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Andreas Külzer
Erstveröffentlichung: 1999

Abstract

Medium Aevum Quotidianum 40 (1999)

Abstract (englisch)

Medium Aevum Quotidianum 40 (1999)

Inhaltsverzeichnis

Die byzantinische Reiseliteratur:
Anmerkungen zu ihrer literarischen Gestaltung
Andreas Külzer (Wien)
Die Reiseliteratur des Mittelalters ist heutzutage allgemein als eine wichtige
historische Quellengattung anerkannt, sie wird als ,,historische Momentaufnahme”
zur Mentalitäts- und Religions-, aber auch zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte
einer Epoche hochgeschätzt, unter realienkundliehen Fragestellungen, im Rahmen
der Kommunikations-, Mobilitäts- und Migrationsforschung ist sie in den letzten
Jahren umfangreicher wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gewürdigt worden 1•
Auch fiir die Byzantinistik ist die Literaturgattung von einiger Relevanz, die
gelehrte Auseinandersetzung mit den literarischen Erzeugnissen “ausländischer”
Reisender in die oströmische Welt – gleich ob christlicher, islamischer oder, im
1 Aus der umfangreichen Literatur seien hier beispielhaft angefiihrt J. Benzinger, Zum Wesen und
zu den Formen der Kommunikation und Publizistik im Mittelalter, Publizistik Bd. XV ( 1 970),
295-3 1 8 ; J. Richard, Les recits de voyages et de pelerinages, Tumhout 1 98 1 ; Cl. Zrenner, Die
Berichte der europäischen Jerusalempilger, Frankfurt/M. 198 I; Fr. Hassauer, Volkssprachliche
Reisetiteratur. Faszination des Reisens und räumlicher ordo, in: La Iitterature historiographique
des origines a I 500, Bd. I, Heidelberg I 986, 259-283; G. Jaritz – A. Müller (Hrsgg.), Migration in
der Feudalgesettschaft, Frankfurt/M.-New York 1 988; Kt. Friedland (Hrsg.), Maritime Aspecls of
Migration, Köln-Wien 1 989; P. J. Brenner (Hrsg.), Der Reisebericht, Frankfurt/M. 1 989; G.
Sönnen – A. Heit, Mediävistik und horizontale Mobilität, Trier 1990; P.J. Brenner, Der Reisebericht
in der deutschen Literatur, Tübingen I 990; A. Esch, Anschauung und Begriff. Die
Bewältigung fremder Wirklichkeit durch den Vergleich in Reiseberichten des späten Mittelalters,
HZ Bd. CCLII! ( 1 9 9 1 ), 281-312 sowie X. von Ertzdorff – D. Neukirch (Hrsgg.), unter
redaktioneller Mitarbeit v. R. Schulz, Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen
Neuzeit. Vorträge eines interdisziplinären Symposiums vom 3.-8. Juni 1991 an der Justus-LiebigUniversität
Gießen, Amsterdam-Atlanta, GA I 992.
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Falle des Benjamin von Tudela ( 1 1 72173 n. Chr.), auch jüdischer Provenieni – ist
für die Kenntnis und Erforschung der Geschichte des östlichen Mittelmeerraumes
in gleicher Weise bedeutungsvoll wie die Arbeiten, die der byzantinischen
Reiseliteratur im eigentlichen Sinne gewidmet sind, das heißt den zwischen dem
vierten und fünfzehnten nachchristlichen Jahrhundert entstandenen Texten
griechischer Sprache, die von den Reisen der Byzantiner in der Oikumene handeln3.
Diese Quellenschriften, denen wir im folgenden unsere Aufmerksamkeit
zuwenden wollen, sind analog zu den entsprechenden Erzeugnissen anderer
Sprachräume mehreren Untergattungen zuzuweisen; ihr gehören Gesandtschaftsberichte
aus spätantik-frühbyzantinischer Zeit, wie sie etwa der Thraker Priskos
(um 420 – nach 472 n. Chr.) oder Petros Patrikios (um 500 – nach 562 n. Chr.) verfaßt
haben, in gleicher Weise an wie die Palästinabeschreibungen der spätbyzantinischen
Epoche, die den Fernen Osten beriihrende ‘ Oöouwpia ano ‘ EÖeiJ. tou
napaöEioou äpxt twv ‘ PwiJ.aiwv aus dem fünften nachchristlichen Jahrhundert
ebenso wie der im 1 5 . Jahrhundert abgefaßte Bericht über die bis nach Litauen
und Island führende Nordlandreise des Laskaris Kananos.
Die Forschung war bislang vor allem darum bemüht, die Texte auf ihren
konkreten Informationsgehalt hin zu untersuchen, sie im Hinblick auf die oben
beschriebenen realienkundliehen und sonstigen historischen Informationen hin
auszuwerten, wobei das potentielle Vorhandensein entsprechender Nachrichten
häufig genug zum alleinigen Wertmaßstab erhoben wurde. Gerade die
Pilgerliteratur hatte unter einer derartigen Einstellung zu leiden: die für die
Byzantinistik trotz ihres Alters immer noch wichtige Literaturgeschichte von K.
Krumbacher konnte beispielsweise in der zweiten Auflage 1 897 über einen der
2 Vgl. hier beispielsweise K.-D. Seemann, Die altrussische Wallfahrtsliteratur, München 1 976; J.
P. A. van der Vin, Travellers to Greece and Constantinople. Ancient Monwnents and Old
Traditions in Medieval Trave!lers’ Tales, 2 Bde., lstanbul 1 980; G. Majeska, Russian Travellers
to Constantinople in the Fourteenth and Fifteenth Centuries, Washington 1984; St. Schreiner,
Benjamin von Tudela, Petachja von Regensburg – Jüdische Reisen im Mittelalter, Leipzig 1 9 9 1 ;
H . Göckenjan, Reisen, Reisebeschreibungen. C . Islamischer Bereich, LexMA Bd. VII ( 1 995},
681-683 sowie jüngst K. N. Ciggaar, Western Travellers to Constantinople. The West and
Byzantiwn, 962-1 204, Leiden-New York-Köln 1996.
3 P. Schreiner, Byzantinische Orientreisende im 14. Jahrhundert, Akten des XXII. Deutschen
Orientalistentages vom 2 1 .-25. März 1983 in Tübingen, Stuttgart 1985, 1 4 1 – 149; G. Makris,
Studien zur byzantinischen Schiffahrt, Genua 1 988, 221-241 “Byzantinische Seereisen und Reiseliteratur”;
P. Schreiner, Viaggiatori a Bisanzio: il diplomatica, il monaco, il mercante, Columbeis
Bd. V ( 1 993), 29-39; E. Malamut, Sur Ia route des saints byzantins, Paris 1993; A. Külzer,
Peregrinatio graeca in Terram Sanctam. Studien zu Pilgerfuhrern und Reisebeschreibungen über
Syrien, Palästina und den Sinai aus byzantinischer und metabyzantinischer Zeit, Frankfurt!M. u.
a. 1 994.
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Gattungsvertreter, die in politischen Versen gehaltene Palästinabeschreibung des
Perdikas von Ephesos, wohl aus dem 1 4 . Jahrhundert, das Verdikt “armseliges
Lehrgedicht” fallen, ein Urteil, das 1978 im Handbuch von H. Hunger zur
hochsprachlichen Profanliteratur der Byzantiner wörtlich übernommen wurde, und
noch 1 982 vertraten J. Karayannopoulos und G. Weiß in ihrer “Quellenkunde zur
Geschichte von Byzanz” die Ansicht: ,,Der verengte Gesichtskreis der Pilgerberichte
auf Kirchen, Reliquien und Gottesdienste bewirkt ein starkes
Informationsdefizit”4•
Mit unseren Ausführungen verfolgen wir das Ziel, Aussagen wie diese zu
relativieren und die literarische Gestaltung der byzantinischen Reisebeschreibungen
zu thematisieren, auf die verwendeten Elemente zur Übermittlung des
jeweiligen Textinhaltes einzugehen und dem Anliegen von Roman Jakobson
gemäß zu untersuchen, anband welcher Mittel die einzelnen Texte, die verbalen
Botschaften zu Kunstwerken gemacht worden sind5• Diese für die neueren
Philologien keineswegs ungewöhnliche, im Rahmen der Byzantinistik aber noch
nicht sehr häufig vorgebrachte Fragestellung beabsichtigt, die bislang vorherrschenden
Wertmaßstäbe in bezug auf die byzantinische Reiseliteratur kritisch zu
überprüfen und gegebenenfalls in dem ein oder anderen Fall auch zu korrigieren.
Der Gesamtbestand der hier vorzustellenden Reiseliteratur ist, gemessen
etwa an den entsprechenden Gattungsvertretern der westeuropäischen, der
slavischen oder der arabischen Welt, von recht geringem Umfang. Dieses Faktum
in einer grundsätzlich befriedigenden Weise zu erklären, ist kaum möglich, man
mag aber neben den Unabwägbarkeiten der Texttradierung und der nur auf eine
kleine Gesellschaftsschicht beschränkten Fähigkeit zur schriftlichen Äußerung
auch das Faktum berücksichtigen, daß das in der byzantinischen Literatur so hoch
angesehene Ideal der Rhetorik viele der Reisenden abgeschreckt haben dürfte, ihre
Erlebnisse in schriftlicher Form niederzulegen und damit den Schritt von dem
lediglich Schauenden und Erlebenden zu dem das Erlebte auch verarbeitenden
Literaten zu wagen. – Die unsicheren Wege, Straßen in schlechtem Zustand, kaum
zu überquerende Gewässer und weitere Risiken der Natur trugen hauptsächlich die
Verantwortung dafür, daß die Menschen des Mittelalters ihre vertraute Umgebung
nur dann verließen, wenn sie durch Kriege, Mißernten, Überbevölkerung oder aber
4 K. Krumbacher, Geschichte der byzantinischen Litteratur von Justinian bis zum Ende des
Oströmischen Reiches (527-1 453), 2 Bde., München 2 1 897, hier Bd. I, 420; H. Hunger, Die hochsprachliche
profane Literatur der Byzantiner, 2 Bde., München 1978, hier Bd. I, 5 1 8 ; J. Karayannopou1os
– G. Weiß, Quellenkunde zur Geschichte von Byzanz (324-1453), 2 Bde., Wiesbaden
1 982, hier Bd. I, 77.
5 R. Jakobson, Linguistik und Poetik, in: ldem, Poetik. Ausgewählte Aufsätze 192 1-1971,
Frankfurt!M. 1 979 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 262), 83- 1 2 1 , hier 84.
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von einer anderen, besonderen Motivation dazu getrieben waren6. Während die
erstgenannten Kriterien in unserem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben
können, haben sie doch in der byzantinischen Welt kaum einen Menschen
veranlaßt, das ihm Widerfahrene in der Form eines Reiseberichtes zu fixieren, so
läßt sich in bezug auf die “besondere Motivation” festhalten, daß die Reise und die
gegebenenfalls aus ihr resultierenden Schriften in aller Regel auf einen
festumrissenen Personenkreis, auf Angehörige einiger weniger Gesellschaftsschichten
beschränkt war. Diese äußerten sich, je nach ihrer Bildung, ihrer
konkreten Reiseintention und jeweiligen Interessenslage, in recht unterschiedlicher
Weise, sind damit für den großen Variantenreichtum der byzantinischen wie auch
jeder anderen Reiseliteratur verantwortlich7. Es erscheint somit sinnvoll, zunächst
in gesonderter Form die einzelnen Untergattungen des Genres, ausgewählte literarische
Hinterlassenschaften einer jeden Gruppierung von Reisenden, vorzustellen,
um dann verschiedene übergreifende und zusammenfassende Betrachtungen an
den Schluß unserer Ausführungen zu stellen.
Innerhalb der byzantinischen Reiseliteratur nehmen die Schriften der
Gesandten, die als “weisungsgebundene Überbringer von Botschaften oder als
bevollmächtigte Verhandlungsführer” auf ihren Missionen eine gewisse Immunität
genossen haben8, die für die Repräsentation des Byzantinischen Reiches nach
außen wie auch für die Kenntnis von fremden Völkern und Kulturen ebendort von
erheblicher Bedeutung waren, den größten Anteil ein. Die Berichte über ihre
Missionen wurden zumindest in früh- und frühmittelbyzantinischer Zeit in der
kaiserlichen Kanzlei zu Konstantinopel gesammelt; aus diesem Material ließ
Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos (9 1 3 – 959 n. Chr.) den entsprechenden
Teil der diplomatischen Lehrschrift Excerpta de legationibus erstellen, die speziell
für unsere Kenntnis der frühen Gattungsvertreter einen unschätzbaren Wert besitzt,
der wesentlich der Bericht über die Hunnenmission des Priskos oder die Schrift
über die Verhandlungen des Petros Patrikios mit den Persem im Jahre 562 n. Chr.,
6 Vgl. hierzu H. Fichtenau, Reisen und Reisende, Beiträge zur Mediävistik. Ausgewählte
Aufsätze, Bd. Ill “Lebensordnungen, Urkundenforschung, Mittellatein”, Stuttgart 1 986, l -79; N.
übler, Reisen im Mittelalter, München-Zürich 2 1988, 2 1 – 1 93 : ” 1 . Teil: Grundlagen und Bedingungen”.
7 Vgl. auch J. Richard, Les recits de voyages et de pelerinages, Tumbout 1 98 1 (wie oben Anm.
I), 8: “La difficulte de I’ etude de ce type d · ouvrages tient a son extreme variete. C” est un genre
multiforme, puisqu’il va des guides destines aux voyageurs et surtout aux pelerins, aux
marchands aussi, en passant par !es lettres et relations des ambassadeurs et des missionnaires, !es
recits d · expeditions lointaines, ceux des aventuriers, jusqu · a des oeuvres de caractere nettement
geographique”.
8 E. Hösch, Gesandte (in) Byzanz und Altrussland, LexMA Bd. IV (München-Zürich 1 989),
1364f.
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die in einen 50jährigen Frieden zwischen den beiden Reichen einmündeten, zu
verdanken ist9. Die spezielle Art der Überlieferung erschwert freilich Aussagen
über die stilistische Gestaltung und die Poetik der älteren Gesandtschaftsberichte.
Sie waren wohl allesamt in einer sprachlich anspruchsvollen Form gehalten, was
im Hinblick auf den kaiserlichen Empfangerkreis auch nicht zu verwundem
braucht. Zu späterer Zeit scheint man die Sammlung des Materials in der
Hofkanzlei aufgegeben zu haben, entsprechende Zeugnisse sind uns jedenfalls
nicht bekannt. Die Texte der Gesandten aus mittel- und spätbyzantinischer Zeit
finden sich in aller Regel in gesonderter Überlieferung, sie verwenden auch keine
einheitliche Form: so berichtete Konstantin Manasses im zwölften Jahrhundert
beispielsweise unter Anwendung des künstlerisch anspruchsvollen Zwölfsilbers
von seiner Mission in das Kreuzfahrerreich von Antiocheia, wo man eine
geeignete Gemahlin für Kaiser Manuel I. Komnenos ( 1 143-1 1 80 n. Chr.)
aussuchen wollte10, Nikolaos Mesarites (1 163/64-nach 1214 n. Chr.) wählte für
den Bericht über seine Reise von Pylae nach Nikaia 1207 ebenso wie Theodoros
Metochites ( 1 270-1332 n. Chr.), der von seiner 1299 unternommenen Serbienmission
– freilich eher in der Form einer “Staatsschrift” – erzählte, die Form des
,Jiterarischen Privatbriefes”1 1 • Der dem 14. Jahrhundert angehörende Andreas
Libadenos kleidete seinen Bericht über eine Gesandtschaft nach Ägypten in eine
hochrhetorische Ausdrucksform, verbunden mit vielen personalen Elementen wie
dem Tod der Mutter etc., die man in einem offiziellen Schriftstück kaum erwarten
dürfte12• – Gedicht oder ungebundene Rede, unterschiedliche Verwendung von
rhetorischen Stilelementen und teilweise starke Einbeziehung von persönlichen
Empfindungen in den Text, von Reflexionen über die Mission wie über das eigene
Ich zeugen von der Vielfalt und dem Reichtum des byzantinischen Gesandtschafts-
9 Excerpta historica iussu imp. Constantini Porphyrogeniti confecta. Excerpta de legationibus
edidit C. de Soor, 2 Bde., Berlin 1903, 1 2 1 – 1 55, 575-591 zu Priskos, 3f, 390-396 zu Petros
Patrikios.
1° K. Homa, Das Hodoiporikon des Konstantin Manasses, BZ Bd. Xlß (1904), 3 13-355, Text
325-347. Zur Versform vgl. den immer noch grundlegenden Artikel von P. Maas, Der
byzantinische Zwölfsi1ber, BZ Bd. XII ( 1 903), 278-323.
11 Zum Text des Nikolaos Mesarites vgl. A. Heisenberg, Neue Quellen zur Geschichte des
lateinischen Kaisertums und der Kirchenunion, Bd. Il, Sitzungsberichte Bayer. Akad. d. Wiss.,
phil.-hist. KJ. 1923, 2, 35-46, zum .,Presbeutikos” des Theodoros Metochites P. Schreiner,
Viaggiatori a Bisanzio (wie Anm. 3), 3 1-33 und !dem, Reisen, Reisebeschreibungen, 8. Byzanz,
LexMA Bd. VII ( 1 995), 6 8 1 . Zum “literarischen Privatbrief”, seinen speziellen Charakteristiken
und der Abgrenzung zu anderen Untergattungen der Brietliteratur, den amtlichen Briefen, den
literarischen Briefen und den reinen Privatbriefen, vgl. H. Hunger, Die hochsprachliche profane
Literatur der Byzantiner, Bd. I, München 1978, 1 97-239 “Epistolographie”, 206f.
1 2 0. Lampsides, · Avöpcou Alßaöevoü Pioc; Kal &pya, Athen 1975, Text 39-87.
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berichtes und zeigen, daß Fonn und Inhalt nicht aneinander gebunden waren,
Rückschlüsse von der Textgestalt auf den Inhalt oder umgekehrt mithin unzulässig
sind. – Wenden wir uns damit noch kurz den mit einer religiösen Mission
betrauten Gesandten zu, den Missionaren: während die Texte verschiedener
dominikanischer und franziskanischer Mönche besonders für die Kenntnis des
westlichen Mittelalters von den Ländern des Mittleren und des Fernen Ostens von
Bedeutung sind, Schriften wie der Rechenschaftsbericht des Wilhelm von
Rubrouck über seinen Missionierungsversuch bei den Mongolen im Norden des
Schwarzen Meeres aus dem Jahre 1253 n. Chr. oder die Briefe des Johannes de
Monte Corvino aus dem China des 14. Jahrhunderts einen wichtigen Part in der
westlichen Reiseliteratur einnehmen13, sind entsprechende Zeugnisse aus Byzanz
nicht überliefert. Orthodoxe Missionierungen hat es zwar gegeben, auf dem
Balkan, in Ungarn und im nördlichen Kaukasus, doch herrschte eine grundsätzlich
andere Vorgehensweise als im Westen vor: Während die lateinischen Mönche in
ihren Berichten genaue Irrfonnationen über die bereisten und zu bekehrenden
Regionen lieferten, um damit das Interesse anderer Glaubensbrüder an einer
Einzelmission zu wecken, waren die Byzantiner, denen der Kaiser als höchster
Missionar galt, darum bemüht, die Herrscher der zu bekehrenden Völker für das
Christentum zu gewinnen, die dann ihrerseits den neuen Glauben durchsetzen
sollten 14, die Notwendigkeit zur Anfertigung von entsprechenden Werbeschriften
bestand deshalb für sie nicht. – Während die Reisen arabischer oder lateinischer
Forscher und Gelehrter gut dokumentiert sind – man denke hier beispielsweise an
Ibn Battuta ( 1 304-1377 n. Chr.) oder an Pero Tafur (um 1 4 1 0-1484)15, um nur
zwei Namen unter vielen zu nennen – ist aus der griechisch geprägten Welt mit
Manuel Angelos nur ein einziger Byzantiner bekannt, der aus reiner Wißbegierde
13 J. Richard, Les recits de voyages et de pelerinages, Tumhout 1 98 1 , 25-30 “Les relations des
ambassadeurs et des missionaires”, speziell 29. Vgl. auch F. Schmider, Johannes de Monte
Corvino, LexMA Bd. V (München-Zürich 1 99 1 ), 590 und C. Bottiglieri, Wilhelm von Rubruk,
ebd. Bd. DU! (München 1 998), 1 84f(jeweils mit weiterfUhrenden Literaturangaben).
14 Grundlegend zur Thematik Chr. Hannick, Die byzantinischen Missionen, Kirchengeschichte
als Missionsgeschichte, Bd. Il, I “Die Kirche des frühen Mittelalters”, München 1978, 279-359.
Vgl. auch I. Sevcenko, Religious Missions seen from Byzantium, Harvard Ukrainian Studies Bd.
XWXHI ( 1 988/89), 7-27, !dem – T.E. Gregory, Missions, ODB Bd. II (New York-Oxford 1991),
1 380f (mit weiterfUhrenden Literaturangaben) und P. Schreiner, Byzanz, München 2 1 994, 143f.
Von großer Wichtigkeit fur die Mission der frühen Kirche bleibt A. von Harnack, Die Mission
und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, vierte verbesserte und
vermehrte Auflage, Leipzig 1 924.
1 5 Zu den beiden Autoren vgl. einfuhrend P. Thorau, Ibn Battuta, LexMA Bd. V (MünchenZürich
1991), 3 1 3 f und W. Mettmann, Tafur, Pero, LexMA Bd. VIII (München 1 997), 422 (mit
weiterfuhrender Literatur).
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eine Reise unternommen hat. Die Fahrt dauerte mehr als neun Jahre, vom 2 1 . März
1342 bis zum Spätsommer 1 3 5 1 , führte von Konstantinopel aus über Rhodes und
die Ägäis nach Ägypten und Syrien, wo Manuel drei Jahre in ,,Damaskus und den
umliegenden Städten” verweilte, dann nach Kilikien, Zypern und Kreta, anschließend
über die Ägäis nach Konstantinopel zurück. Erstaunlicherweise hat der
Reisende die Erlebnisse seiner Fahrt nicht persönlich niedergeschrieben, obgleich
er als Gelehrter zweifelsfrei die Fähigkeit dazu besessen hätte, wir wissen von
seinem Tun lediglich, weil er seinem damals in Klosterhaft befindlichen Freund
Nikephoros Gregoras davon erzählte, dieser die Berichte dann im XXIV. und
XXV. Buch seines · Iotop(a ‘ Pw�J.atKll betitelten Geschichtswerkes schriftlich
fixiert hae6. Zweifelsfrei hat der Historiker dabei lediglich eine Auswahl aus dem
ihm Erzählten getroffen, auch die dem Text innewohnende Stilistik läßt sich kaum
auf Manuel Angelos zurückfuhren, sie ist vielmehr die dem Nikephoros eigene. So
sind poetische Untersuchungen dieser Schrift kaum angebracht, in bezug auf
Manuel Angelos bleibt allein die Feststellung, daß eine derartige Scheu, selbst als
Autor hervorzutreten, für einen Menschen, der aus Gründen der curiositas die
Fremde bereist hat, durchaus erstaunlich ist. Während in diesem Fall die
Reisemotivation aber eindeutig und explizit zum Ausdruck gebracht wurde17,
Manuel Angelos ohne Zweifel den Gelehrten und Entdeckern zuzurechnen ist, ist
die Beurteilung des Laskaris Kananos, der im 15. Jahrhundert eine Reise in den
Norden Europas unternommen hat, der unter anderem nach Preußen und
16 Nicephori Gregorae byzantinae historiae libri XXXVTI, PG CXL VJll, 1 1 9-1444, PG CIL, 9-
502, hier PG CXLVTII, 1444-1449, PG CIL, 9-18 (Abdruck der Edition von I. Bekker, Sonn
1855). Vgl. auch P. Schreiner, Byzantinische Orientreisende im 14. Jahrhundert, Akten des XXU.
Deutschen Orientalistentages vom 2 1 .-25. März 1983 in Tübingen, Stuttgart 1 985, 146-148; A.
Külzer, Peregrinatio graeca in Terram Sanctam, Frankfurt!M. 1 994 (wie Anm. 3), 24-26 und
öfter. Interessanterweise nennt Nikephoros Gregoras den Reisenden noch nicht einmal mit
Namen, sondern lediglich in der Bezeichnung ,,Agathangelos”, “guter Engel”, dies, da er ihn im
Gefangnis besucht hatte. Die – mittlerweile allgemein akzeptierte – Identifizierung vertrat
erstmals H.-V. Beyer in seinem Artikel Der Streit um Wesen und Energie und ein
spätbyzantinischer Liedermacher. Bemerkungen zum I . “Antirhetikos” des Philotheos Kakkinos
und dem ihm entsprechenden I . Buch der 2. ,,Antirrhetikoi” des Nikephoros Gregoras, JÖB Bd.
XXXVI ( 1 986), 255-282, 272.
1 7 Vgl. PG CXLVTII, 1444: Forscherdrang und der Wunsch, der in Byzanz herrschenden
Palamismuskontroverse zu entgehen: ” iotopiat; tE i:veKa 1tpallcitwv 1tavtoöa1twv Kat ci1ta
1t6/..ewv Kat Älllevwv, K«l oiav eKaota routwv exe1 tfjv 6eo1v 7tp6t; tE
ciHTlÄ« K llEyiotllV 7tapex61lEV« tfjv ouvteÄe1av … ö M llE 1tcivtwv llclÄlota t1tE1tElKEl töv
CK1tÄOUV emtaxüval, tci ‘tE tT;<; CKKÄEpiac; vauciyux 􀁊v. Kai ö􀂀a toic; 1tOÄl’tlKOi<; E1tEuv
‘tllVlKaÜt 4 1
Norwegen, nach Schweden, lsland und Litauen kam, bedeutend schwieriger: Über
die Gründe, die ihn zu seiner Fahrt bewegten, gibt er keine Auskunft, er könnte ein
Entdecker und Abenteurer gewesen sein, doch ist es auch möglich, in ihm einen
Händler zu sehen – er ist am Münzwesen und den Zahlungsgepflogenheiten in
verschiedenen Ländern, in Norwegen und Schweden, interessiert, berichtet von
den Herrschaftsverhältnissen, mitunter auch den Nahrungsgewohnheiten, bietet
damit Informationen, die man als Gattungsspezifika des Handelsberichtes anzusehen
pflegt18. Der sehr kurze Text, der Codex Vindob. hist. gr. 1 1 3 saec. XV als
einziger Überlieferungsträger enthält das Werk lediglich auf den Folios 1 74r bis
1 75r, ist in einfachster Form geschrieben, er reiht nur kunstlose, in der Volkssprache
gehaltene Aussagesätze aneinander, ein Kriterium, daß er um leichte
Verständlichkeit bemüht war, dies ein wesentliches Faktum im Hinblick auf die im
Mittelalter häufig nur unvollkommen gebildete Zielgruppe der Handeltreibenden19.
Erzählfenster, Abweichungen verschiedenster Art etc. sind nicht vorhanden; diese
formale Gestaltung könnte hier wie auch in anderen Fällen als ein Anhaltspunkt
fiir den Wunsch verstanden werden, mit den Ausführungen besondere
Glaubwürdigkeit hervorzurufen20. Die Händler waren in Byzanz wie auch in den
übrigen Teilen der mittelalterlichen Welt die Hauptreisegruppe, sie besaßen stets
eine wichtige Funktion als Erzähler und Boten, haben aber infolge anders
gelagerter Interessen und fehlender rhetorischer Ausbildung nur selten versucht,
ihre Erlebnisse schriftlich niederzulegen21. So liegt der seltsame Fall vor, daß es in
der byzantinischen Literatur kaum Texte gibt, die dieser Personenschicht eindeutig
zuzuordnen sind: die verschiedentlich genannte Schrift des Kosmas Indikopleustes22
hat, wie aus ihrem Titel Xpwnav1K􀄋 ·ronoypa(a bereits hervorgeht,
in erster Linie ein starkes christlich-theologisches Anliegen. Zwischen 547 und
18 Vgl. J. Richard, Les recits de voyages et de pelerinages, Tumhout 1 9 8 1 , 33f “Les guides des
marchands”. Dies hält etwa auch G. Makris, Studien zur spätbyzantinischen Schiffahrt, Genua
1988, 240 fiir möglich.
19 Zur Handschrift vgl. H. Hunger, Katalog der griechischen Handschriften der Österreichischen
Nationalbibliotek, Teil I “Codices historici. Codices philosophici et philologici”, Wien 1961,
1 1 6- 1 1 8.
20 Vgl. auch unten “Fiktionale Reisen”. P. Schreiner, Reisen, Reisebeschreibungen. B. Byzanz,
LexMA Bd. VIf ( 1 995), 681 (wie Anrn. I I ) wertet das Werk als “weitgehend fiktives und gelehrtes
Elaborat”, eine Möglichkeit, die natürlich nicht auszuschließen ist, die sich unseres Erachtens
jedoch nicht zwangsläufig aus dem Text ergibt.
21 Vgl. A. Külzer, Peregrinatio graeca in Terram Sanctam, Frankfurt/M. 1 994, 83f (mit
Literaturangaben).
22 In diesem Sinne äußerte sich etwa N. Pigulewskaja, Byzanz auf den Wegen nach Indien. Aus
der Geschichte des byzantinischen Handels mit dem Orient vom 4. bis 6. Jahrhundert, BerlinAmsterdam
1 969, 1 1 0-129.
42
549 n. Chr. niedergeschrieben, geht der in zwölf Büchern gehaltene Text in erster
Linie gegen die Anhänger bestimmter kosmographischer Vorstellungen vor,
konkret gegen die Vertreter der Lehre von der Kugelgestalt der Erde, die es
besonders in der Theologenschule von Alexandreia gegeben hat. Im Buch elf
berichtet Kosmas zwar auch von seiner Reise nach Indien und nach Ceylon,
schildert die Insel etwa als ein bedeutendes Wirtschaftszentrum, erzählt von den
Häfen und von Handelswaren wie dem Elfenbein, doch steht, wenn man die Schrift
insgesamt betrachtet, die Vermittlung des Wunderbaren, der Entwurf eines eigenen
und die Polemik gegen das ptolemäische Weltbild eindeutig gegenüber nüchternen
Informationen über wirtschaftliche Gegebenheiten etc. im Vordergrund23. Andere
Zeugnisse aus byzantinischer Zeit sind uns nicht bekannt, alleine aus dem
ausgehenden 16. Jahrhundert liegt eine entsprechende Schrift vor, ein Text, den ein
aus Patmos stammender Grieche mit Namen Jakobos Meloites im Jahre 1 588 auf
Ansinnen des Martin Crusius über seine Reisen im Mittelmeerraum, in Rußland
und Polen niedergeschrieben hat. Wenn Roman Jakobsen auch die Ansicht vertrat,
daß jedem Text ein zielgerichtetes Sprachverhalten zugrunde liege24, so ist die
poetische Gestaltung dieser Schrift doch nur schwer zu bestimmen: Mit ihren
zahlreichen Wiederholungen, Vor- und Rückgriffen erweckt sie eher den Eindruck,
die Niederschrift spontaner Einfälle denn ein unter bestimmten Erwägungen
konzipierter Text zu sein, ein Eindruck, der durch das Fehlen eines erkennbaren
Handlungsstranges noch verstärkt wird. Die Zuordnung zu den Handelsberichten
ist gleichwohl durch die zahlreichen Erwähnungen von günstigen Märkten, von
Preisen und Handelswaren gesichert, eine Einschätzung, die durch das – oben
begründete – allgemein niedrige Sprachniveau weiter abgestützt werden kann25. –
Kommen wir damit zu jenen Schriften, die sich mit den religiös motivierten Reisen
in Verbindung bringen lassen: Hier gilt es in erster Linie, der in zahlreichen
Gattungsvertretern tradierten Pilgerführer zu gedenken. Entstanden aus dem
Wunsch, den Besuch einer Heiligen Stätte zu organisieren, wollen sie nebenher zur
Erbauung und Belehrung des Lesers beitragen. Von dem problematischen
Anonymus Mercati einmal abgesehen, der lateinischen Übersetzung einer
23 Ygl. W. Wolska, La topographie chretienne de Cosmas Indicopleustes. Theologie et Science au
Yle siecle, Paris 1962. Edition: Cosmas lndicopleustes, Topographie chretie.nne. lntroduction,
texte critique, illustration, traduction et notes par W. Wolska-Conus, 3 Bde., Paris 1968-1 973,
Buch X1 ebd., Bd. lll ( 1 973), 3 1 4-357.
24 R. Jakobson, Linguistik und Poetik, in: ldem, Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1 92 1 -1 9 7 1 ,
Frankfurt/M. 1979 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 262), 8 3 – 1 2 1 , hier 85.
25 Ygl. A. Külzer, Peregrinatio graeca in Terram Sanctam, Frankfurt!M. 1994, 33-35 und öfter.
Der Text erfuhr eine (heute nur mehr seltene) Edition durch Spy. K. Papageorgiu, ‘ OöomoptKÖv
• laKw6ou MTJ)..oi•ou, Pamassos Bd. VI ( 1 882), 632-642, 634-642 .
43
möglicherweise griechischen Vorlage aus dem elften Jahrhundert mit dem Ziel
KonstantinopeJ26, sind die byzantinischen Pilgerführer allesamt auf das Heilige
Land beschränkt. Erstmals in der Mitte des 13. Jahrhunderts belegt und anfangs
noch ohne feste Strukturierung gehalten, bilden sich mit fortschreitender Zeit drei
Haupttraditionen dieser überwiegend im Sabas-Kioster bei Jerusalem erstellten
Texte heraus, zwei in ungebundener Rede und eine, deutlich geringer überlieferte,
Variante in der Form des politischen Verses, des Fünfzehnsilbers21. Den bekannten
Vertretern sämtlicher Traditionen, allesamt in einfacher Sprache gehalten, ist eine
strikte Zweiteilung zu Eigen: Nach einer kurzen Einleitung mit dem Hinweis auf
die erbaulichen und unterweisenden Zielabsichten des Textes wird im ersten Teil
ausführlich die Heilige Stadt Jerusalem beschrieben, unter besonderer Gewichtung
der Grabeskirche, bevor im zweiten Teil das Umland von Jerusalem und die
Gebiete bis nach Galiläa und den Städten an der Mittelmeerküste vorgestellt
werden. Die Texte sind also streng bedeutungshierarchisch konzipiert, der
Heiligste Ort wird besonders ausführlich dargestellt, die Ortschaften mit vergleichsweise
minder wichtigen religiösen Traditionen erfahren nur eine kürzere
Erwähnung28. Während die Pilgerführer nun naheliegenderweise durch das völlige
Fehlen personaler Elemente auffallen, sind die eng verwandten Pilgerbeschreibungen
als Niederschriften der Eindrücke realer Reisender stärker vom personalen
Element getragen, mitunter enthalten sie gar direkte Anreden an den Leser29• Ihre
formale Gestaltung ist unterschiedlich, das personale Element ist teilweise recht
schwach, wie im Falle der Heilig-Land-Beschreibung des Epiphanias
Hagiopolites, die somit als eine Art Pilgerführer gelesen werden konnte und
zwischen 638 und 900 n. Chr. insgesamt drei Redaktionen erlebte, bei denen der
Text erheblich umgestaltet und erweitert wurde, teilweise ist es aber auch stärker
26 Vgl. W. Berschin, I traduttori d’Amalfi nell XI sec., in: CHRJSTIANITA ED EUROPA.
Miscellanea di studi in onore di L. Prosdocimi, hrsg. v. C. Alzati, Rom – Wien 1994, Bd. I, 237-
243; A. Külzer, Wallfahrtsliteratur (aus Byzanz), LexMA Bd. VIII (München 1997), 1983f.
27 Vgl. A. Külzer, Peregrinatio graeca in Terram Sanctam, Frankfurt!M. 1 994, besonders 35-39,
60-62. Zum Versmaß vgl. M. J. Jeffreys, The nature and the origins of the political verse, DOP
Bd. XXVlli ( 1 974), 141-195; M. Alexiou – D. Holten, The origins and development of “politikos
stichos”: a select critical bibliography, Mantatophoros Bd. IX ( 1 976), 22-34; J. Koder, Kontakion
und politischer Vers, JÖB Bd. XXXIll (1983), 45-56.
28 A. Külzer, Peregrinatio graeca in Terram Sanctam, Frankfurt!M. 1994, 37f.
29 Vgl. hier besonders den Text des Paisios Hagiapostolites aus metabyzantinischer Zeit, aus dem
späten 16. Jahrhundert, A. Külzer, Die Sinaibeschreibung des Paisios Hagiapostolites, Metropolit
von Rhodes ( 1 57711 592}, in: X. von Ertzdorff (Hrsg.), unter redaktioneller Mitarbeit von R.
Schulz, Beschreibung der Welt: Zur Poetik der Reise- und Länderberichte. Vorträge eines
interdisziplinären Symposions vom 8.-13. Juni 1998 an der Justus-Liebig-Universität Gießen,
Amsterdam-Atlanta, GA (im Druck).
44
vertreten, wie in der Abhandlung des Johannes Phokas aus dem Jahre 1 1 77 n. Chr.,
in der sogar von den Militärerlebnissen des Autors berichtet wird30. In aller Regel
in ungebundener Rede gehalten, findet sich mit dem oben erwähnten Text des
Perdikas von Epbesos auch ein Gattungsvertreter in politischen Versen31. Die
Vorgaben der Rhetoriker im Hinblick auf die Beschreibungen von Ortschaften und
Gebäuden werden sowohl von den Pilgerführern wie auch von den Pilgerbeschreibungen
eingehalten, dies ein Hinweis auf eine bedachte und sorgsame
Komposition32, gleichwohl hat die Literaturwissenschaft, wie eingangs bemerkt,
seit jeher erhebliche Schwierigkeiten, den Kunstwerkcharakter, die literarische
Gestaltung gerade dieser beiden Untergattungen der byzantinischen Reiseliteratur
zu erfassen. Man sucht mit Nachrichten über profane Dinge, über historisch
auszuwertende Realien in diesen Schriften gerade die Sachverhalte, die sie ihrer
Konzeption nach gar nicht enthalten dürfen, die Wallfahrtsliteratur der
byzantinischen Welt ist im Unter-schied zu den lateinischen Gattungsvertretern
streng auf die Darstellung der Heiligen Orte konzentriert, der ,,Fenster zum
Kosmos”, wie Mircea Eliade es nannte33; es handelt sich um konsequent
komponierte theologische Abhandlungen, geographische Kommentare zur
Heiligen Schrift, denen der Verzicht auf die Beschreibung des Weltlichen
eigentlich zum Lob, da ein Resultat der strikten Beachtung der Gattungskriterien,
30 Vgl. A. Külzer, Peregrinatio graeca in Terram Sanctam, Frankfurt/M. 1994, 14- 1 7 zu
Epiphanias, 20f zu Johannes Phokas; die Editionen der Texte finden sich bei H. Donner, Die
Palästinabeschreibung des Epiphanias Hagiopolites, ZDPV Bd. LXXXVII (1971), 42-9 1 , 66-82
und J. Troickij, . Ioavvou toü oKä eK4>pa01<; ev ouv61jfe1 -rwv . IepOOOAUf!WV KcXOtpwv Klll xwpwv :Eupiac;;, OlVlKT]<; Klll tWV Katä IlaAa\OtlVT]V
pao6ev, PPS Bd. XXIII, St. Petcrsburg 1889. Leichter zugänglich dürften die Editionen in der
Patrologia Graeca sein, der Text des Epiphanias Hagiopolites findet sich in PG CXX, 259-272,
der des Johannes Phokas in PG CXXXIII, 927-962. Vgl. weiters A. Külzer, Epiphanias
Hagiopolitcs, LThK Bd. lLI (Freiburg!Br.-Basel-Rom-Wien 3/1995), 722.
31 A. Külzer, Pcregrinatio graeca in Terram Sanctam, Frankfurt/M. 1994, 26-28 und öfter. Vgl.
jüngst auch Th. Baseu-Barabas, Perdikas von Ephesos und seine Beschreibung Jerusalems: die
Heiligen Stätten gesehen von einem Byzantiner des 14. Jahrhunderts, Symmeikta Bd. XI ( 1 997),
1 5 1 – 1 88.
32 A. Külzer, Peregrinatio graeca in Terram Sanctam, Frankfurt/M. 1994, 88-95 .,Ekphrasis und
Pilgerliteratur – zur Anwendung rhetorischer Stilmittel in den griechischen Oricntbeschreibungen”.
Für die byzantinische Welt waren besonders Aphthonios von Antiocheia (4./5.
Jahrhundert) und Nikolaos von Myra (5./6. Jahrhundert) von Bedeutung, vgl. die Ausgaben
Aphthonii Progymnasmata edidit H. Rabe, accedunt Anonymi aegyptiaci, Sopatri, aliorum
fragrnenta, Leipzig 1926 und Nicolai Progyrnnasmata, edidit J. Feiten, ebd. 1 9 1 3.
33 Vgl. M. Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt!M. 1 990
(Suhrkamp Taschenbuch 1 75 1 , deutscher Erstdruck Harnburg 1957), 27f.
45
und nicht zum Tadel gereichen sollte. Ungeachtet des Faktums, daß der Forscher
mit subjektiven, zensurierenden Verdikten, mit Wertungen einem jeden Text
Gewalt antut und die literarische Erforschung erschwert34, liegt mit einem
derartigen Verhalten die methodisch fragwürdige Vergehensweise vor, Fragen –
und dann auch noch die verkehrten – an ein Sprachkunstwerk heranzutragen
anstatt dieses aus sich selbst heraus berichten zu lassen und die ihm innewohnende
Botschaft zu ergründen. – In der Hagiographie als einer weiteren Art des religiösen
Schrifttums wird zwar zuweilen von Reisen berichtet, so beispielsweise in den
Vita des Theodoros von Sykeon aus dem 7. Jahrhundert oder in der
Lebensbeschreibung des heiligen Nikon Metanoeite aus der Mitte des 1 1 . Jahrhunderts,
um nur zwei besonders charakteristische Beispiele zu nennen35, doch
sind diese Texte nicht der Reiseliteratur zuzurechnen: Ihr wesentliches Anliegen
besteht im Lobpreis Gottes und der Person des Heiligen, der Bericht über die Reise
erschöpft sich in aller Regel nur in bloßen Stationsaufzählungen, die Verfasser der
Viten waren am konkreten Erlebnis nicht interessiert36. So sei hier nur en
parenthese angemerkt, daß die Schriften regelmäßig eine einfache Sprache
verwenden, dies im Hinblick auf den Horizont ihrer Empfänger, der Verzicht auf
übermäßige rhetorische Ausgestaltung sollte eine stärkere Gewichtung des Inhaltes
bewirken. – Zuletzt sei auf die Sondergruppe der Fiktionalen Reisen eingegangen.
Wir wollen dabei vorausschicken, daß wir diesen Terminus entsprechend unserem
heutigen Sprachverständnis gebrauchen, auch wenn uns die methodischen
Bedenken von W. Neuber grundsätzlich als durchaus beachtenswert erscheinen,
daß nämlich die Vorstellungen von dem, was fiktional ist, im Verlauf der
Geschichte gewissen Veränderungen unterworfen waren, daß Fiktionalität weniger
als das “intentionale Abweichen vom Faktischen einer vorgegebenen Realität”
verstanden werden sollte, “sondern vielmehr von dem, was einer Gesellschaft an
34 Vgl. R. Jakobson, Linguistik und Poetik, in: Idem, Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1 92 1 – 197 1 ,
Frankfurt!M. 1979 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 262), 83- 1 2 1 , hier 86.
35 Vgl. Fr. Halkin, Bibliotheca hagiographica graeca, Bd. II, Brüssel 3/1 957, 1 5 1 f zu Nikon, 276f
zu Theodor. Zur Vita des heiligen Theodor von Sykeon, die infolge der zahlreichen Nennungen
von Ortsnamen im Bereich der historischen Geographie eine gewisse Rolle spielt, vgl. auch R.
Cormack, Writing in Gold. Byzantine society and its icons, New York 1985, 1 7-49 “The Visible
Saint: St. Theodore of Sykeon”, zu Nikon Metanoeite siehe D. F. Sullivan, The Life of Saint
Nikon. Text, Translation and Commentary, Brookline, Mass. 1987. Beide Viten sind vielfach
angesprochen bei E. Malamut, Sur Ia route des saints byzantins, Paris 1993 (wie Anm. 3), vgl. die
Indexeinträge ebd.
36 In diesem Sinne auch P. Schreiner, Viaggiatori a Bisanzio (wie Anm. 3), 35.
46
einem bestimmten geschichtlichen Ort als das Glaubhafte erscheint” 37• Die
byzantinischen Hadesfahrten etwa, teilweise satirischen, zumeist aber religiösmoralisierenden
Inhaltes38, waren wohl niemals als Realität verstan-den worden,
könnten hier deshalb, so sie für die byzantinische Reiseliteratur nur den geringsten
Wert hätten, in jedem Falle unbeanstandet erwähnt werden. Ent-scheidender ist für
uns aber die den Femen Osten berührende, im fünften nachchristlichen Jahrhundert
auf der Basis der ein Jahrhundert älteren Expositio totius mundi et gentium
niedergeschriebene . Oöoutop(et ano . Eöe!! “tOU 1tetpetöe(oou &px􀀮 “tWV
· PW!J.et(wv, die in knapper Form ein Stationsverzeichnis vom Paradies im
äußersten Osten der Oikumene über das südliche Indien, Aithiopien, Nordindien,
Persien, Arabien, Syrien, Konstantinopel bis nach Rom und raA..Het darbietet39,
dabei zweifelsfrei den Eindruck vermitteln möchte, über Wirklichkeit zu berichten,
so sicherlich auch vielfach von ihren Lesern verstanden wurde und deshalb der
Definition von W. Neuher nach im Rahmen der fiktionalen Reisen nicht zu
behandeln wäre. Der auch in einer georgischen Variante erhaltene Text bietet nach
einer vergleichsweise ausführlichen Beschreibung des Paradieses und seiner vier
Ströme ein Verzeichnis von Städte- und Ländernamen samt Entfemungsangaben,
die aber, wie verschiedentlich festgestellt wurde40, nicht mit der Realität
übereinstimmen. Letzteres ist freilich nur für eine realienkundliehe Lesart der
Abhandlung von Bedeutung, für den eigentlichen Charakter der Schrift aber
unseres Erachtens nach unerheblich. Wir vermuten hier ein christliches Zeugnis,
das das Paradies als einen konkret auf dieser Welt befindlichen und somit
erreichbaren Ort vorstellen möchte, damit gegen die – im fünften Jahrhundert
durchaus noch aktiven – heidnischen Jenseitsvorstellungen auftritt41• Die Bedeu-
37 W. Neuber, Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im
Horizont von Rhetorik und Topik, in: P. J. Brenner (Hrsg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung
einer Gattung in der deutseben Literatur, Frankfurt/M. 1 989, 50-67, 5 1 f.
38 Vgl. hier E. Trapp, Byzantinische Hadesfahrten als historische Quellen, in: W.-D. Lange
(Hrsg.), Diesseits- und Jenseitsreisen im Mittelalter. Voyages dans l ‘ici-bas et dans l’au-dela au
moyen-äge, Bonn-Berlin 1 992, 2 1 5-225.
39 J. Rouge, Expositio totius mundi et gentium. lntroduction, texte critique, traduction, notes et
commentaire, Paris 1 966 (Sources Chretiennes Bd. CXXIV), 346-357, Appendix li “L’ltineraire
de !’Eden au pays des Romains”. Vgl. auch H. Hunger, Die hochsprachliche profane Literatur der
Byzantiner, Bd. I, München 1 978, 5 1 5.
40 H. Hunger, Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner, Bd. I, 5 1 5 und Anmerkung
38.
41 Zu diesem Themenkreis vgl. einfuhrend B. Prehn, Hades, RE SuppiBd. lli ( 1 9 1 8), 867-878, K.
Latte, Inferi, RE Bd. XVIII ( 1 9 1 6), 1 5 4 1 – 1 543, R. Ganschinietz, Katabasis, RE Bd. XX ( 1 9 1 9),
2359-2449 und E. Wüst, Unterwelt, RE 11 Bd. XYil ( 1961 ), 672-683 sowie den interessanten
Sammelband von Th. Klauser – E. Dassmann – K. Thraede (Hrsgg.), Jenseitsvorstellungen in
47
tung des Paradieses fur den insgesamt sehr kurzen, in keinem Überlieferungsträger
mehr als drei Folios einnehmenden Gesamttext42 wird durch die im Vergleich
unverhältnismäßige Ausfuhrlicbkeit der Beschreibung offenbar, die wiederum, wie
im Falle Jerusalems in der Wallfahrtsliteratur, von einer konsequenten
Bedeutungshierarchie kündet. Auch die starke Konzentration auf die Beschreibung
der religiösen Verhältnisse anläßtich der Stationserwähnungen, die eventuelle
Existenz von Heiden und, wichtiger noch, von Christen, unterstreicht die
theologische Dimension der . ÜÖOl1top(􀂋 cmo . Eöc􀀯 “COÜ 1t􀂋p􀂋ÖE (oou äpxl “CW\1
· Pw􀆯􀂋(wv. In diesem Zusammenhang muß der Itinerarcharakter der Schrift als
ein wichtiges literarisches Kompositionselement verstanden werden, der Verzicht
auf potentielle erbauliche Erzählungen, die strikte Beschränkung auf
Entfernungsangaben soll den absoluten Wahrheitsanspruch des Textes
unterstreichen.
Nach diesen Darlegungen über die einzelnen Untergattungen der
byzantinischen Reiseliteratur und die literarische Gestaltung ausgewählter
Gattungsvertreter sollen abschließend noch einige übergreifende und
zusammenfassende Betrachtungen angestellt werden. Der Versuch, den
Kunstwerkcharakter dieser so unterschiedlichen Texte zu würdigen, die Intention
der Autoren der jeweiligen Sprachkunstwerke zu erfassen, das Bemühen, die den
Schriften innewohnenden literarischen, stilistischen und auch ethischtheologischen
Werte zu entdecken, sowie die Preisgabe einer Interpretation und
Lesart der Reiseliteratur, die lediglich an der Vermittlung von historischrealienkundliehen
Informationen interessiert ist, hat es ermöglicht, überkommene
Urteile in bezug auf einzelne Vertreter dieser Literaturgattung zu revidieren und
besonders die aus einer theologischen Intention heraus entstandenen Texte, die
Wallfahrtsliteratur und einzelne Vertreter des fiktionalen Schrifttums, in einer
neuen Wertigkeit zu begreifen. Es handelt sich dann nicht mehr um “simple
Schriften mit einem erheblichen lnformationsdefizit, die von in der Regel
ungebildeten Mönchen in teilweise armseliger Weise” verfaßt worden sind, um die
verschiedenen abwertenden Urteile in einem Satz zusammenzufassen, sondern im
Gegenteil um sorgfältig komponierte Darstellungen, die die von ihnen verfolgte
Absicht, die Bestätigung eines theologischen Anliegens, die Beschreibung von
Heiligen Orten und “Fenstern zum Kosmos”, die Wahrheit der christlichen
Antike und Christentum. Gedenkschrift fiir A. Stuiber, Jahrbuch fiir Antike und Christentum,
Ergänzungsband lX, Münster 1982.
42 Vgl. die Zusammenstellung der Überlieferungsträger bei J. Rouge, Expositio totius mundi et
gentium. lntroduction, texte critique, traduction, notes et commentaire, Paris 1966 (Sources
Chretiennes Bd. CXXIV), 346-357, Appendix II ,,L’Itineraire de ! ‘Eden au pays des Romains”,
hier 349.
48
Paradiesesvorstellung etc., in konsequenter Weise verfolgen, dabei auch die von
den byzantinischen Rhetorikern wie Aphthonios von Antiocheia (4./5. Jahrhundert)
oder Nikolaos von Myra (5./6. Jahrhundert) erhobenen Forderungen nach der
Art und Vorgehensweise der Beschreibung von Gebäuden etc. berüc ksichtigen.
Wenn man aber nun im Hinblick auf die gesamte byzantinische Reiseliteratur die
Frage stellt, aufwelche Weise der Kunstwerkcharakter der Texte erzeugt wurde, so
muß die Antwort sehr differenziert ausfallen: in verschiedenen Fällen erschien die
narrative Verknappung, die einfache Sprache, die leicht verständ liche
Konstruktion, sogar der Itinerarcharakter als geeignet, die Wahrhaftigkeit einer
Abhandlung aufzuzeigen, die Inhalte der Schrift waren dergestalt am leichtesten
den ins Auge gefaßten Empfängern, etwa der Schicht der Handeltreibenden,
vermittelbar. Andere Texte wie beispielsweise die Gesandts chaftsberichte der
fiiihbyzantinischen Zeit benötigten eine hochrhetorische Ausgestaltung, weil nur
mit dem kunstvoll komponierten Werk das Wohlwollen der in diesen Fällen in
aller Regel gesellschaftlieb hochstehenden und entsprechend gebildeten
Zielpersonen zu erlangen war. Sind die Schriften insgesamt überwiegend in
ungebundener Rede gehalten, so finden sich doch in verschiedenen
Untergattungen auch versförmige Reisebeschreibungen; diese können aus so
unterschiedlichen Lebenswelten wie denen der Gesandten oder denen der Pilger
stammen, die häufig erhobene Behauptung, die Form eines Textes ließe bestimmte
Erwartungen in bezug auf den Inhalt zu, ist also für das hier untersuchte Material
nur äußerst bedingt richtig. Freilich lassen sich bestimmte Entwicklungstendenzen
der Literatur auch anband unserer Texte bestätigen, der kunstvolle Zwölfsilber
findet sich noch bei Konstantin Manasses im zwölften Jahrhundert, wird dann
aber, wie es allgemeiner Tradition entspricht, durch den von seiner Betonung her
bedeutend einfacher zu bildenden politischen Vers, den Fünfzehnsilber, abgelöst.
Interessant ist die Feststellung, daß nur wenige Reisebeschreibungen über die
Briefliteratur tradiert wurden, obwohl der Brief zu den häufigsten literari schen
Äußerungen gehört; bemerkenswert ist weiterhin, daß die dergestalt überlieferten
Werke unserer Beobachtung nach allesamt der Gesandtschaftsliteratur angehören,
mithin von Reisenden mit einer hohen Bildung niedergeschrieben worden sind. –
Die byzantinische Reiseliteratur weiß zu einem erbeblichen Teil um den prägenden
Charakter, den sie auf das (geographische) Weltbild ihrer Leser hat, Anreden an
die Empfänger der Texte sind darum auch keine Seltenheit. Moralisierende
Wertungen über das Gesehene und Erlebte können begegnen, Polemik gegen
Andersgläubige findet sich nicht alleine in den religiös motivierten Schriften.
Zahlreiche Vertreter der Gattung enthalten Reverenzen an die Heilige Schrift als
einen als Autorität verstandenen Text, nebenher sind, besonders innerhalb der von
und für Gebildete geschriebenen Gesandtschaftsliteratur, auch Anspielungen auf
49
und Zitate von antiken Autoren häufig; diese haben freilich eine andere Wertigkeit,
sie dienen weniger als Autoritäten, sondern lediglich zur Demonstration der
eigenen Gelehrsamkeit, sind aber auch ein Hinweis darauf, daß die byzantinische
Profanliteratur stark vom Traditionalismus, von der ,,Mimesis”, der Nachahmung
und Imitation der Antike, bestimmt war43• – Erstaunlich ist der weitestgehende
Verzicht auf Illustrationen in den griechischsprachigen Reisebeschreibungen: die
,,Fremde”, die in der westlichen Welt gerade auch über das Bild oder aber durch
das Zusammenwirken von Text und Bild vermittelt wurde44, erfuhr in der
Reiseliteratur der Byzantiner beinahe ausschließlich über die scriptura eine
Berücksichtigung, neben recht schematischen Zeichnungen in vereinzelten
Pilgerführern wie beispielsweise dem Anonymos Romae Bibi. Vitt. Emanuele gr.
1 5 saec. XVII oder dem Anonymos Athous Gregoriou 1 59 a. 168045 finden sich
alleine in den Manuskripten der XptoncxvtJicx des Kosmas
lndikopleustes verschiedene skizzenartige Entwürfe, in jedem der drei bekannten
gri echischen Überlieferungsträger mehr als 50, die freilich nicht immer auf die
gleichen Motive bezogen sind46. Dargestellt werden hier seltene Pflanzen und
Tiere, mehr aber noch, dem christlichen Anliegen des Textes entsprechend,
geläufige Motive aus der Sakralmalerei, etwa Prophetenbildnisse, sowie
Zeichnungen, die das von Kosmas entworfene Weltbild weiter erläutern sollen,
43 Zu dieser Thematik vgl. H. Hunger, On the Imitation (MiJ.LT)<n<;) of Antiquity in Byzantine
Literature, DOP Bd. XXlU/XXN (1969170), 1 5-38 und (dem, Die hochsprachliche profane
Literatur der Byzantiner, Bd. I, 208-2 1 3 “Rhetorik und Mimesis”. – Die in der byzantinischen
Welt gleichfalls als Autoritäten verstandenen Werke der Kirchenväter werden in der
Reiseliteratur kaum je zitiert.
44 Man denke hier nur an die kunstvoll gestaltete Weltchronik des Hartmann Sehedei aus dem
Jahre 1 493 und die in ihr enthaltenen wunderbaren Städtebilder; zum Phänomen “Text und Bild”
ist eine unübersehbare Literatur erschienen, stellvertretend seien an dieser Stelle genannt F. Vian
(Hrsg.), Texte et image. Actes du colloque international de Chantilly ( 1 3 au 15 octobre 1982),
Paris 1984, W. Harms (Hrsg.), Text und Bild, Bild und Text, Stuttgart u. a. 1 990, K. Dirscherl
(Hrsg.), Bild und Text im Dialog, Passau 1993, H. L. Kessler, Studies in pictorial narrative,
London 1 994 und 8. Erdle (Hrsg.), Mimesis, Bild und Scluift. Ähnlichkeit und Entstellung im
Verhältnis der Künste, Köln-Wien u.a. 1 996.
45 Vgl. hierzu P.W. Bezobrazov, IIpoOJc:uvrp:ciplOV tij<; . IepoupaA.i’]J.l Ka\ tWV A.omwv ayiwv
t01tWV tOÜ l( aiwvoc;, VÜV tO 1tpWtOV tKÖlö6J.1EVOV J.1Eta 1tpOAOyou Ka\ ‘ pWOOlKijc;
J.1Eta<)>pcioewc;, PPS Bd. LIV, St. Petcrsburg 1901; S. N. Kadas, EiKovoypa<)>rwevo
IlpOOKUVT)tcipw tWV aylwv t01tWV (KwÖ. I 59 tijc; J.lOVTjc; fpT)yop(ou) Klerenomia Bd.
IX (1977), 370-432 sowie A. Külzer, Peregrinatio graeca in Terram Sanctam, Frankfurt/M. 1994,
56f, 58f und öfter.
46 Es handelt sich um die Codices Vat. gr. 699 saec. IX, Sinait. gr. 1 1 86 saec. XI und Florent.
Laurent. plut. 9, 28 saec. XI; vgl. auch 8. Baldwin – A. Cutler, Kosmas Indikopleustes, ODB Bd.
lii (New York-Oxford 1991), I ISif.
50
Fremdes und Vertrautes stehen also eng nebeneinander. – So läßt sich zum
Abschluß unserer Ausfiihrungen die Feststellung treffen, daß das Anliegen, der
byzantinischen Reiseliteratur über eine Analyse ihrer literarischen Gestaltung
näherzukommen, durchaus seine Berechtigung hatte, war es dergestalt doch
möglich, die in ihrem Wert häufig mißverstandenen Schriften in einer neuen
Dimension zu erfahren, unter anderen Gesichtspunkten denn den gewohnten zu
präsentieren und damit diese Texte einer gerechteren Beurteilung zuzufiihren.
5 1
MEDIUM AEVUM
QUOTIDIANUM
40
KREMS 1999
HERAUSGEGEBEN
VON GERHARD JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG
DES AMTES DER NlEDERÖSTERREICHJSCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik: Stephan J. Tramer
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der
materiellen Kultur des Mittelalters, Körnermarkt 1 3, A-3500 Krems, Österreich.
Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche
Zustimmung jeglicher Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet
ist. – Druck: KOPITU Ges. m. b. H., Wiedner Hauptstraße 8-10, A-1 050 Wien.
Inhalt
Vorwort …………………………………………………………………………………………………. 5
Helmut Hundsbichler, AIItagsforschung und lnterdisziplinarität ………………….. 7
Andreas Külzer, Die byzantinische Reiseliteratur:
Anmerkungen zu ihrer literarischen Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ……………… 35
lliana Tschekova, Folklor-episehe Paradigmen in der Nestorchronik ………… 52
Lucas Burkart, Kommunale und seigneurale Bildersprache
des Quattrocento in Padua und Ferrara …………………………………………… 66
Rezensionen ……………………………………………………………………………………….. 125
3
Vorwort
Das vorliegende Heft 40 von Medium Aevum Quotidianum veremtgt eine
Anzahl von Beiträgen, die in den letzten Monaten von Mitgliedern und
Freunden unserer Gesellschaft zur Verfügung gestellt wurden. Diese sollen vor
allem die Bedeutung vermitteln, welche interdisziplinären Ansätzen in einer
Geschichte von Alltag und Sachkultur des Mittelalters zukommt.
Die Planungen fiir die nächsten Hefte sind insoweit fortgeschritten, als
sich besonders einige Sonderbände bereits in einer konkreten Vorbereitungsphase
befinden. Dies gilt vor allem fiir zwei Bibliographien: Detlev Kraack
(Berlin) und sein internationaler Mitarbeiterstab befinden sich in den
Abschlußarbeiten für eine Bibliographie zu den Graffiti des Mittelalters und der
frühen Neuzeit, welche Ende 1 999 oder Anfang 2000 erscheinen wird.
Außerdem beschäftigen wir uns schon seit längerem mit einer Überarbeitung
und sehr nötigen Ergänzung der im Jahre 1986 als Medium Aevum
Quotidianum-Newsfetter 718 erschienenen Auswahlbibliographie zu Alltag und
materieller Kultur des Mittelalters. Auch für jene ist ein Erscheinungstermin
1999/2000 vorgesehen.
Als Autor einer der nächsten Sonderbände konnte Markus Späth
(Hamburg) gewonnen werden, der sich mit der räumlichen Differenzierung in
der hochmittelalterlichen Klosterarchitektur am Beispiel nordenglischer
Zisterzen auseinandersetzen wird.
Schließlich möchten wir Sie wieder herzlich einladen, unsere Website
http://www.imareal.oeaw. ac. at/maq/ zu besuchen. Im Augenblick finden Sie
dort die Inhaltsverzeichnisse aller bisher erschienenen Bände unserer Reihe.
Binnem kurzem wird dieses Angebot ergänzt werden durch die
Zugriffsmöglichkeit auf den Volltext ausgewählter, uns besonders wichtig
erscheinender Beiträge aus zum Teil bereits vergriffenen Bände vergangener
Jahre.
Gerhard Jaritz, Herausgeber
5