Zu den Zahlzeichen 0 und 4 im spätmittelalterlichen Merkspruch Vnum dat vinger
Abstract
Der kurze spätmittelalterliche Merkspruch Vnum dat vinger soll über Vergleichsgegenstände aus dem Alltag die Formen der indisch-arabischen Zahlzeichen in Erinnerung rufen. In diesem Aufsatz werden die Gegenstände, mit denen die Vier und die Null verglichen werden, genauer analysiert, kultur- sowie sprachhistorisch verortet und die Begriffe historisch-semantisch untersucht. Die Bilingualität des Spruches, die sich auf den ersten Blick schlecht mit den auf Deutsch angeführten Gegenständen aus dem Bereich des Alltags bzw. dem bäuerlichen Milieu vereinbaren lässt, steht ebenso im Zentrum der Analyse wie dessen didaktische Relevanz und mnemotechnische Funktion im Laufe der Zeit.
Abstract (englisch)
The short mnemonic Vnum dat vinger from the Late Middle Ages serves as a tool for remembering the shape of the Hindu-Arabic numerals via objects used in day-to-day life. This paper will focus on two of these objects in detail: The comparison objects for the numbers four and zero will be analyzed from the perspectives of history of culture, language, and semantics. The bilinguality of the mnemonic stands in juxtaposition to the mentioned objects which stem from a rural milieu or are at least to be located outside of the academic sphere. This will also be part of the analysis as well as the didactic relevance and the importance of the short mnemonic in memorial culture over time.
Zu diesem Artikel exitiert eine begleitende Episode des Podcasts “Sonic Trinkets”:
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
Rechnen ist eine Kunst. Aus einer modernen Perspektive heraus würden wir diesem Satz wohl intuitiv widersprechen und den Begriff ‚Kunst‘ mit ‚Notwendigkeit‘ oder sogar ‚Qual‘ ersetzen wollen, doch die Fähigkeit, rasch und ohne große Anstrengungen zu einem sicheren Rechenergebnis zu gelangen, ist ein Meilenstein unserer intellektuellen Geschichte. Die Einführung und Verbreitung der Kulturtechnik des Rechnens mit Stift und Zettel sind dabei von immenser Wichtigkeit, doch dieser Prozess ist durch eine geographisch und zeitlich heterogene Rezeption und eine damit im Zusammenhang stehende zögerliche Aufnahme in die deutsche Volkssprache bestimmt.
Der Siegeszug des Rechnens mit Stift und Zettel ist der Verbreitung der indisch-arabischen Zahlen geschuldet, die anders als die römischen Zahlzeichen ein Rechnen basierend auf dem dekadischen Stellenwertsystem ermöglichen. Es wird nun mit einem eigenen Zeichensystem operiert, das vom Buchstabeninventar der Standardsprachen entkoppelt ist und somit eine Formalisierung der Mathematik ermöglicht.
Die neuen Zahlzeichen stellen zunächst in ihrer Fremdartigkeit eine Herausforderung dar, die sich unter anderem darauf begründet, dass neben dem Erlernen des Stellenwertsystems auch die Einführung eines Zeichens für die leere Stelle intellektuelle Schwierigkeiten bereitet. Die Null als Symbol für das Nichts, als Platzhalter und Zeichen für die leere Menge, die aber gleichzeitig wie eine Zahl funktioniert, ist schwer zu greifen und führt auch im Bereich der mathematischen Notation lange zu Skepsis und Ablehnung. Die Null wurde als nicht fälschungssicher angesehen, da man sie zu leicht an bestehende Zahlen anhängen und in andere Zahlen wie eine 6 oder eine 9 verwandeln konnte. Dies hatte zur Folge, dass in Italien im Bereich des Handels, der die Praktikabilität der neuen Kulturtechnik rasch zu schätzen wusste, schon Anfang des 13. Jahrhunderts mit den indisch-arabischen Zahlen operiert wurde, es jedoch noch bis ins frühe 16. Jahrhundert andauerte, bis das Rechnen mit Stift und Zettel sich in ganz Europa verbreitete. Hier muss man allerdings auch auf den Unterschied im Bereich des gelehrten, lateinischen Umfelds in Abgrenzung zu den Volkssprachen hinweisen: An den Universitäten wurde bereits im späten 13. Jahrhundert Johannes de Sacroboscos Schrift zum Rechnen mit den indisch-arabischen Zahlen De arte numerandi als Lehrtext für die Kunst der Arithmetik verwendet und stand bis ins 16. Jahrhundert auf dem Lehrplan. In der Volkssprache war die Ausbildung zwar weniger systematisch, dafür wohl nachhaltiger: An den Universitäten musste man das Quadrivium durchlaufen und wurde so mit Sicherheit einmal im Studium mit der Arithmetik und den indisch-arabischen Zahlen konfrontiert. Diese Art der Auseinandersetzung war jedoch eher theoretischer Natur, da ein Text wie De arte numerandi zwar über die neuen Zahlzeichen und die damit verbundenen Rechenmethoden berichtet, aber keine Beispiele und damit auch keine Anleitung für das tatsächliche Rechnen bietet. Die volkssprachlich überlieferten Rechenbücher, die in städtischen Rechenschulen verwendet wurden und die Grundlage für die Ausbildung von Händler*innen- und Handwerker*innenkindern darstellen, haben im Gegensatz zu den theoretischen Texten das Ziel, die Lernenden zu aktiven und fähigen Rechnenden auszubilden, und sind voller Beispiele, Rechenanweisungen und Erklärungen. Das hat zur Folge, dass man im gelehrten Umfeld zwar schon früh über die indisch-arabischen Zahlen Bescheid wusste, sie auch für Computus-Berechnungen und in der Astronomie einsetzte, sie allerdings erst sehr viel später über den Einsatz in Handel und Handwerk im Rahmen der volkssprachlichen Vermittlung wirklich wichtig wurden und schließlich in ganz Europa das Rechnen und die Notation mit römischen Zahlzeichen verdrängten.Die Niederschrift erster deutschsprachiger Rechenbücher beginnt Anfang des 15. Jahrhunderts, zu einer Zeit, in der auch die ersten Rechenschulen im deutschsprachigen Raum entstehen. In dieser Phase finden wir auch die ersten Belege für einen kurzen, zweisprachigen Merkspruch, der die indisch-arabischen Zahlen und deren Formen über den Vergleich mit Alltagsgegenständen einführt und sich durch eine heterogene Überlieferung auszeichnet.
Dieser Spruch, der unter seinem Incipit Vnum dat vinger bekannt wurde, ist uns heute 24 Mal in 22 Textzeugen überliefert und wird auch im frühen 16. Jahrhundert noch von Adam Ries in dessen handgeschriebener Coß zitiert. Dabei wird den einzelnen Zahlwörtern jeweils ein Gegenstand zugeordnet, dessen Form der entsprechenden Zahl in ihrer indisch-arabischen Schreibweise gleicht. Der Finger gleicht der Eins, die Krücke der Zwei, der Schweineschwanz der Drei usw. Die Gegenstände sind im Gegensatz zum Großteil des Spruches nicht in lateinischer Sprache, sondern auf Deutsch wiedergegeben und sind allesamt nicht dem gelehrten, lateinischen Umfeld zuzuschreiben. Es handelt sich vielmehr um Dinge aus dem Bereich des Alltäglichen, dem Handwerk und der Landwirtschaft, die allerdings oft gar nicht einfach zu identifizieren sind.Dieser Aufsatz möchte sich zwei dieser Gegenstände widmen und jene in ihrer historischen und materiellen Relevanz im Kontext des Merkspruches untersuchen. Zunächst soll die Zahl Vier und der mit ihr verglichene Gegenstand des wuerspogells genauer untersucht werden, bevor dann die Zahl Null und der pruochrinckgel im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen wird.
2. Es geht um die Wurst
Die Vier wird in allen 24 Textvarianten mit etwas verglichen, was in irgendeiner Form mit einer Wurst zu tun hat: Wir sehen verschiedenste Varianten
Jener kleine Merkzettel, den Christina Jackel im Zuge der Recherchen zu ihrer Dissertation gefunden hat, stellte unsere erste Begegnung mit dem Vnum dat vinger-Spruch dar und zeigt bereits, dass die Frage nach der Überlieferungssituation, der Benutzung und auch nach dem Kontext des Spruches nicht einfach zu beantworten ist. Auf diesem kleinen Blatt wird zunächst das Stellenwertsystem im Rahmen eines lateinischen Verses eingeführt; die Zahlen von 1 bis 10.000.000 werden über die Anzahl der Zahlzeichen im Stellenwertsystem identifiziert. Danach folgt Vnum dat vinger in einer verkürzten Variante, bei der die Null und auch die Zehn, die üblicherweise als Kombination aus dem Zahlzeichen für die Eins und der Null beschrieben wird, nicht erwähnt werden. Am rechten unteren Blattrand findet sich noch eine Ergänzung zum Stellenwertsystem und damit zum ersten Vers des Fragments, wenn die Zahl 100.000.000 als mille milia eingeführt wird. Im Rahmen des Vnum dat vinger-Spruches wird die vier (quatuor) mit dem wuerstl verglichen, das entsprechende indisch-arabische Zahlzeichen ist ebenfalls auf dem kleinen Blatt wiedergegeben, über dem deutschen Begriff zu finden und erinnert an eine Schleife.
Die erste – wohlgemerkt trügerische – Assoziation, die sich in unseren modernen Köpfen wunderbar mit dem Begriff des Würstels aus dem Kremsmünsterer Fragment deckte, war nicht eine einzelne Wurst, sondern ein Paar Würste: Wenn dieses auf einem Teller liegt oder auch auf einer Stange zum Trocknen aufgehängt wird, überkreuzen sich die unteren Enden der beiden Würste und bilden damit rein optisch diese Schleifenform nach. Es lässt sich somit ganz einfach eine 4 in der Form erkennen, wie sie im 15. Jahrhundert üblich war. Diese Assoziation war in weiterer Folge auch die mentale Vorlage, auf der wir die anderen Vergleichsgrößen, die ebenfalls für die Vier im Rahmen des Spruches herangezogen wurden, gelesen haben – doch auch hier haben wir zunächst falsch interpretiert: Die braden worst (Bratwurst) passte ohnehin perfekt in dieses bestehende Bild der Wurst, die wurst fül, also die Wurstfülle oder auch das Wurst-Füllen, wurde von uns als pars pro toto für die gesamte Wurst gelesen und den wuerspogell haben wir als bogen interpretiert und damit auch auf die gebogene Form einer Wurst bzw. eines Wurstkranzes geschlossen.
Für das wuerstl aus dem Kremsmünsterer Fragment bzw. der Bratwurst, wie wir sie im Weimarer Büchlein O 110e und in der Basler Handschrift F VII 12 finden, wird diese Assoziation wohl auch stimmen, doch mit diesen Begriffsvarianten hat die Richtigkeit dieser Auslegung auch schon ihr Ende gefunden. Beim wuerspogell und der wurst fül ist die Erklärung der Begriffe und damit auch der Assoziation zur Form der indisch-arabischen Zahl Vier allerdings weniger im Alltäglichen, sondern vielmehr im Handwerk zu finden und bezeichnet einen konkreten Gegenstand, der für lange Zeit in der manuellen Wurstherstellung unerlässlich war: Der Wurstbügel oder auch Wurstbogen ist ein Werkzeug, das bereits viele verschiedene Bezeichnungen hatte, im 18. Jahrhundert den Namen Wurstmaß trug und auch so in unserer (modernen) Lexik bekannt ist. Auch die Wurstvelge ist eine Variante dieses Begriffs und erklärt damit das würst fellig, wie es im Grazer Codex 275 zu finden ist. Im Grimmschen Wörterbuch sind der Wurstbügel und die Wurstvelge belegt; die Variante worsteboghel wird bereits ins 14. Jahrhundert datiert. Die meisten Belege finden sich allerdings im lateinisch-deutschen Glossar von Lorenz Diefenbacher: Hier ist der Eintrag „Obliculum oder Oblitulum” von Relevanz, das als instrumentum ad farcienda salsucia beschrieben wird und dem die deutschen Begriffe wurstfelg, wurstpugel, -bügel, boegel oder bogen zugeschrieben werden, sowie das woerst hoern. Die allesamt aus dem 15. Jahrhundert stammenden Belege zeigen die begriffliche Varianz. Was aus den Wörterbüchern allerdings nicht eindeutig hervorgeht, ist, worum es sich bei einem Wurstbügel eigentlich handelt. Johann Karl Gottfried Jacobsson definiert den Wurstbiegel wie folgt: ein aus Messing, Horn oder Holz verfestigter Ring mit einem kleinen Griff, vermittelst dessen das Wurstgefülle in die Därme gedruckt wird. Auch den Begriff des Wursthorns erläutert Jacobsson: ein Stück Horn, womit die Würste anstatt des Biegels auch gefüllt werden. Der Wurstbügel bzw. das Wursthorn war ein absolutes Verschleißgerät, von dem wir aufgrund dieser Tatsache heute nur sehr wenige ältere Artefakte als Anschauungsgrundlage haben. Thomas Schindler hat einen aus Messing gefertigten Wurstbügel aus dem Jahr 1601 beschrieben, der heute im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg aufbewahrt wird. Dieser Wurstbügel des Typs Einohrbügel mit stumpfer Entschleimerklinge ist 15,2 cm lang, 4,5 cm breit.
Wurstbügel waren keine amtlichen Kontrollgeräte, sie waren also nicht dazu da, um eine normierte ‚Standardwurst‘ zu verkaufen, da Wurst nach Gewicht verkauft wurde. Dennoch wurde der Wurstbügel dazu verwendet, um einheitliche Ware zu verkaufen, die optisch ansprechend und gleichmäßig portioniert war. Der Ring war einerseits eine Führungshilfe und dazu da, um den zu befüllenden Darm konstant offen zu halten und so die Herstellung der Wurst zu vereinfachen. Andererseits wurde der Ring auch dazu verwendet, um an der Außenseite der Wurst den Durchmesser auf gleichmäßige Ausdehnung hin zu überprüfen und damit eine überall gut gefüllte Wurst zu produzieren. Die Länge des Wurstbügels wurde für die Abmessung der fertigen Wurstprodukte verwendet. Der Wurstbügel war also ein Instrument für die Warenvereinheitlichung und diente gerade in der frühneuzeitlichen Massenproduktion als wichtiges Hilfsmittel für die Metzger.
Auch, wenn nun klar ist, was ein Wurstbügel ist und wofür er verwendet wurde, erschließt sich die Ähnlichkeit zur frühneuzeitlichen Form der indisch-arabischen Vier beim Einohrbügel mit stumpfer Entschleimerklinge nicht unmittelbar. Schindler weist allerdings darauf hin, dass ältere Wurstbügel ein wenig anders ausgesehen haben und v. a. ohne die Entschleimerkerbe gefertigt wurden. Wie genau das ausgesehen hat und wo die Ähnlichkeit zur frühneuzeitlichen Vier besteht, kann über verschiedene Abbildungen eines Wurstbügels aus dem 16. bzw. 17. Jahrhundert gezeigt werden: In den Hausbüchern der Nürnberger Zwölfbrüderstiftungen finden sich vier solcher Bilder. Das Wurstmaß ist in allen Fällen einem Handwerker, der aus dem fleischverarbeitenden oder fleischproduzierenden Gewerbe kommt, als Arbeitsgerät beigefügt. Die beiden frühesten Abbildungen stammen aus dem späten 16. Jahrhundert und zeigen beide Male verschiedene Wurstbügel, die auf einen Ring aufgefädelt transportiert werden. Das erste Bild zeigt den Tüncher, Anstreicher und Schweinestecher Hans Layr, stammt aus dem Jahr 1586 und zeigt auch seine Arbeitsgeräte. In seiner rechten Hand trägt Hans Layr einen Bund mit Wurstmaßen. Die zweite Abbildung stammt aus dem Jahr 1599 und zeigt Albrecht Meichsner, seines Zeichens Dachdecker und im Nebenberuf Schweinestecher. Hier trägt nicht er die Wurstmaße, sondern ein Schweinestecher, der im Hintergrund abgebildet ist; auch er hat einen Ring mit verschiedenen Wurstbügeln in seiner rechten Hand. In beiden Bildern ist die Ähnlichkeit zur Zahl Vier nun um Einiges leichter zu erkennen.
Eine noch bessere Vorstellung davon, wie ein frühneuzeitlicher Wurstbügel ausgesehen haben könnte, bekommen wir über einen Grabstein am St. Rochusfriedhof, der ebenfalls in Nürnberg zu finden ist
und im Jahr 1554 angefertigt wurde. Es handelt sich um den Grabstein von Margret Leypoltin und ihrem Mann Sebold, der Metzger war. Auf dem Grabstein sind die Zeichen des Fleischerhandwerks zu sehen: ein Beil, eine Muschel zum Abschaben der Schweineborsten, ein Wetzstein unter der Muschel, ein Meisterzeichen, ein Wurstmaß und ein Schwein. Dieser Wurstbügel sieht anders aus als die in den Hausbüchern dargestellten Werkzeuge und erinnert durchaus an die Schleifenform der frühneuzeitlichen Vier.Der Wurstbügel bzw. das Wurstfelg dürfte damit eines der wichtigsten Werkzeuge des fleischverarbeitenden Gewerbes im Mittelalter gewesen sein, auch wenn sich in den gängigen Wörterbüchern zum Mittelhoch- und Frühneuhochdeutschen passende Einträge nicht finden lassen. Genau deswegen macht die fehlerhafte Assoziationskette vom wuerstl zur gebogenen Wurst, so wie wir sie als moderne Leserinnen gemacht haben, so viel Sinn, da entsprechende Einträge in sprachgeschichtlich relevanten Wörterbüchern – mit Ausnahme des Grimm’schens Wörterbuchs, in dem der Eintrag allerdings auch nur in einer späteren sprachlichen Variante zu finden ist – fehlen. Dies führt zur Schlussfolgerung, dass unser kultur- und damit auch sprachhistorisches Wissen über Gebrauchsgegenstände unvollständig ist.
An dieser Stelle kann über den Prozess des ‚Fehllesens‘ vom Wurstbügel zum Würstel auch sehr gut aufgezeigt werden, wie der Merkspruch funktioniert und warum er in seiner häufigen Überlieferung so viel Varianz aufweist. Der gesamte Merkspruch zeichnet sich durch eine flexible Bildsprache aus. Die Gegenstände, die als Vergleichsgrößen für die Form der Zahlen im Laufe der Überlieferung des Spruches herangezogen werden, sind für einige Zahlen sehr instabil: z. B. ist die Zwei als Krücke, Brücke, Storchenschnabel, Treppe oder Treppenstufe ausgewiesen, die Fünf wird immer mit einer Art von Stab verglichen, welcher das aber ist, ist in der Überlieferung nicht festgelegt und geht vom Pilgerstab zur Krücke bis hin zu Stäben, die bis dato noch nicht identifiziert werden konnten, z. B. crestenstab (Graz, Universitätsbibliothek 275, fol. 11v) oder redestab (Berlin, Staatsbibliothek Ms. Lat. qu. 2, fol. 94v).
Der Anfang des Merkspruches ist in der gesamten Tradition stabil. Es beginnt immer mit dem bekannten Vnum dat vinger und weist somit die Texttradition über dieses immer gleiche Incipit aus. Doch die Varianz der Bildsprache beginnt, wie eben gezeigt wurde, schon bei der Zwei. Diese strukturelle Stabilität in Kombination mit dem unveränderlichen Incipit ist der Grund dafür, warum das Begriffsinventar variieren, der Spruch aber noch immer als solcher identifiziert werden kann. Der Spruch wird nicht falsch, nur weil andere Vergleiche zu den Zahlen verwendet werden. Er ist noch immer eindeutig bestimmbar und funktioniert auch weiterhin: Die Formen der indisch-arabischen Zahlen können über andere Gegenstände memoriert werden. Welche Gegenstände das sind, ist für den Spruch an sich im Grunde völlig egal. Die strukturelle Enge, die diesen Spruch immer als solchen erkennbar macht, ist die Grundvoraussetzung für diese inhaltliche Breite, die wir in der Überlieferung sehen. Bilder können ohne Weiteres angepasst, optimiert oder auch fehlgelesen werden, ohne dass die Richtigkeit des Spruches und deren Vergleichsbilder angezweifelt werden müssen. Ganz im Gegenteil: Andere Werkzeuge, Gebrauchsgegenstände und Bilder können je nach Relevanz für Zeit und Ort der Schreibenden bzw. Lesenden in den Mittelpunkt gerückt werden und den Spruch damit aktualisieren. Dies erlaubt auch einen Einblick in die Lebensrealitäten der Entstehungszeit der Varianten: Verschiedene landwirtschaftliche Geräte lassen auf unterschiedliche Vorlieben, Verbreitungen und Verfügbarkeiten derselben schließen; unterschiedliches Vokabular zeigt die Verbreitung des Spruchs in verschiedenen Sprachräumen auf, z. B. swinstert (Basel, Universitätsbibliothek F VII 12, fol. 169v) anstelle von schweinczagell (Wien, Österreichische Nationalbibliothek Cod. 5184, fol. 60v); ein Missverstehen von Begriffen kann zu kreativen, neuen Interpretationen führen, die ältere Varianten, die eventuell nicht mehr zeitgemäß sind und/oder nicht gut verstanden werden können, verdrängen und den Spruch damit wieder besser lesbar machen: z. B. wider d (München, Universitätsbibliothek 4 Cod. Ms. 649, fol. 108v) zu widder (München, Bayrische Staatsbibliothek Clm 24539, fol. 89v) oder eben der Wurstbügel zur Wurst.
3. Vom Ring zur Unterhose
Dass die Null mit einem Ring verglichen wird, ist definitiv nichts Neues. Wir finden neben der cifra/Ziffer
Das fingerlin, also der Fingerring, ist einfach ein spezifischer Ring, dessen Erwähnung gerade bei dem bekannten und stabil überlieferten Incipit des Spruches nicht weit hergeholt ist: Dies führt dann auch zu kuriosen Formulierungen wie fingerleyn cum finger, wenn z. B. in der Gothaer Handschrift Chart B 455 die Zehn als erste zweistellige Zahl im Stellenwertsystem erklärt wird. Der bruch ring ist eine etwas ungewöhnlichere Variante eines Ringes, die vor allem im Kontext dieses Merkspruches einige Fragen aufwirft. Recherchiert man das Wort bruoch im Lexer, findet man die Übersetzung hose um hüfte u. oberschenkel. Auch im Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Benecke, Müller und Zarncke findet man den entsprechenden Eintrag und die Übersetzungen „Hüftbedeckung” oder „Beinkleid”. Die gängigen Wörterbücher lassen also an eine ganz normale Hose denken; auch in den Primärtexten, in denen eine bruoch vorkommt, wird dieser Begriff in der Regel mit “Hose” übersetzt. Kulturhistorisch ist die bruoch allerdings nicht nur als klassische Hose, sondern auch als das Untergewand zu verstehen, eine Lesart, auf die die neuesten Wörterbücher bzw. die Überarbeitungen derjenigen bereits eingehen, die allerdings lange Zeit v.a. in der Editionsphilologie ignoriert wurde und aus moderner Perspektive zu einer Verengung des Begriffes geführt hat.
Der mittelhochdeutsche Begriff bruoch, als Femininum ‚Bruch‘ mit langem Vokal in Abgrenzung zum ‚Bruch‘, geht sprachhistorisch wohl auf den lateinischen Begriff brâca/bracca zurück, der auf die Beinbekleidung der Germanen anspielt. Die Bracca wurde bei den Germanen als grobe, weite und lange Wollhose getragen und war die einzige Beinbekleidung, so wie das im gesamten Mittelalter hindurch auch bei den Bauern bzw. bei körperlich anstrengender Tätigkeit noch üblich gewesen ist, da derartige Hosen wohl bequem und praktisch für die Arbeit waren. Außerhalb des bäuerlichen Milieus veränderte sich jedoch ab dem 12. Jahrhundert die Art und Weise, wie und wie viele Hosen getragen wurden. Die Bruoch wurde im Laufe der Zeit immer kürzer, oberhalb wurden Beinlinge getragen. Diese Strümpfen ähnelnden Hosenbeine mussten an der Unterhose an einem so genannten Bruochgürtel befestigt werden, an dem Männer auch Schlüssel, Geldbeutel und andere wichtige Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs anbringen konnten. Dieser Bruochgürtel dürfte bei den gröberen Wollhosen zunächst kein Gürtel im heutigen Sinn gewesen sein. Vielmehr wurde der Stoff des obersten Teils der Hose umgekrempelt, eingestrickt und mit einem Band zusammengeschnürt. Die sich verändernde Mode des 14. und 15. Jahrhunderts brachte engere Beinlinge mit sich und erforderte eine Verkleinerung der Bruoch, die mit einem schmalen Band am Körper befestigt wurde.
Schließlich wird die Beinmode so eng, dass die Unterhose eine sehr ‚moderne‘ Form annehmen muss, um unter die Beinlinge zu passen (siehe z. B. die mit (c) betitelte Unterhose in Abbildung 6). Eine zweite Variante ähnelte modernen Badehosen oder Shorts – und das ist der Unterhosentyp, der im Zusammenhang mit dem Vnum dat vinger-Spruch und dem Bruochring von Interesse ist. Die Verkleinerung der Bruoch hat dazu geführt, dass ein breiter Bruochgürtel nicht mehr praktisch war. Daher entwickelte sich eine Variante von Bruoch, bei der ein sehr schmales Band, mit dem die Unterhose am Körper gehalten wurde, in einen Einzug vernäht war. Jenes wurde auf der Vorderseite der Unterhose durch zwei kleine Löcher, die in etwa 10 Zentimeter voneinander entfernt waren, gefädelt und konnte so zusammengebunden werden. Im Prinzip funktionieren moderne Jogginghosen noch immer nach dem gleichen Prinzip; die Ähnlichkeit lässt sich anhand Abbildung 8 erkennen: Hier ist eine Bruoch aus einer in der Steiermark angefertigten Kreuzigungsszene des späten 14. Jahrhunderts abgebildet, die in der Alten Galerie in Graz
aufbewahrt wird. Die kleinen Löcher an der Hosenvorderseite waren jene Bruochringe, die wir auch in unserem Merkspruch finden können und die in keinem bekannten Lexikon als stehender Begriff verzeichnet sind.Dass schon früh Unterhosen getragen wurden, ist aus kulturhistorischer Perspektive alles andere als eine Überraschung. Unterhosen wurden nicht nur getragen, um die Kleidung vor dem Schmutz des Körpers, sondern auch, um den Körper vor den rauen Stoffen der Kleidung zu schützen. Die Bruoch war daher neben dem Unterhemd für Männer bereits früh ein essentielles Kleidungsstück
Was bleibt, ist die Frage, warum im Vnum dat vinger-Spruch dieser Bruochring überhaupt erwähnt wird, warum der Ring oder der Fingerring in 4 Fällen unserer bis dato bekannten Gesamtüberlieferung mit dieser eher eigenartigen Variante eines Ringes ersetzt wird. Zunächst kann auch hier die bereits oben erwähnte inhaltliche Flexibilität des Spruches ins Feld geführt werden, wenn es um den Variantenreichtum bei den zu beobachtenden Vergleichsgrößen geht. Mit welchem Ring oder ringartigem Gegenstand die Null verglichen wird, ist letztlich für den Wiedererkennungswert und das Funktionieren des Merkspruches völlig egal. Diese inhaltliche Offenheit bei stabiler Struktur führt dazu, dass Begriffe gewählt werden können, die bei den Rezipient*innen zu unterschiedlichen Reaktionen führen. Vom Ring zum Bruochring zu wechseln, bringt ein humoristisches oder vielleicht sogar unanständiges Element mit sich, das eine wichtige Funktion in einem derartigen Spruch erfüllt, die direkt mit der Geschichte der Gedächtniskunst in Verbindung steht: An Außergewöhnliches, Besonderes, Humorvolles oder auch Schreckliches erinnern wir uns leichter.
Was uns hier auch erneut begegnet, ist der Befund, dass der Bruchring selbst, also ein sehr konkretes, spezifisches Ding, das Teil eines im Hoch- und Spätmittelalter allgegenwärtigen Gebrauchsgegenstandes war, in dieser Form in keinem für die germanistische Mediävistik relevanten Nachschlagewerk zu finden ist, weder in Wörterbüchern noch in Lexika. In der Literatur wird eine Bruoch nur in ganz bestimmten Situationen erwähnt und erfüllt dort auch immer einen spezifischen Zweck: Es wird auf Armut verwiesen oder die sexuelle Freizügigkeit bzw. die Begierde des Trägers werden in den Mittelpunkt gestellt. Auch kann Derbes und Zotiges über die Erwähnung einer Bruoch verhandelt sowie die Rolle eines Mannes als Herr und Machthaber in Frage gestellt werden. Die Bruoch selber erfüllt als Gegenstand aus dem Bereich des Privaten – spezifischer noch: aus dem Bereich des männlich konnotierten Privaten – also immer eine Funktion in den literarischen Texten, in denen sie auftaucht; sie wird als Motiv eingesetzt und ist damit mehr als nur ein alltäglicher Gegenstand. Was Literatur allerdings nicht tun muss, ist darüber hinausgehend zu beschreiben, wie genau die Bruoch aussieht, welche alltägliche Funktion sie erfüllt, wie häufig sie von wem getragen wird und wie sie sich im Laufe der Zeit verändert. Derartige Dinge interessieren erzählende oder didaktische Literatur oder die Lyrik meist nicht, da sie in diesem Kontext wohl keine oder kaum Relevanz haben. Hier kann allerdings Gebrauchsliteratur Auskunft geben und die Lücken, die in literarischen Texten aufgemacht werden, füllen bzw. Dinge ans Tageslicht bringen, von denen wir sonst nicht wissen konnten, dass sie uns interessieren würden. Ich möchte noch einmal umformulieren: Unser bisheriges disziplinäres Interesse an den kunstvoll gemachten, erzählenden, gelehrten und/oder gebundenen Texten führt zu blinden Flecken in der Wahrnehmung der mittelalterlichen Produktion deutschsprachiger Schriftlichkeit, da nicht alle Quellen als gleichwertig relevant gesehen werden. Das mag für viele Fragestellungen durchaus richtig und notwendig sein, doch gerade, wenn wir uns mit der Entstehung und Entwicklung von (Fach-)Sprachen beschäftigen, können hier Fehlschlüsse bzw. lediglich Teilbefunde generiert werden. Eine Sprache und deren Entwicklung kann erst dann rekonstruiert werden, wenn wir uns auch auf Textzeugen einlassen, die nicht unmittelbar unser philologisches Interesse erwecken, da sie inhaltlich von dem differieren, was wir traditionell als Disziplin bis dato als Untersuchungsgegenstand zulassen.
Als Problem sind hier eben auch unsere gängigen Nachschlagewerke zu nennen, die sich mit der Entwicklung der deutschen Sprache beschäftigen, und sich zu einem überwiegenden Teil aus literarischen bzw. den als ‚kanonisch‘ bekannten Quellen speisen. Gebrauchs- und Alltagsgegenstände finden wir allerdings meist nicht in der erzählenden Literatur, sondern in den noch immer von der germanistischen Forschung eher vernachlässigten, ‚langweiligen‘ Fach- und Gebrauchstexten. Das mathematische Schrifttum ist fast gar nicht untersucht; die damit in Zusammenhang stehende Entwicklung der deutschen mathematischen Fachsprache ist ein Forschungsdesiderat, das von Alfred Schirmer und Barbara Schmidt-Thieme schon vor längerer Zeit erkannt, aber nur spärlich aufgegriffen wurde. Dass gerade ein so kurzer Merkspruch wie Vnum dat vinger diese Frage wieder nachhaltig ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Lesenden rückt, ist erstaunlich und zeigt auf, dass gerade für die Untersuchung historischer Wortschätze und deren Entwicklung auch die Gebrauchstexte und die damit in Verbindung stehenden Alltagsgegenstände sowie deren Handhabe nicht fehlen dürfen.
4. Benennen und Erinnern
Am Ende bleiben mit Blick auf diesen kuriosen kurzen Spruch wenige konkrete Antworten, einige Hypothesen, aber vor allem viele offene Fragen, von denen ich hier einige noch aufgreifen möchte. Zunächst: Was genau will dieser Spruch? Wer soll adressiert werden und warum setzt man bei dieser potenziellen Leser*innenschaft auf Zweisprachigkeit?
Auf den ersten Blick kann die Funktion des Spruches leicht identifiziert werden: Er soll die Formen der indisch-arabischen Ziffern über Vergleichsgrößen aus dem Alltag ins Gedächtnis rufen und dabei helfen, sich diese neuen Zahlzeichen in ihrer Andersartigkeit in Abgrenzung zu den römischen Zahlzeichen zu merken. Die Bekanntheit des Spruches lässt sich nicht anzweifeln, wenn noch im Jahre 1524 Adam Ries in seiner handgeschriebenen Coß auf diese Verse verweist. Wir können daher mit großer Sicherheit einen Überlieferungszeitraum von mindestens 125–150 Jahren im gesamten deutschen Sprachraum vermuten. Dies hilft eventuell dabei, die Varianz der verwendeten Vergleichsgrößen zu erklären: Alltagsgegenstände oder auch die Formen der Zahlzeichen unterliegen regionalen, zeitlichen und sprachlichen Veränderungen, die über ein verändertes Begriffsinventar abgebildet werden können. Was jedoch Fragen aufwirft, ist, dass im Rahmen der Überlieferung zwar oft die Zahlen selbst auf Latein oder auch auf Deutsch ausgeschrieben zu finden sind, es aber dennoch viele Fälle gibt, in denen innerhalb des Textes die Zahl, die in weiterer Folge mit einem ihr ähnlichem Ding verglichen wird, bereits in indisch-arabischen Zahlzeichen angeschrieben ist. Wenn die indisch-arabischen Zahlzeichen bereits ganz selbstverständlich in ihrem intendierten Zweck verwendet werden, noch bevor die Vergleichsgrößen eingeführt werden, die eigentlich dabei helfen sollen, diese neuen, fremden Zahlzeichen in den Griff zu kriegen, wird der Spruch selbst ad absurdum geführt. Hinzu kommt, dass auch die Bilingualität des Spruchs ein wenig stutzig macht: Die auf Deutsch aufgeführten Vergleichsgrößen, die allesamt aus einem alltäglichen, agrarischen Bereich stammen, lassen auf den ersten Blick auf ein Zielpublikum schließen, das eher an der deutschen Sprache orientiert war und womöglich aus einem weniger akademischen Milieu stammte. Das kann jedoch nicht ganz richtig sein, da eine basale Kenntnis des Lateinischen für das Leseverständnis des Spruches Voraussetzung sowie der Merkspruch selbst fast immer in einem lateinischen Textumfeld zu finden ist.
Kurzum: Die These, dass der Spruch ausschließlich dafür da war, die Formen der neuen, indisch-arabischen Zahlzeichen zu memorieren, entspricht nicht der ganzen Wahrheit. Vielmehr muss die Frage gestellt werden, ob nicht noch ein weiterer Verwendungszweck identifiziert werden kann. Die Art, wie der Spruch aufgebaut ist, lässt die These zu, dass die auf Deutsch eingeführten Vergleichsgrößen nicht nur die Formen der indisch-arabischen Zahlzeichen in Erinnerung rufen, sondern vielmehr als ganz konkrete Bezeichnungen jener fungieren. Ganz am Ende des Spruches, wenn mit Hilfe der einstelligen Ziffern die Zehn erklärt wird, geschieht dies nicht über die Nennung der bekannten Namen für die Zahlen, sondern über die soeben eingeführten Begriffe: vinger cum pruochrinckgel decem significabit, heißt es z. B. in einer Salzburger Handschrift aus der Bibliothek St. Peter (Ms. B IX 14, fol. 71v bzw. 90v). Also nicht die Eins und die Null bedeuten die Zehn, sondern der Finger und der Bruochring sind die Bestandteile dieser zweistelligen Zahl. Die Begriffe Null und Eins kommen nicht vor. Wenn hier tatsächlich die Bezeichnungen für die indisch-arabischen Zahlen vorgestellt werden, muss man jedoch fragen, warum kein einziger dieser Namen die Zeit überdauert hat. Das liegt wohl daran, dass nicht die Zahlen selbst neu benannt werden, sondern das Zahlzeichen in seinem Verwendungskontext. Es wird daher nicht der Begriff ‚Eins‘ durch ‚Finger‘ ersetzt, sondern vielmehr wird deutlich gemacht, welches Zahlzeichen (ein römisches oder ein indisch-arabisches) eingesetzt wird. Ein Vergleich mit den römischen Zeichen für die Zahlen kann hier weiter Klärung schaffen: Hier werden Buchstaben für die Kennzeichnung von Zahlen verwendet (i für die Eins, v für die Fünf, x für die Zehn etc.), die jedoch bereits eine Bedeutung tragen, die nichts mit ihrer Funktion als Zahlzeichen zu tun haben. Durch deren parallele Verwendung als Zahlzeichen wird eine Polysemie geschaffen, deren Bedeutung je nach Kontext evaluiert werden muss, um zwischen Buchstabe und Zahlzeichen zu unterscheiden. Wenn nun die indisch-arabischen Zahlzeichen in dieses System mit aufgenommen werden, ändert sich nichts an den Namen, die wir für die einzelnen Zahlen haben: Die Numeratio, also die historische Grundrechnungsart des Aufzählens, bleibt gleich, und beginnend bei der Eins wird Schritt für Schritt im bekannten System nach oben gezählt. Aufgrund unserer Physiologie bzw. unserer zehn Finger ist das dekadische System dem Zählen inhärent, doch in der Verschriftlichung ist dieser Schwerpunkt auf der Dekade neu. Die Einführung des Stellenwertsystems vereinfacht nicht das (Auf-)Zählen, sondern das Anschreiben der Zahlen und deren (schriftliche) Manipulation über die Verwendung der neuen Zahlzeichen, was zur Etablierung einer völlig neuen Kulturtechnik führt: dem Rechnen mit Stift und Zettel. Und genau hier setzt der Merkspruch an: Nicht die Zahlen werden neu benannt, sondern die neuen Zahlzeichen erhalten über Begriffe, die über Ähnlichkeiten zu bekannten Gegenständen eruiert werden, ihre eigenen Namen. Erst das lässt eine saubere Abgrenzung zum römischen Zeichensystem und damit auch zum lateinisch dominierten Diskurs zu. Wie z. B. eine verschriftlichte Zwölf aussieht, ist aus heutiger Perspektive völlig klar: Wir stellen uns automatisch eine indisch-arabische Eins und eine indisch-arabische Zwei in Kombination vor. Im 15. und 16. Jahrhundert dürfte das aber noch nicht selbstverständlich gewesen sein, was sich deutlich daran zeigt, dass in sehr vielen Fällen innerhalb einer Handschrift beide Zeichensysteme parallel verwendet wurden. Eine Zwölf kann daher mit einem finger und einer chruckchel angeschrieben sein oder aus einem x und zwei i bestehen.
Diese These lässt sich über eine Quelle unseres Vnum dat vinger-Corpus bestätigen: Es handelt sich dabei um das kleine Weimarer Büchlein mit der Signatur O 110e aus dem Jahr 1486. Das Büchlein überliefert drei Texte, die sich alle mit der Species der Numeratio beschäftigen und mit nomina cyfraz versus super cyfraz und incipit numerus cyfras betitelt sind. Das wirklich Interessante an allen drei Überschriften ist die Verwendung des lateinischen Wortes cyfra: Im Weimarer Büchlein ist die cyfra bereits mehr als nur die Null und meint bereits jene Zahlzeichen, mit denen die indisch-arabischen Zahlen angeschrieben werden. Auf der ersten Seite des kleinen Büchleins zur Numeratio heißt es: De cyfren sint nene bocstaue men en ie welik cyfre heft sinen / eghenen namen vnd heten aldus. Alse hirna schreuen steet. Die cyfren werden als Buchstaben bezeichnet, die alle ihren eigenen, deutschen Namen bekommen – und dabei handelt es sich um jene Bezeichnungen, die wir bereits vom Vnum dat vinger-Spruch kennen.
Ich möchte diese ersten Zeilen hier wiedergeben:
1 Dit het vingher vnd bedutet en
2 Dit het trappe vnd is .ii.
3 Dit het swin stert vnd is iii
4 Dit het braden worst. vnd ist iiii
5 Dit het krucstaf. vnd is .v.
An dieser Liste lässt sich erkennen, dass tatsächlich alle indisch-arabischen Zahlzeichen wie Buchstaben, also als neues Zeicheninventar eingeführt werden; ihr römisches Äquivalent bzw. die Eins als ausgeschriebene Zahl wird ebenso angeführt. Diese Beobachtung und das oben Angeführte lassen den Schluss zu, dass der Spruch Vnum dat vinger eine Doppelfunktion erfüllt: Einerseits ist er dazu da, die indisch-arabischen Zahlzeichen einzuführen, verständlich zu machen und zu festigen, andererseits werden jene in ihrer Andersartigkeit mit Begriffen versehen, die es möglich machen, sie von den bis dato ubiquitär verwendeten Zahlzeichen (den römischen Buchstaben) eindeutig zu differenzieren.
Dies gibt auch eine Antwort auf die Frage, warum dieser eigenartige Spruch so populär bzw. über einen Zeitraum von 150 Jahren so weit verbreitet war, aber bis heute quasi keine Spuren hinterließ. Es hängt damit zusammen, wie wir uns Dinge eigentlich merken und welche Methoden in einer vormodernen Gesellschaft angewendet wurden, um das Gedächtnis zu unterstützen. Mary Carruthers und Frances Yates haben sich mit der antiken bzw. der vormodernen Ars Memoria beschäftigt und kommen beide zu dem Schluss, dass das Erinnern dann am besten funktioniert, wenn Emotionen getriggert werden. Welche Emotionen das sind, ist dabei recht gleichgültig: Abstoßendes, Absurdes, Gewalttätiges, Schönes, Trauriges – all das fördert die Erinnerung, da wir emotional reagieren und somit einen Ankerpunkt in unser Gedächtnis setzen. Noch besser funktioniert das nach Carruthers, indem wir mehrere unterschiedliche Emotionen in ein solches Gedächtnisbild einbauen und möglichst übertriebene Szenen kreieren, um das Erinnern zu fördern. Auch ein ordnendes Element kann das Gedächtnis anregen, wenn z. B. an den bekannten Buchstaben des Alphabets, an Notensysteme aus der Musik oder an eine Zahlenreihe zu erinnernde Topoi angehängt werden. Der Vnum dat vinger-Spruch vereint diese beiden Memorialtechniken: die überspitzte Bildsprache, die emotionale Reaktionen hervorrufen möchte, sowie die Reihung der Bilder anhand der Kunst der Numeratio. Die Methode des Zählens von Eins bis Zehn und die damit verbundene Verknüpfung anderer Bilder liegt natürlich auch an der Natur des Spruches; nichtsdestotrotz ist das Aufzählen von Dingen, das Anordnen von Memorialörtern durch Zuhilfenahme bekannter Reihungsmuster ein altbewährter Trick, sich verlässlich an etwas zu erinnern.
In unserem Merkspruch fallen diese beiden Techniken ineinander. Durch Zuhilfenahme einer altbekannten Reihung werden verschiedene Gefühle über die vermittelten Bilder evoziert, die u. a. aus dem Bereich des Kriegerischen (kule – Keule oder kolben – Kolben, Zahl 9), des Humorvollen (braden worst – Bratwurst, Zahl 4; oder schwinzagel – Schweineschwanz, Zahl 3) oder des Sexualisierten (bruochring – Männerunterhosenöse, Zahl 0) kommen. Doch der Schwerpunkt des gesamten Spruches liegt definitiv auf dem Humorvollen, da viele der verwendeten Vergleichsgrößen gerade in Kombination miteinander ein zwar schräges, aber doch auch stimmiges Bild erzeugen, das die Lesenden schmunzeln lässt. Kurzum: Das Erinnern funktioniert hier hauptsächlich über das Aufrufen komischer Bilder, die sich genau deswegen gut einprägen lassen. Dass eine gewisse humorvolle Leichtigkeit das Lernen fördert, ist nicht erst seit dem Mittelalter bekannt. Die Unterhaltungsmathematik ist nach David Singmaster „as old as mathematics itself” und kann bereits im alten Ägypten und im Babylonischen Reich nachgewiesen werden. Der Anspruch, mathematisches Wissen möglichst ansprechend und einfach zugänglich zu vermitteln, führt zu einer auch heute noch uneingeschränkten Popularität von Rätseln, (mechanischen und geometrisch orientierten) Puzzles und humorvollen Aufgaben, die weit weg von der akademischen, ‚gelehrten‘ Mathematik angesiedelt sind, aber nichtsdestotrotz mathematische Grundlagen und mathematisches Geschick vermitteln. Das gilt auch für die Zeit des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit; Beispieltypen wie die Zechrechnung, in der eine Wirtshausrechnung nach stereotypischem Konsumverhalten zwischen Männern, Frauen, Gesellen und Jungfrauen aufgeteilt wird, geben darüber hinreichend Aufschluss. Humoristische Inhalte funktionieren im didaktischen Kontext als Gedächtnisstütze wunderbar – das gilt auch für den Wurstbogen oder die Unterhose.
Noch 1524 greift Adam Ries den Vnum dat vinger-Spruch auf und bezeichnet die Begriffe, die hier für die indisch-arabischen Zahlen geprägt werden, in seiner handgeschriebenen Coß explizit als possige, was wir in Anlehnung an die Begriffe possig oder bossig als drollig, belustigend oder sogar närrisch verstehen können. Auch ihm ist das humoristische Element des Spruches vertraut, er verwendet das Wort possige hier allerdings sogar schon fast abwertend, indem er sich über die Tatsache lustig macht, dass man diese eigenartigen Namen für die indisch-arabischen Zahlzeichen nicht brauche, da sich wohl jeder diese zehn Zeichen auch ohne eigenen Begriff merken könne. Es besteht wohl keine Notwendigkeit mehr für diesen Spruch, weder als Memorialstütze noch für die Etablierung eigener, neuer Begriffe. Es dürfte sich im volkssprachigen Kontext ein Bruch im Umgang mit den indisch-arabischen Zahlzeichen vollzogen haben, der die römischen Zahlzeichen als Schreibvariante für das Festhalten von Zahlen nachhaltig verdrängt. Die indisch-arabischen Zahlzeichen sind damit nicht mehr eigene Buchstaben, sondern werden zu den gängigen Zahlzeichen, die wir auch heute noch verwenden. Die kreativen Bezeichnungen, die eine klare Abgrenzung zu den römischen Ziffern möglich machen, sind nicht mehr nötig; der Spruch verschwindet mit Adam Ries’ Coß auch aus dem mathematikdidaktischen Fokus.
Die lang anhaltende Bekanntheit unseres Spruches, die über mindestens 150 Jahre hinweg zu beobachten ist, führte auch zur Verwendung desselben in anderen Kontexten, die zwar noch immer im Bereich der Memorialkunst angesiedelt sind, jedoch nichts mehr mit dem Memorieren der indisch-arabischen Zahlzeichen oder deren Bezeichnungen zu tun hat. Vielmehr wird der Spruch selbst als Vehikel für das Erinnern an sich eingesetzt: Im Münchner Codex 24539 ist der Traktat De memoria artificiali secundum Parisienses überliefert, in dem die Gedächtnisörter eingeführt werden und in dem erklärt wird, wie man sich geordnet an sehr viele Dinge erinnert. Der Traktat arbeitet klassisch mit architektonischen Topoi, in diesem Fall einem Haus, das sich in 40 Zimmer unterteilt, in denen dann wiederum verschiedene Örter sind, an denen zu erinnernde Gegenstände abgelegt werden. Dabei ist die Reihenfolge der Zimmer bzw. Örter von Bedeutung, damit nichts durcheinander geraten kann. Innerhalb eines Zimmers, das bereits in Örter unterteilt ist, kann nochmals eine Unterteilung stattfinden, die an einem Körper festgehalten wird: Ein Mensch muss gedanklich in dieses Zimmer gestellt werden, an seinem Körper oder an einzelnen Gliedern wiederum Dinge festgemacht werden, an die es sich zu erinnern gilt. Im Traktat heißt es an der Stelle: Item nota imago in proposito nichil aliud est quam quedam similitudo mente, per quam homo faciliter devenire potest ad noticiam rei actualis, cuius vult memorari. Nach dieser Erinnerung an die Vergleichbarkeit von Dingen über ihre äußere Ähnlichkeit und deren Nutzen als Erinnerungsstütze wird im Münchner Codex 24539 nun der Vnum dat vinger-Spruch exemplarisch eingesetzt, um diese Art des Erinnerns über Analogien zu unterstreichen. Hier dient der Spruch vordergründig nicht mehr dazu, die indisch-arabischen Zahlzeichen zu memorieren, sondern vielmehr gilt er als Beispiel für eine Kategorie von Memoria-Techniken. Die Funktion des Spruches ändert sich damit von einer einfachen Erinnerungshilfe für die Zahlformen, -zeichen und -namen zu einem Exempel für die Technik des Erinnerns selbst. Dies wird möglich, weil sich das Unbekannte innerhalb des Spruches im Laufe der Zeit verschiebt.