchronik Lübecks beteiligt war, daß im Jahr 1 392 ein Heer Kaiser
Sigismunds intravif Turchiam et depopulatus est eam, urbes et castra, opida et
vilas espugnando, conjlagrando etfunditus destruendo. In seiner Erzählung über
Nicopolis erwälmte er auch die politischen Dimensionen des Zwecks des
Kreuzzugs: der Kreuzzug fand statt in regnum Thurcaf7Jm. 15
In der Mitte des 15. Jahrhunderts dachte Michael Beheim in seinen
Gedichten an den Balkan als eine politisch organisierte Einheit mit dem Namen
‘Türkei.’ Um 1460 schrieb er eine Reihe längerer Gedichte über den Kreuzzug
von Varna, der 1444 vom jungen polnisch-ungarischen König Vladislav Ill.
Jagiello angefiihrt wurde. Beheims Informationen stammten aus den Erinnerungen
des Ritters Hans Mögest, einem Überlebenden des Kreuzzugs. Beheim und sein
Gewährsmann waren sich der Tatsache bewußt, daß die Kreuzfahrer mehrere
slawische Territorien auf dem Balkan durchquerten, zmn Beispiel Serbien und
Bulgarien. Ihre Einwolmer wurden allgemein als Griechen angesehen, aufgrund
ihres griechisch-orthodoxen Glaubens. Als Beheim daraufhin fortfi.thr, das Land
östlich der ungarischen Gebiete zu beschreiben, notierte er, daß die Kreuzfahrer
14 Ulman Stromer, Puchel von mein geschlechl und von abenteuer 1349 bis 1407 (Die
Chroniken der deutschen Städte I. Nümberg 1) Göttingen 1901, 48-49 und 84.
‘5 Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Bd. 26, Teil 2, 50,
Anm. I , (Version KB), und Jacob Schwalm (Hg.), Die ‘Chronica Novella’ des Hermann
Korner, Göttingen 1895, Teil 11.: ‘Chronica Novella de Quarto Opere’ bis 1435, Lüneburger
Handschrift, Fassung D, und ‘Chronica Novella de Secundo Opere’ bis 1423, Linköppiger
Handschrift, Fassung B, 348-349.
50
in die rechten Turkeie gekommen waren.16 Daher gab es in der Mitte des 1 5 .
Jahrhunderts für gut tmterrichtete Deutsche stichhaltige Gründe anzunehmen, daß
sich eine türkischsprachige, von türkischer Bevölkerung bewohnte Türkei von der
Schwarzmeerküste bis nach Nicopolis erstreckte. Im Verlauf der Zeit dehnte sich
diese rechte Turkeie weiter aus. 1479 berichtete ein anderer Nürnberger, der
Wallfahrer Hans Tucher, daß Item von Constantinopel durch die turckey in das
künigreych gen bosna bey andert halb hundert mei/. 17 Für ilm bedeckte die
Türkei also bereits das gesamte vormals serbische Gebiet. Diese geographische
Zuordnung betraf ihre westliche Ausdelmung. Ihre nördliche Ausdelmung wurde
in einem Kapitel der populären Novelle ‘Fortunatus’, die am Anfang des 1 6.
Jahrhtmderts verfaßt wurde und auf Ereignisse und Begebenheiten bis 1 450
zurückging, mit den Grenzen der zwei Walacheien, also der Donau,
gleichgesetzt.18 Der Ulmer Dominikaner Felix Faber, der den Spuren Tuchers ins
Heilige Land 1483 folgte, stellte auf seinem Weg entlang der dalmatischen Küste
fest, daß . . . wir am End der Christenheit waren, denn Bosna, das Reich, und
Achaia oder A/bania ist alles türkisch. 19
Am Ende des 1 5 . Jahrhunderts fru1d die Ansicht einer territorialgeographischen
Einheit mit dem Namen Türkei Ausdruck in der deutschen
Kartographie. In der berühmten Weltchronik des Hartmann Sehedei zum Beispiel
wird die Karte des Balkans mit der Inschrift ‘Turcia’ überschrieben 20 Auf der
wesentlich detaillierteren Karte des Druckers Florian Ungler wurde dreißig Jahre
später das gleiche Gebiet mit der gleichen Inschrift bezeiclmet.21 Von hier aus
war es nur noch ein kleiner Schritt zur überaus vielsagenden Beschreibung des
Balkans im berüJuntesten tmd einflußreichsten Atlas des 1 6. Jahrhunderts, dem
Theatntm Orbis Terrarum des Abracham Ortelius, gedruckt 1 570. Bei der
16 Hans Gille und lngeborg Spriewald (Hg.), Die Gedichte des Michael Beheim, Bd. I , Berlin
1 968, 340
1• Erhard Pascher (Hg.), Das Reisebuch des Hans Tucher, Klagenfurt 1978, I 08.
18 H.-G. Rotoff (Hg.), Fortunatus: Studienausgabe nach der ‘editio princeps’ von 1 509,
Stuttgart 1 9 8 1 , 78-80; und Jan-Dirk Müller, (Hg.), Romane des 1 5. und 16. Jahrhunderts.
Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten, Frankfurt/Main 1 990, 383-586, besonders
462-463.
19 Helmut Roob (Hg.), Die Pilgerfahrt des Bruders Felix Faber ins Heilige Land, ANNO
MCDLXXXIII, Heidelberg 1 964, 1 7 und 19.
😮 Hartmann Schedel, Buch der Chroniken. Nürnberg 1493, cclxxii.
:1 Reproduktion in Peter H. Meurer, Fantes Cartographici Orteliani. Das ‘Theatrum Orbis
Terrarum’ von Abracham Ortelius und seine Kartenquellen, Weinheim 1991, 353 und Tabelle
Nr. 72.
51
Beschreibung der Aufteilung Asiens notierte Ortelius, daß der dritte Teil dieses
Kontinents aus dem Gebiet zwischen Schwarzem Meer, der Ägäis und dem
Mittelmeer bestand – mit einem Wort: dem Balkan. Die geeignetsie Bezeichnung
für die gesamte Region sei ‘Türkei. ’22
Derart auf Karten dargestellt, war es nur folgerichtig, sich die südslawischen
Siedlungsgebiete als ‘östliche Provinzen’ vorzustellen. Diese
Entwicklung zeigte sich in den vielbeachteten deutschen Kosmographien.
Hartmann Schedels Weltchronik, die auch für den praktischen Nutzen bestimmt
war, spielte im späten 1 5 . Jahrhundert eine vorherrschende Rolle. Obwohl er die
südslawischen Gebiete in einem Unterkapitel zu Ungarn behandelte und die
Bevölkerung des Balkans auf innereuropäische Migration zurückfuhrte, und
obwohl er sich ausdrücklich auf Enea Silvio Piccolominis ‘Europa’ bezog,
drückte Sehedei seine deutsche Sichtweise dadurch aus, indem er schrieb, daß
Misi und Tribali (die urtrakischen Stämme), unter denen er die Südslawen
verstand, östlich des ungarischen Gebietes lebten. Ein halbes Jahrhundert später
entwickelte Sebastian Münster die gleiche Vorstellung. Für ihn bestand kein
Zweifel an der Tatsache, daß das Ungerland gegen Orient stoßt an die Jender
Serviam . . . 23 Johannes Piscatorius, dessen Abhandltmg über die Osmanen zu
dieser Zeit erschien, vertrat einen etwas differenzierteren, aber nicht weniger
deutsch-zentrierten Standpunkt. Aus seiner Aufzählung der ottomanischen
Provinzen des Balkans wird deutlich, wie sich mit der abnehmenden Entfemtmg
von der Hauptstadt des Orients (Konstantinopel) als europäisch angesehene,
kulturelle Eigenschaften der südslawischen Gebiete langsam aber sicher
verminderten.24 Die Südslawen begannen ihre lange ‘Reise’ in Richtung Orient,
die, wie es den Anschein hat, auch heute noch nicht zu Ende ist. Eine
vergleichbare Haltung findet sich im 1 6 . Jahrhundert bei den Autoren
􀂖 Richard A. Skelton (Hg.), Abracharn Ortelius, Theatrum Orbis Terrarum, Antwerpen, 1 570,
Amsterdarn 1 967, 3: ASIA … Hanc veteres mu/tifariam diuisere: hodie vero eam in quinque
partes, secundtun eius lmperia quibus adminislrawr. nobis non inepte diuidi posse
videtur … Tertiam partem Ottomanorum prosapia occupat, continetque quicquid terrarum es/
intra Pontum Euxinum, Mare Aegaeum, (nunc Archipelagus dictum) Mediterraneumque,
Aegyptum, Sim1m Arabicum, Persiqumque, Tigri jluuio, Mari Caspio, & !sthmo, qui illfer
hoc, & Ponlum Euxinum videre esl.
23 Richard A. Skelton (Hg.), Sebastian Münster, Cosmographie, Basel, 1 550, Amsterdam,
1968, dccccxcvi.
2′ Johannes Piscatorius, Herkommen, ursprung unnd auffgang des Türkischen unnd
Ottomanischen Kayserthumms, unnd was die selben ftir Künigreich, Länder und Stett, so inn
kurtzen Jahren, den Christen, abgedrunden sollen haben,… außgezogen unnd beschrieben
durch Johannem Pescatorium, Augsburg: Heinrich Steiner, 1541, ohne Seiten.
52
geographischer Abhandlungen und Handbücher, Sebastian Franck und Mattbias
Quad. Sie entnahmen die Idee der Vormachtstellung Europas, des ‘schönsten
Kontinents’ dem ungeheuer populären Werk des Johannes Boemus, wandten sie
auf den mittleren tmd östlichen Balkan an tmd beschrieben Thrakien und
Bulgarien als Gebiete, deren physikalische Oberfläche so beschaffen war, daß
ihre Aufualune in Europa kaum gerechtfertigt erschiene.
Doch nicht allein Karten und Kosmographien trugen zur Verbreitung der
zeitgenössischen Vorstellung des Balkans als einer türkischen Provinz bei.
Andere bildliehe Quellen belegen die gleiche Einstellung nicht weniger
überzeugend. Die Darstelhmgen imaginärer bosnischer Wappen sind die
geeignetsten Fallbeispiele. In Ulrich von Richentals Chronik tragen die
bosnischen Wappen überkreuzte Hölzer mit aufgesetzten Köpfen von Mohren.25
Für Richental lag Bosnien zwar in Europa, die Wappen suggerierten jedoch eine
ganz andere gedankliche Verbindung. Eine noch auffalligere Variante entwarf
Albrecht Dürer 1 5 1 2 für den Triumphbogen Kaiser Maxünilians. Die Wappen
zeigen eine Hand, die einen großen gebogenen Krummsäbel hält, der zu dieser
Zeit genauso wie der weiße Turban Erkennungszeichen der Osmanen war.26
Mit der territorialen Expansion der ‘rechten Türkei’ die den osmanischen
Eroberungen nachfolgte, ging die Auslöschtmg der Balkan-Slawen und ihre
Umdeutung in Türken einher. Genau diese Vorstellung einer ‘Türkei’ versuchte
der walachische Woiwode Vlad Tzepesh, besser bekrumt als Dracula, 1 462
auszulöschen. ln den ersten Wintermonaten des Jahres überquerten seine Truppen
die zugefrorene Donau, drangen in die Stadt Nicopolis ein und richteten ein
Blutbad tmter den Bewohnern an. Drum durchstreiften sie das Umland und li.thren
fort, die örtliche Bevölkenmg abzuschlachten. In Briefen an mächtige europäische
Fürsten, die meisten von ilmen aus dem Heiligen Römischen Reich, brüstete sich
Vlad Tzepesh damit, daß allein die gezählten Köpfe der ‘Bulgaren und Türken’
ungefahr eine Zahl von 25.000 betrug. Der Walache ging offensichtlich von der
Annalune aus, daß Bulgaren und Türken aus europäischer Sicht ein und dasselbe
waren tmd daß man ilun keine Vorwürfe machen würde fiir das Massaker an
hilflosen orthodoxen Christen und muslimischen Türken, was nach
zeitgenössischer Auffassung eine tapfere und lobenswerte Tat darstellen würde.
Tzepeshs Massenmord wurde ebenfalls in der überaus populären ‘Geschichte
Dracole Waida’ festgehalten, und seine Erwartung nicht enttäuscht. Diese
0′ Ulrich von Richental, Chronik des Constanzer Conzils, 14 I 4 bis I 418. Text der Aulendorfer
Handschrift, lxxviii.
‘6 Valentin Scherer (Hg.), Dürer. Des Meisters Gemälde, Kupferstiche und Holzschnitte in 447
Abbildungen. Stuttgart-Leipzig 1904), 288, Tab. Nr. XVIll.
53
Erzählung, zusammen mit Tzepeshs Briefen, trug ihm den Ruhm des christlichen
Siegers über die Türken ein, der in einer seltsamen Latme des Schicksals im
gleichen Jahr zu seinem Niedergang fulu1e.27 Dieser Ruhm war jedoch nicht von
langer Dauer, denn die Ungarn schätzen keinen Feldherm, der besser als die
Ungarn selbst waren. Aber der Erfolg von Tzepeshs Propaganda zeigt, daß das
deutschsprachige Publikum überaus aufnahmebereit war fiir das Bild des Balkans
als einer ausschließlich türkisch besiedelten Provinz. Diese Annahme ermöglichte
es Martin Crusius, dem vielleicht besten deutschen Hellenisten seiner Zeit, am
Ende des 16. Jahrhunderts davon zu berichten, daß noch ein anderer walachischer
Woiwode, Michael der Kühne, ‘ 1 0.000 Türken’ aus Bulgarien entführte und sie
in die Walachei verbrachte?8 Sicherlich benötigte Michael der Kühne keine
Tiirken auf seinen Besitzungen; im Gegenteil: Ein neuer Zustrom von Bulgaren
würde die durch Einfälle der Osmanen dezimierte orthodoxe Bevölkerung am
Ostufer der Donau verstärkt haben.
Diese ‘türkische’ Seite des Balkans drängte sich sogar m
Zusammenhängen auf, in denen die Zugehörigkeit der Südslawen zum
Christenturn unzweifelhaft war. Der Begriff ‘tiirkische Christen’ kennzeichnet
diese Entwicklung, die sich auch im Pamphlet des Basler Druckers Pamphilus
Gengenbach, genannt ‘Von drien Christen’ zeigt. In diesem polemischen Werk,
das die Vorteile des evangelischen Glaubens anpreist, stellt Gengenbach in einer
‘Tischrede’ drei lustige Gefälu1en dar: einen römischen Christen, und zwar einen
deutschen Ritter aus dem Bistum Metz; einen böhmischen Christen, der sich als
Hussit entpuppt, und einen ‘türkischen’ Christen, den Gengenbach sofort als
orthodoxen Serben aus der Bergwerksstadt Novo Brdo identifiziert, die im Reich
aufgrund ihres großen Bevölkerungsanteils von sächsischen Bergwerksexperten
ziemlich bekannt war. Die Ursache, die den Serben in erster Linie zu einem
‘Türken’ machte, war die Tatsache, daß er unter osmanischer Herrschaft lebte. Es
gab jedoch noch weitere Hinweise auf seine nicht-europäische Herkunft. Er
kleidete sich, wie Gengenbach schrieb, nach gewonheit der tiircken.29 Sein
‘Türkischsein’ drückte sich nicht nur politisch aus, sondern wurde auch in
kultureller Hinsicht ausgefullt. Der Holzschnitt, der die ‘Tischrede’ illustriert,
liefert einen weiteren Anhaltspunkt fur die Umwandlung der Südslawen in
Türken. Er wurde angefertigt von Conrad Sclmitts, und in ihm trägt die Figur des
‘türkischen Christen’ Kleidung, die man ohne zu zögern als orientalisch
27 Matei Cazacu, L’histoire du prince Dracula en Europe centrate et orientale (XVe siecle).
Genf 1988, 38.
:a Wilhelm Göz-Emst Conrad (Hg.), Diarium Martini Crusü, Tübingen 1 93 1 , 133.
29 Karl Goedeke (Hg.), Pamphilus Gengenbach, Amsterdam 1 966, 2 14-230, besonders 215.
54
bezeichnen würde. Das Aussehen dieser Kleidung entnahm Schnitts aus einem
anderen seiner Werke, in dem die gleiche Figur den ottomanischen Sultan
Suleiman den Prächtigen darstellte. Für Schnitts und Gengenbach und
wahrscheinlich auch für ihr gesamtes Publikum war die Person des Sultans ein
Symbol, welches das äußere Erscheinungsbild und die Lebensweise seiner
Untertanen in gleichem Maße wie ihre politische Zugehörigkeit detenninierte.
Vor diesem Hintergnmd ist es nicht verwunderlich in dem Bericht des
protestantischen Predigers Stephan Gerlach zu lesen, daß ve/h 11 (ltc: l’m”’er
unter den Türken genießen kein hohen Ansehen.30 Gerlach, ein Mann, der sechs
Jahre im osmanischen Reich gelebt hatte, meinte natürlich die Priester der
orthodoxen Südslawen und Griechen und nicht die Diener Mohammeds.
In diesem Zusammenhang war es naheliegend, daß eines der wichtigsten
Anzeichen kultureller und ethnischer Identifikation, die Sprache, allgemein in
einen asiatischen und besonders in einen türkischen Zusammenhang gesetzt und
mit den Südslawen in Zusammenhang gebracht wurde. Schon in den 1460er
Jahren, als Michael Beheim vom ersten Hindemis auf dem Weg der Kreuzfahrer,
der bulgarischen Stadt und Burg Widin berichtete, erwähnte er, daß sie . . . ist
ungensch gennant Badon. 81din h01st ·’Y turkl.wh dawm. wann 1r dw ‘!itrken
pjlegen J1 Sich nach den politischen Ansprüchen Ungams richtend, benutzte
Beheim eine Abschrift der bulgmischcn Version des Namens der Stadt, Widin,
aber von wesentlicher Bedeutung war der Umstand, daß die türkische
Schreibweise mit der landessprachlichen bulgarischen Version des Namens
übereinstinunte. Sprache war ein wichtiges Anzeichen für ethnische und nationale
Zugehörigkeit, und auf diese Weise wurde eine Stadt mit einem überwiegend
bulgarischen Bevölkerungsanteil zu einer türkischen Stadt. Beispiele dieser Art
lassen sich vielfach nachweisen. Ein Jahrhundert später jedoch weiteten die
einflußreichsten Wissenschaftler, wie z. B. der Schweizer Conrad Gessner, diese
Verbindwtg zu einem rein asiatischen Phänomen aus. 1555 behauptete Gessner,
dessen Meisterwerk ‘Mithridates’ die moderne komparative Linguistik begründete,
daß der südliche Teil der Slawen eine mehr oder weniger gemeinsame
Sprache, genarmt Illyrisch benutze, deren Wurzeln im ‘slavonischen’ Volk aus
Asien zu suchen seien, wie den Chazaren, Tscherkessen, Ahmen und
Jl> Stephan Gerlach des Aeltem Tage-Buch der von zween glorwürdigsten Römischen Kaysem,
Maximiliano und Rudolpho, beyderseits den andem dieses Namens, hochstseeligster
Gedächtnüss, an die Ottomanische Pforte zu Constantinopel abgefertigter, und durch den
wohlgebohrnen Herrn Hn. David Ungnad, Freyherrn zu Sonnegk und Preyburg etc. . .. ,
Frankfurt/Main: Heinrich Friesen, 1 674, 99.
3′ Gille-Spriewald, Die Gedichte des Michael Beheim, Bd. I, 337.
55
Mingrellen.32 Die Südslawen wurden demnach aufgrund ihrer Herkunft und dem
Ursprung ihrer Sprache zu echten Orientalen gemacht.
Da die Südslawen, die in der Türkei lebten, welche als ‘dritter Teil Asiens’
angesehen wurde, mit den entsprechenden Auswirkungen durch Klima und
Landschaft eine orientalische Sprache benutzten, und ihre nächsten Verwandten
in Asien wolmten, stellten sie definitiv ein orientalisches Phänomen für einen
Großteil der deutschsprachigen Gesellschaft dar. Thre soziale Ordnung spiegelte
diese Entwicklungen wieder. Als Untertanen einer asiatischen Macht, die von den
Deutschen als höchster Ausdruck einer tyrannischen Regienmgsform
wahrgenommen wurde, nahmen die Südslawen Merkmale einer effeminierten
Gemeinschaft von Sklaven an. Diese Vorstellungen, das sei hier noch einmal
hervorgehoben, waren essentielle Elemente des westlichen und deutschen Bildes
vom Orient. Seide Vorstellungen von Verweichlichung und Sklaverei existierten
bereits unabhängig vor dem Erscheinen der Osmanen. In der ersten Hälfte des 1 6.
Jahrhunderts hatten diese Begriffe jedoch einen festen Urnriß im deutschen
Bewußtsein. Als östliche Orthodoxe wurden die Slawen oftmals als Griechen
bezeichnet und daher traf auch sie die westliche Verachtung für die
verweichlichten Griechen. llire Unfähigkeit, den Osmanen erfolgreich Widerstand
zu leisten, fuhrte zum gleichen Ergebnis. Sebastian Münster faßte es in seiner
Kosmographie so zusammen: Die Süd-Slawen waren immer einer Fremdherrschaft
unterworfen gewesen, erst den Byzantinern, dann den Ungarn und
schließlich den Osmanen. Sein lllustrator fand das geeignete Mittel, um einer
derartigen dauerhaften Abhängigkeit Ausdruck zu verleihen und bildete sie in der
Figur einer bescheidenen, frommen, unterwürfigen, gütigen Frau ab.33 Diese
‘Effeminierung’ der Slawen wurde bestätigt durch die Berichte deutscher
Reisender. Aus mehreren Gründen, auf die ich hier nicht eingehen will,
betrachteten und beschrieben sie in erster Linie die Anwesenheit und das
Erscheinungsbild südslawischer Frauen. Für das Auge des Reisenden waren
fremde Frauen der Inbegriff exotischer Merkmale einer Gesellschaft, und die
zahlreichen Berichte von Frauen und ihren Stickereien, ihrem Schmuck und,
32 Manfred Peters (Hg.), Konrad Gessner, Mithridates: De differentiis linguarum turn veterum
turn quae hodie apud diversas nationes in toto orbe terrarum in usu sunt, Zürich 1555, Aalen
1 974, 1 1 8- 1 20, 122-123, 142, 159, 193-197.
33 Richard A. Skelton, Sebastian Münster, Cosmographie, mx:xxvij (Bild und Text): Es haben
die keyser von Constantinopel vif an roew und krieg gehabt mit den Hertzogen und Künigen
von den Bulgary vor und ehe sie zum Christen glauben kommen seind, unnd auch ettlich jar
darnach biß zum jar Christi Iausenf oder umb die selbige zeit. Wie dis land damach under die
kron vonn Ungern kommen ist, unnd zuletzt under des Tiircken tyranney hab ich zum theil hie
jomen und zum theil hie unden angezeigt.
56
wetm man will, der Art, wie sie goldene Ringe in der Nase trugen, bezeugen die
Faszination des ‘Anderen und Fremdartigen,’ mit dem der Menge der oben
angeführten Elemente noch ein weiterer gedämpfter Unterton des slawischen
Orientalismus hinzugefügt wurde. Andererseits versclunolz die stwrune
Unterwürfigkeit der unterdrückten christlichen Untertanen, die gänzlich von den
Launen ihrer muslimischen Herren abhängig waren, mit der Vorstellung von
verweichlichten Slawen. Es gibt keinen deutschen Reisenden, der nicht mit
Abscheu die sklavenähnlichen Lebensbedingungen der Südslawen unter den
Osmanen beobachtete und beschrieb. Unter einem solchen Eindruck stand
möglicherweise Martin Luther, als er das Leben unter dem Sultan mit dem
dunkelsten und bedlii ckendsten Gefangnis verglich 34 Die Verbindung einer
speziell deutschen Wahrnelunung von Fragen hinsichtlich politischer
Unterordnung und Souveränität mit dem ausgeprägten Bild einer muslimisch
regierten Gesellschaft, in der Christen zu Sklaven gemacht wurden, lieferte
womöglich das letzte wichtige Merkmal für die deutsche Vorstellung der
slawischen ‘Orientalen’
Ich möchte meinen Beitrag damit beenden, indem ich die wesentlichen
Ergebnisse noch einmal kurz zusammenfasse: Insgesamt waren die Deutschen
des Spätmittelalters nicht besonders am südöstlichen Territorium ihres Kontinents
interessiert. Chronikalisch überliefert wurden hauptsächlich Überlegungen zu
Ereignissen mit geringer Bedeutung für den Westen, und die Grundhaltung für
das Bild des Balkans schlug sich in mittelalterlichen Texten nieder. Hier wurde
ein Korpus von Informationen überliefert, der seit dem Frühmittelalter
ruwerändert geblieben war. Als die schriftlichen Überlieferungen mit Erfahrungen
aus erster Hand angereichert wurden, paßten sich die neuen lnfonnationen den
älteren an. Erst das Erscheinen der Osmanen hatte die entscheidenden
Auswirktmgen auf die Richtw1g, die das deutsche Konzept der südslawischen
‘Fremdartigkeit’ von nun an nahm. Die südslawische Orientalisierung war das
direkte Ergebnis der osmanischen Eroberung des Balkans, und die Assoziation
mit diesem orientalischen Phänomen ist der Hauptgnmd für die durchdringende
Hartnäckigkeit vom deutschen Bild der Südslawen; ein Bild, von dem sie sich
noch immer nicht befreien konnten.
34 D. Manin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1909, 2. Aufl. Graz 1964,
Briefwechsel, Bd. XXX, 1 2 1 – 1 28. 136-138, 140-144, besonders 127.
57
MEDIUM AEVUM
QUOTIDIANUM
37
KREMS 1997
HERAUSGEGEBEN
VON GERHARD JARJTZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KUL TORABTEILUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik Stephan J. Tramer
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der
materiellen Kultur des Mittelalters, Körnermarkt 13, A-3500 Krems, Österreich.
Für den Inhalt verantwortlich zeiclmen die Autoren, ohne deren ausdrückliche
Zustimmung jeglicher Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist.- Druck:
KOPITU Ges. m. b. H., Wiedner Hauptstraße 8-10, A-1 050 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
Iliana Tschekova, Die chronistische Erzählung
über den FürstenOleg und das skandinavische Epos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Ryszard Grzesik, Dynastische Machtbegriffe
in den ostmitteleuropäischen Chroniken des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Gerhard Jaritz, “Transeuntes ad alium Ordinem.”
The position of Cistercians and Carthusians in the Middle Ages . . . . . . . . . . . . 32
Kyril Petkov, Die ‘Orientalisienmg’ des Balkans
in der deutschen Vorstellung des 15. und 16. Jahrhunderts.
Eine Untersuchtmg spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher
Walm1ehrnungsmuster in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
Vorwort
Wir freuen uns, Ihnen mit diesem Heft verschiedene Beiträge vorlegen zu können,
die von Mitgliedern und Freunden von Medium Aevum Quotidianum verfaßt
wurden. Sie repräsentieren in der Mehrzahl Forschw1gsergebnisse von
osteuropäischen Kollegen aus Bulgarien und Polen, die dadurch einem
internationalen Fachpublikum zugänglich gemacht werden sollen. Unsere
Gesellschaft versucht somit neuerlich, ihrem Ziel einer Brückenfi.mktion zwischen
östlicher lmd westlicher Geschichtswissenschaft gerecht zu werden.
Die Planungen für die nächsten Hefte von Medium Aevum Quotidianum
sind bereits abgeschlossen. Wir können Ihnen mitteilen, daß im September 1997
mit dem Erscheinen von Sonderband VI zu rechnen ist, der eine Arbeit von James
Palmitessa (New York-Kalamazoo/Mich.) beinhalten wird, welche sich einer
systematischen Analyse der Prager Bürgerinventare des 16. und 17. Jaltrhunderts
widmet. Als letztes Heft des heurigen Jallres wollen wir die Ergebnisse einer
Round Tabte-Diskussion präsentieren, die beim International Medieval Congress
in Leeds im Juli des heurigen Jahres stattfinden und sich mit “History of Everyday
Life: the Variety of Approaches” auseinandersetzen wird. Das erste Heft des
Jahres 1998 soll lffigarische Forschungen zur mittelalterlichen Ernältrung
beinhalten, während die darauffolgende Publikation einer internationalen Gruppe
von Archäologen Gelegenheit geben wird, sich mit Möglichkeiten ihres Beitrages
zu einer Alltagsgeschichte des Mittelalters zu beschäftigen.
Gerhard Jaritz
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