Ein Merkspruch und seine Überlieferung als Beispiel spätmittelalterlicher Wissenszirkulation

Abb. 2: Salzburg, St. Peter b III 32, Bl. 254v.

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Christina Jackel
Erstveröffentlichung: 08.2024
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Abstract

Vnum dat vinger. Duo chruckchel significabit, schweinczagel dat tria. Die Eins gibt der Finger, die Krücke wird die Zwei anzeigen. Der Schweineschwanz gibt die Drei. So beginnt ein spätmittelalterlicher lateinisch-deutscher Merkvers zur Erklärung der Gestalt der indisch-arabischen Zahlen. Jeder Zahl wird ein Objekt gegenübergestellt, in dessen äußerer Form sich das Zahlzeichen wiedererkennen lässt. Diese Objekte stammen fast alle aus wissenschaftsfernen Bereichen – der Landwirtschaft und dem Handwerk. Obwohl der Merkvers beinahe im gesamten deutschen Sprachgebiet auftaucht, ist die Wahl dieser Verweisgrößen relativ stabil, auch wenn sie regionalen Anpassungen unterliegen und in einigen Fällen missverstanden wurden. Insofern stellt sich die Frage nach der Materialität der Überlieferung, die im Fall der heute bekannten 25 Textzeugen heterogen ist: Der Spruch erscheint als Primär- oder Sekundäreintrag in meist mathematischen Handschriften, aber auch auf losen Merkzetteln, auf denen in diesem Beitrag besonderes Augenmerk liegt. Denn sie könnten den Schlüssel für die erfolgreiche Verbreitung des Spruches liefern. Als kleine, handliche Notizzettel kursieren sie unter jenen Gruppen, die die Arithmetik in einem volksprachlichen Kontext erlernen: unter Gelehrten und Händlern, die zum einen sehr mobile Bevölkerungsgruppen sind, zum anderen auch arithmetische Lehrbücher schreiben oder besitzen, in denen sie den Spruch schließlich festhalten.

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This work is supported by ERC grant ARITHMETIC 101039572.

Abstract (englisch)

Vnum dat vinger. Duo chruckchel significabit, schweinczagel dat tria. The finger gives the one, the crutch will show the two. The pig’s tail gives the three. Thus begins a late medieval Latin-German mnemonic verse explaining the shape of the Indo-Arabic numerals. Each numeral is matched with an object in whose shape the numeral can be recognised. Almost all of these objects come from non-scientific fields like agriculture and crafts. Although the mnemonic verse appears in almost the entire German-speaking area, the choice of these objects is relatively stable, even if they are subject to regional adaptations and have been misunderstood in some cases. This raises the question of the materiality of the tradition, which is heterogeneous in the case of the 25 textual witnesses known today: the saying appears as a primary or secondary entry in mostly mathematical manuscripts, but also on loose slips of paper, which are the focus of particular attention in this article. This is because they could provide the key to the successful dissemination of the mnenomic verse. As small handyslips of paper, they circulated among those groups who learned arithmetic in a vernacular context: among scholars and traders, who on the one hand were very mobile population groups, and on the other hand also wrote or owned arithmetic textbooks in which they eventually recorded the verse.

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

Die Eins sieht aus wie ein Finger, die Zwei wie eine Krücke, die Drei wie ein Schweineschwanz. So beginnt ein spätmittelalterlicher lateinisch-deutscher Merkvers zur Erklärung der Gestalt der indisch-arabischen Zahlen. Das Prinzip ist einfach: Jeder Zahl von Eins bis Neun, in vielen Handschriften auch der Null und der Zehn, wird ein Gegenstand oder ein Zeichen gegenübergestellt, dessen Form dem Zahlzeichen ähnelt. Das Ziel des Spruches ist es, sich das Aussehen jener ‚neuen‘ Zahlen einzuprägen, die im Spätmittelalter weite Verbreitung finden und vor allem auch sukzessive zum Rechnen verwendet werden. Doch ganz reibungslos funktioniert das wohl nicht, denn unter den 25 bisher bekannten Überlieferungen ist ein großer Teil auf die eine oder andere Art fehlerhaft.1 Oft fehlen Wörter, es wurde gestrichen, interlinear eingefügt oder ausgebessert und es gibt ganz offensichtlich Stellen, die nicht verstanden wurden. Doch wie kann das sein, bei einem einfachen Spruch, der nichts weiter tut, als die Form der einzelnen indisch-arabischen Zahlen mit Formen von Gegenständen oder anderen Zeichen zu vergleichen und von dem Adam Ries 1524 sogar behauptet, es sei unnötig, sich den Spruch zu merken (wohlgemerkt nicht ohne ihn zu zitieren), denn es wäre wohl niemand so arm an Verstand, dass er sich die beschriebenen zehn Zeichen nicht merken könne?2 Was im 16. Jahrhundert folglich bereits ins Allgemeinwissen übergegangen ist, muss im frühen 15. Jahrhundert und noch weit darüber hinaus gut erklärt werden. Gleichzeitig mit den volkssprachlichen Traktaten, welche die Species der Arithmetik beschreiben – von der Numeratio bis zum Bruchrechnen –, taucht der Vnvm dat vinger-Spruch in verschiedenen materiellen und inhaltlichen Kontexten auf. Er erscheint auf losen Merkzetteln ebenso wie als Primäreintrag in Sammelhandschriften, die sich in den meisten Fällen den Artes widmen, oder als Marginalie zu arithmetischen Texten, hier oft in Verbindung mit der Numeratio, der Kunst des Zählens. Diese erste Beobachtung zeigt bereits, dass die Verwendung des Spruchs nicht auf eine Zielgruppe zu beschränken ist – er ist in Schülerhandschriften genauso überliefert wie im wissenschaftlichen Kontext und entwickelt sich bis ins 16. Jahrhundert zu einem Teil des Standardrepertoires arithmetischer Lehr- und Lerntexte, an dem auch Adam Ries, trotz aller Geringschätzung, nicht vorbeikommt.
Ebenso heterogen und spannungsgeladen wie die Überlieferung stellt sich auch das Verhältnis zwischen dem wohl gelehrten oder in der Ausbildung befindlichen Publikum des Spruchs und den als Verweisgrößen für die Zahlzeichen verwendeten Begriffen dar, die zum Großteil aus der Landwirtschaft beziehungsweise dem handwerklichen Bereich stammen.3 Die Anzahl der bis heute bekannten Textzeugen ist bemerkenswert, vor allem, wenn in Betracht gezogen wird, dass vielerorts die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handschriften- und Fragmentenbestände noch nicht tiefenerschlossen sind und gerade Nachträge und Marginalien bei Beschreibungen nicht immer berücksichtigt wurden. Auch die weite Verbreitung im gesamten deutschen Sprachgebiet weist auf den Erfolg des Merkspruchs. Er scheint eine wichtige Rolle im Wissenstransfer rund um die Verbreitung der indisch-arabischen Zahlen gespielt zu haben. Dieser Beitrag möchte sich auf Spurensuche nach den Faktoren dieses Erfolgs begeben, indem die im Spruch verwendeten Begriffe und ihre Varianten, aber auch die Materialität der Überlieferung und die möglichen Rezipient*innen in den Blick genommen werden. Der Aufsatz von Michaela Wiesinger in dieser Publikation fokussiert anschließend auf einzelne Verweisgrößen im Detail und untersucht deren kultur- und sozialhistorische Dimensionen.4

2. Vnum dat vinger

Zunächst jedoch zum Merksatz selbst, der im Folgenden nach seinem Incipit als Vnum dat vinger-Spruch bezeichnet wird. Eine möglichst ‚gute‘, weil vollständige und ‚fehlerfreie‘ Variante findet sich in einer Salzburger Handschrift aus der Mitte des 15. Jahrhunderts:

Vnum dat finger. duo chruckchel significabit
Schweinczagel dat tria. würspögl dat tibi fierew
Cchrächsenstab dat fümfew. sed sechse dat tibi wide
Septem gesperre Sed keten signat tibi octo.
Nouem dat kolb. vinger cum pruochrinckgel decem significabit
Si czüngel uel vinger desit rinkel tibi nichil significabit.

Die Eins gibt der Finger, die Krücke wird dir die Zwei anzeigen.
Der Schweineschwanz gibt die Drei, der Wurstbügel gibt dir die Vier.
Der Kraxenstab gibt die Fünf, aber der Widder gibt dir die Sechs.
Die Sparren die Sieben, aber die Kette zeigt dir die Acht.
Der Kolben gibt die Neun. Der Finger und die Unterhosenöse werden die Zehn anzeigen.
Sollte das Zünglein nicht da sein, wird dir der Ring nichts anzeigen.

Der Vnum dat vinger-Spruch ist ein kurzer zweisprachiger Text, der einem meist lateinischen Zahlwort ein deutsches Verweiswort gegenüberstellt. Diese Verweiswörter sind bis auf eine Ausnahme Objekte und Körper(teile), aus organischen Materialien wie Fleisch (Finger, Schweineschwanz, Wurst, Widder), Horn (Storchenschnabel, Widderhörner), Holz (Krücke, Treppen, diverse Stäbe, Gebälk, Keule) sowie anorganischen wie Metall (Wurstbügel, Kette, Ring, Öse). Es sind Gegenstände des Alltags, vermutlich bestens bekannt, aber doch weit entfernt vom gelehrten Feld der Mathematik. Gerade das gewährleistet jedoch die Memorierbarkeit des Spruchs, wie Michaela Wiesinger im anschließenden Beitrag ausführt. Diese Gegenstände und Körperteile (denn auch beim Widder wird auf die Hörner angespielt) sollen in ihrer Gestalt indisch-arabischen Zahlenform ähneln. Die Begriffspaare sind dann durch die Verben dare und significare verknüpft: Der Gegenstand gibt oder bedeutet die Zahl. Der Körper in der Rolle des Gebenden/Anzeigenden verweist aktiv auf ein Abstraktum. Das Zielpublikum des Merksatzes wird direkt angesprochen: tibi significabit oder dabit – dir, Leser*in oder Hörer*in, wird hier etwas beigebracht. In seiner Struktur bleibt der Spruch relativ stabil. Er beginnt verlässlich mit dem Incipit Vnum dat vinger, und verbindet dann Zahl für Zahl jeweils ein Zeichen mit einer Verweisgröße. Im Detail gibt es jedoch Unterschiede. So sind die Zahlen manchmal auf Latein, manchmal auf Deutsch (im obengenannten Beispiel aus Salzburg etwa fierew, fümfew und sechse) benannt, die Null und die Zehn werden nicht immer mit aufgenommen, hin und wieder werden die Zahlen nicht (nur) ausgeschrieben, sondern auch mit den entsprechenden indisch-arabischen Zahlen wiedergegeben.

3. Die Zahlen und ihre Verweisgrößen

Bisher sind 25 Überlieferungen des Vnum dat vinger-Spruches bekannt, die sich über einen Überlieferungszeitraum von mehr als hundert Jahren und räumlich über einen Großteil des deutschen Sprachgebiets verteilen.5 

Eine entsprechende Variationsbreite bietet somit auch das für die Verweiswörter verwendete Vokabular, wobei es sich bei manchen Zahlnennungen um dialektale Unterschiede handelt und bei manchen auch die genannten Objekte variieren.

Ort 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 10
Annaberg-B., M 001 finger brucke schweynzagel burstbogil stebichen vedir gesperre kethe schlepkeul ringel ringel cum finger
Basel/UB, F VIII 16 vinger kruck süwe schwancz wurst fül reffstab widere gesper kett kolb ringel ringel cum finger
Basel/UB, F VII 12 finger trappe swinstert braetwoerst crucke g perversa spaer ketten coelf rigel vingher cum rigel
Berlin/StaBi, Ms. Lat. Qu. 2 vinger cropil schvinczagel worstebogel redestab weyder d gesperre keden kule finger cum ringel
Dessau/SB, GB 866.8 Grad (Georg HS) finger kropel

sivins

zcagel

worst bogel reb stap weder dy gesperresz kete kule rinculum rinculum cum finger
Dresden/LB, C 80 finger brucke sweyntzayl burstbogil stebichen wedir gesperre kethe schlepkeul ringel
Erfurt/Wiss. AB, Ampl. Oct. 80 finger krucke süe zal wurstbogel reffstab weder d gesper keten kule bruch ring bruch ring cum czyngel
Gotha/FB, Chart B. 445 finger krugke swinzcagil worstbogil Reffstab widder d gespere kethen keule ringeleyn cum finger
Gotha/FB, Chart B. 445 finger kruck swinschal worst pugel reyffstabp widd d sispar/gespar ketten keulen fingerleyn cum finger
Graz/UB, Cod. Ms. 275 vinger kruchel sweinczagel würst fellig crestenstab wider d first ketten kolbel ringel ringel cum vinger
Kremsmünster/StiB, Fragm. VIII/o. S. Unum vinger krukchel schweinczagl wuerstl refstab wider d schlayffen kchetl kcholbo
Leipzig/UB, Ms. 1470 vinger kruckel sweinzcagl wurstpogl welnerstab wider sparren ketten keile ringl cum finger
Michelstadt/Ev. KB, D 692 finger kryckel [swin] zagel wurstbogl […]stab wider d gesper ketten kyle

bruch-

rinken

bruchrinken cum finger
München/StaBi, Clm 24539 finger sichel schwinzagel worstbogel reiffstab widder sparr kette kuele finger cum ringgel
München/UB, 4 Cod. Ms 649 finger storch schnabel schwin zagel wurstebigell lilgell stab wider d gesper ketten kul fingerlin fingerlin cum fingerlin
Salzburg/St. Peter, B IX 14 vingerli chruckel schweins czagel

wurst-

pogel

Salzburg/St. Peter, B IX 14 finger chruckchel schweinczagell würspögl cchrächsenstab wide gesperre keten kolb rinkl vinger (czüngel) cum pruochrinckgel
Salzburg/St. Peter, B III 32 vinger ckurckel scweinczagel bürspögel raststab wider de vierst cheten cholb rinckl rinckel cum czungel
Straßburg/BNU C 102 zungel kruck suswancz würst fül reffstab wider d gesperre kette kolb ringel ringel cum zingel
Heidelberg/UB, Vat. Pal. Lat 1452 finger staffel swein steck würst pagel crunrstab diuersum sparer ketten kölblein ringel finger ringel cum finger
Weimar/HAB, O 110e vingher trappe swin stert braden worst krucstaf kerdeg spare kede kule tunghelke vnd dat runde righelke
Weimar/HAB, O 110e vingher trappe swinstert braden worst krucstaf 6/G versum spare kede kule ringhelke ringhelke cum tunghelke
Wien/ÖNB, Cod. 5184 vinger ckrückell schweinczagell wuerspogell chrechsenstab wider d gespirre cketen cölbell vinger cum pruechrincken
Wolfenbüttel/HAB, Cod. Guelf 1189 Helmst. vinger treppe sustert worstebogel krucstaff spire wede ringelken ringelken cum vingerken
Wolfenbüttel/HAB, Cod. 16.1 Astronom. 4° finger treppe swinstert worsteboggel kruckstat d versum huspau keden kule ringel ringel cum finger

Tabelle 1: Verweiswörter

Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die Konstanten und Varianzen bei den einzelnen Zahlen gegeben werden.6 Weitgehend einheitlich sind die Entsprechungen für die Eins, Drei, Sieben, Acht und Neun. Die Eins ist bis auf eine Ausnahme immer der Finger, nur einmal wird der Begriff zungel eingesetzt. 7 Dieses Zünglein erscheint auch manchmal, wenn die Eins in Verbindung mit der Null zur Zehn wird, wie auch im oben wiedergegebenen Salzburger Beispiel (b IX 14), das für die Zehn sogar beide Varianten enthält.8 Die Drei ist in allen Texten entweder ein Schweine- oder ein Sauschwanz. Hier gibt es ausschließlich dialektale Unterschiede in den Schreibweisen.
Rund um das Riegelwerk eines Hauses drehen sich die Objekte, die für die Sieben angegeben werden. In mehr als der Hälfte der Textzeugen handelt es sich um das Gespärre, also ein Paar sich gegenüberliegender Dachsparren, was der Form einer spätmittelalterlichen indisch-arabischen Sieben sehr genau entspricht. Zwei Überlieferungen setzen als Verweiswort den ‚First‘ ein, der jedoch genau genommen nur die oberste Kante eines Giebels bezeichnet. Ebenso unpräzise scheint der achtmal, teilweise im Plural, manchmal aber auch eindeutig im Singular vorkommende ‚Sparren‘, also der einzelne Dachbalken. Noch weiter assoziativ entfernt ist das Verweiswort der Wolfenbütteler Handschrift 16.1 Astronom 4°. Dort steht huspau, das hier wohl im Sinne der structura des Hauses zu verstehen ist.9 Eine Ausnahme bestätigt auch diesmal die Regel: Auf dem Kremsmünsterer Fragment ist die Stelle zur Sieben fehlerhaft: Das Zahlwort septem fehlt, stattdessen steht nur Dat schlayffen und darüber ist die Zahl 7 geschrieben.

Schlayffen oder mhd. sleife oder sleipfe bezeichnet eine Art Schlitten zum Transportieren von Waren,10 wobei ein Gegenstand in der Form der Sieben, zumindest sofern man sie sich nicht gekippt vorstellt, zum Hinterherziehen denkbar ungeeignet scheint.
Für die Acht steht immer die Kette, nur in einer Wolfenbütteler Handschrift, Cod. Guelf. 1189 Helmst., wird der Begriff wede verwendet. Das mittelniederdeutsche Wörterbuch gibt für wede unter anderem die Bedeutungen ‚Strick‘, ‚Strang‘, ‚Gedrehtes‘ an,11  und zumindest Letzteres lässt eine Assoziation zur geschlungenen Form der Acht zu. Die Verbindung zur Form der Zahl ist in dieser Handschrift zusätzlich hergestellt, indem eine ‚8‘ über dem Verweiswort eingetragen wurde. Doch die Abweichung zu allen anderen Überlieferungszeugen kann auch ganz andere Gründe haben, denn der Spruch ist in der Wolfenbütteler Handschrift ausgesprochen fehlerhaft abgeschrieben worden; die Sechs und die Neun fehlen gänzlich:

Genau unterhalb der Fehlstelle für die Sechs, die in den meisten Überlieferungen als Widder bezeichnet wird, steht nun wede (Z. 4). Es ist also durchaus möglich, dass es sich um einen Abschreibfehler handelt – dass der/die Schreiber*in in der Zeile verrutscht ist oder bereits die Vorlage defekt war. Mittelniederdeutsch weder bedeutet Widder12 – das fehlende Schluss-r könnte auf eine vergessene Kürzung zurückzuführen sein – und das Verweiswort für die Sechs wäre zur Acht verrutscht. Wenn die Vorlage tatsächlich defekt war und eventuell nur einzelne Buchstaben noch zu entziffern waren, dann könnte die große lautliche Ähnlichkeit zwischen kede13 und wede den neuen Begriff an dieser Stelle erklären. Der oder die Schreiber*in hätte dann eigenständig ein passendes Vergleichsobjekt zum noch lesbaren Buchstabenbestand –ede gesucht und gefunden: den gedrehten Strang.
Die Neun wird durchgängig mit einer Keule verglichen. Dafür stehen die mhd. Wörter kiule in den Schreibweisen keule(e), kul(e), kyle, coelf, keile, beziehungsweise kolbe in den Schreibweisen kolb(el), cölbell, kcholbo, kölblein. Sowohl kiule als auch kolbe bezeichnen einen Knüppel mit dickem Ende und sind in der Erstbedeutung als Waffen belegt.14 Zwei Handschriften, der Autograf von Adam Ries in Annaberg-Buchholz sowie die Dresdener Handschrift C 80, die Ries wohl als Vorlage diente (s. u.), präzisieren die Art der Keule mittels des Kompositums slepkeul.15
Während sich die bisher besprochenen Verweisgrößen zu den einzelnen Zahlzeichen aus Schreib- oder dialektalen Varianten zusammensetzen oder sich zumindest aus einem zusammenhängenden Begriffsinventar bedienen, sind die Objekte, deren Formen mit der Zwei verglichen werden, ganz unterschiedlich. Genannt werden Krücke und kropil (Krüppel)16 – was ähnlich metonymisch auf die Krücke verweist wie der Hausbau auf das Gespärre –, weiters Brücke, Staffel (im Sinn von Stufe),17 Treppe, Sichel und einmal auch Storchenschnabel. Tatsächlich sind die Schreibweisen für die Zwei je nach Zeit und nach Region sehr unterschiedlich und die zitierten Verweisobjekte lassen sich darin allesamt erahnen:

Da Capelli in seiner Darstellung18 nicht vermerkt, in welchen Regionen die verschiedenen Formen verwendet wurden, ließe sich die Verwendung unterschiedlicher Verweisobjekte als Rückschluss für regionale Schreibkonventionen nur durch eine großangelegte Suche durch viele Handschriften unterschiedlicher Herkunft untermauern – definitiv ein Desiderat. Stichproben einzelner Codices aus dem niederdeutschen Raum aus dem 14. Jahrhundert ergaben, dass überall dort, wo keine römischen Zahlzeichen mehr verwendet wurden, die indisch-arabische Zwei relativ einheitlich ist und in ihrer Form bereits der heutigen Zwei ähnelt.
Dennoch scheint sich mit Blick auf die Verweisgrößen zur Zwei zumindest eine Texttradition herauszukristallisieren. Denn in allen Texten, in denen die Zwei eine Treppe ist, wird die Fünf als Krücke oder Krückstab bezeichnet (ein Bild, das sonst hauptsächlich für die Zwei verwendet wird); und diese insgesamt drei Texte stammen aus dem niederdeutschen Raum und aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass gerade die Zahlzeichen für die Zwei auf allen Textträgern, die den Vnvm dat vinger-Spruch überliefern, egal in welcher Zeit und an welchem Ort sie entstanden sind, sehr ähnlich aussehen. Das Angebot an Variationen, das Capelli bietet, und die vergleichsweise große Anzahl an Vergleichsobjekten in der Überlieferung bilden sich in den Handschriften nicht ab. Insofern entsteht hier ein Bruch. Der Spruch ruft Bilder auf, die mit der Schreibkonvention nicht (mehr) übereinstimmen, zumindest nicht mit jener, die wir heute noch anhand der schriftlichen Überlieferung nachvollziehen können. Der Spruch kursierte vermutlich schon im 14. Jahrhundert mündlich, zur Zeit der Abfassung unserer Textzeugen hatte sich bereits ein einheitlicheres Zeicheninventar fixiert.
Ähnlich wie bei der Sieben gibt es für die Fünf eine bestimmte Bandbreite an Vergleichsformen, doch sie haben alle eines gemeinsam: Es handelt sich um unterschiedliche Stäbe. Meistens sind es Stützen für Reffe oder Kraxen, beides Tragegestelle, wobei die Kraxe nur im Oberdeutschen gebräuchlich ist.19 Bei rast- und welnerstab (Pilgerstab)20 handelt es sich wohl um Wanderstäbe, die Bedeutungen von cunrstab und lilgellstab bleiben unklar. Bei den Bezeichnungen für die Fünf zeigt sich, dass das Vokabular, wenn es auch dieselben Dinge bezeichnet, regional angepasst wurde.
Einen Sonderfall stellt die Sechs dar. Einige Handschriften vergleichen die Zahl mit einem Widder oder metonymisch mit den Hörnern des Widders. Hier zum Beispiel der Münchener Codex Clm 24539. In Zeile 3 steht eindeutig: widder dat tibi sex.

Auf dem Kremsmünsterer Merkzettel (s. Abb. 3, Detail letze Zeile) sind über den Begriff sogar zwei Ziffern eingetragen: 66. Die Assoziation zu Widderhörnern gelingt leicht. Doch hinter dem Wort wider steht auf dem Kremsmünsterer Blatt noch ein einzelnes d und eine überschriebene 6 scheint durchgestrichen. Mit dieser Kombination – wider d und den zwei ‚Hörnern‘, von denen möglicherweise eines nachträglich wieder getilgt wurde, – kann dieser Textzeuge als Bindeglied zwischen den beiden unterschiedlichen Erklärungsmodellen, die für die Sechs angewendet werden, gelesen werden. In den meisten Sprüchen wird hier nämlich nicht auf etwas Physisches verwiesen, sondern die Sechs wird mittels eines anderen Zeichens erklärt. d versum oder wider d sex dat: Ein umgekehrtes d gibt die Sechs. Als Alternative wird auch g perversa oder kerde g genannt. Die Spiegelung kann also sowohl vertikal als auch horizontal erfolgen. Die Beschreibung der Sechs als verkehrtes d oder g setzt jedenfalls voraus, dass, wer auch immer mit diesem Spruch die Zahlen gelehrt bekommt, lesen können muss. Damit fällt die Beschreibung der Sechs aus dem Rahmen: Während die anderen Zahlen mit Begriffen aus dem ländlichen oder handwerklichen Bereich besetzt werden, kommt die Beschreibung der Sechs aus dem gelehrten Milieu. Man muss lesen und schreiben können, um diese Verweisgröße zu verstehen, was einmal mehr Fragen nach den Adressatinnen und Adressaten des Spruches aufwirft. Die häufige Überlieferung der Beschreibung ‚Widder‘ für Sechs, zeigt aber auch, dass dieser Begriff, wenn man den Spruch in seiner Gesamtheit und seiner Machart betrachtet, kohärenter ist, da hier wie auch bei den anderen Verweisgrößen mit einem Objekt operiert wird, das sich in seiner Form auf das indisch-arabische Zahlzeichen bezieht. Daher erscheint im Kontext des gesamten Spruches der ‚Widder‘ verständlicher gewesen zu sein als die Anweisung, ein d umzudrehen. Ob eine der beiden Erklärungen als Verschreibung von der jeweils anderen entstanden ist, lässt sich nicht mehr herausfinden. Logischer erscheint der Widder, deutlich häufiger überliefert sind die verkehrten Buchstaben. Doch gerade bei Letzteren zeigt sich auch, dass diese Verweisgröße Schwierigkeiten bereitet hat; hier treten Fehler und Unsicherheiten auf. Während Kremsmünster einfach alle Möglichkeiten anbietet, wurden in anderen Niederschriften Fehler gemacht, die darauf hindeuten, dass die Erklärung schlichtweg nicht verstanden wurde: weder dy in Dessau, diversum im Codex Vat. Pal. Lat 1452 oder auch 6 (oder Majuskel G) versum in Weimar.
Die Zusammenschau der verwendeten Verweisgrößen zeigt zweierlei: Obwohl den Zahlen durchaus verschiedene Begriffe zur Seite gestellt werden, ist die Auswahl nicht beliebig. Dort, wo es Unterschiede gibt, kommen die Vergleichsobjekte meist aus derselben Familie. Sie entstammen demselben Bildfeld, bezeichnen ähnliche Gegenstände und/oder haben dieselbe Materialität. Die große Ausnahme bildet, wie besprochen, die Zwei mit Brücke, Krücke, Staffel, Treppe, Sichel und Storchenschnabel. Es wird aber auch deutlich, dass dieser Merkvers trotz aller Unterschiede im Detail eine relativ stabile Verbreitung erfahren hat. Die Zeitspanne und die geografische Ausdehnung der Überlieferung verwundern angesichts seiner Kürze und seiner prekären Form der Niederschrift als Einschub, Marginalie oder auf einzelnen Zetteln. Doch genau darin könnte der Knackpunkt liegen, der Hinweise auf den Gebrauch und die Rezipient:innen des Spruchs gibt.

4. Zur Überlieferung von Merkversen

Textformate mit einem Bezug zur Mündlichkeit wie Reden, Predigten, Gesänge etc. sind uns heute nur erhalten, wenn sie schriftlich festgehalten wurden. Die Form, der Umfang und die Materialität der Trägermaterialien bestimmen, wie hoch die Überlieferungswahrscheinlichkeit ist.21 Längere Texte benötigen per se mehrere Blätter, Hefte oder gar Lagen, um aufgeschrieben zu werden. Diese inhärente Kodikalitiät führt dazu, dass sie weniger ‚übersehen‘ werden. Kurze Texte wie Sprüche hingegen sind zweifach anfällig, verloren zu gehen: Zunächst müssen sie überhaupt einmal schriftlich festgehalten werden und dann idealerweise in einem Codex, der von allen Überlieferungsformen auf Papier oder Pergament die höchste Wahrscheinlichkeit hat, aufbewahrt zu werden.22
Dennoch sind Merkverse über das gesamte Mittelalter hindurch breit überliefert, denn viele von ihnen sind in eine Textgattung eingegangen, die zu den am weitesten verbreiteten überhaupt zählen kann: den Glossaren und Vokabularien, die im Kontext der Schulbildung verwendet wurden. „Der Gebrauch von Versen in der Lexikographie steht in größerem Zusammenhang. Verse sind von Anfang an das selbstverständliche Medium des Lehrers wie des Schülers gewesen. Die Schullektüre wurde mit Texten bestritten, die literarischen Anspruch erhoben und in Versen abgefaßt waren.”23 Verse waren aufgrund ihrer hohen Memorierbarkeit durch die Metrik und den teilweise kuriosen Inhalt ein probates Mittel, sich Lernstoffe einzuprägen24 und wurden mündlich weitergegeben, auf Zetteln oder in Heften und Büchern notiert. Dabei wurden sie nicht immer von Lehrpersonen vorgegeben, auch Schüler*innen wurden dazu angehalten, selbst Merkverse zu produzieren.25
Der Vnvm dat vinger-Spruch, der in seiner an den Hexameter angelehnten Struktur gut in diese Gruppe der Schulmerkverse passen würde, fehlt allerdings in den großen Glossaren. Im Vocabularius Ex quo beispielsweise, von dem beinahe 300 Handschriften und mehr als 40 Druckauflagen aus dem 15. und beginnenden 16. Jh. erhalten sind,26 und der hunderte Merkverse enthält, stehen unter dem Lemma Numerus eyn czael mehrere Verse, darunter einer, der Vergil zugesprochen wird.27 Die Merkverse in den Vokabularien sind fast durchgehend lateinisch, jedoch wurde die Volkssprache dort ausgiebig zur Erschließung des lateinischen Wissens herangezogen. Sie war im lateinischen Umfeld besonders „memorierfähig und auch memorierwürdig“.28 Die gemischtsprachigen Merkverse, von denen es mit Sicherheit mehr gegeben hat, als uns heute erhalten sind, mussten sich neue Überlieferungsorte erschließen: Sie lagerten sich an feste Texteinheiten an oder verschmolzen sogar mit diesen.29

5. Die Textzeugen des Vnvm dat vinger-Spruchs

Die 25 Textzeugen des Vnvm dat vinger-Spruches lassen sich im Wesentlichen in vier Überlieferungsgruppen einteilen: Es sind entweder Primäreinträge innerhalb eines Fließtexts (1) – hier ist der Spruch quasi mit einem Text ‚verschmolzen‘–, oder abgesetzte, oft durch Rubrizierungen oder Unterstreichungen kenntlich gemachte eigenständige Verse, die ebenfalls primär, also gleichzeitig mit den umgebenden Texten eingetragen wurden (2). Die Sprüche lassen sich auch als Nachträge zu meist arithmetischen Texten finden, die an den Blatträndern oder auf leer gebliebenen Stellen oder Seiten anlagern (3). Als vierte Überlieferungsform kommen lose Zettel vor, die heute in mathematische Handschriften eingebunden sind oder, wie in Kremsmünster, als Papierstreifen in der Fragmentensammlung der Stiftsbibliothek liegen (4). Einen Sonderfall stellt eine Bearbeitung des Spruchs in der Weimarer Handschrift dar. Es ist ein kleines Büchlein (8,3 x 4,6 cm) aus dem Jahr 1486, das sich auf zehn Blättern ausschließlich der Numeratio widmet.

Ort Signatur Folio Datum Überlieferungsgruppe
Annaberg-Buchholz/Erzgebirgsmuseum M 001 S. 6 1524 1
München Staatsbibliothek Clm 24539 89v 1471–1473 1, im lateinischen Fließtext
Basel, Universitätsbibliothek F VIII 16 13r 1442 2
Basel, Universitätsbibliothek F VII 12 169v Mitte 15. Jh. 2
Dessau, Stadtbibliothek GB 866.8 Grad (Georg HS) 160r 2. H. 15. Jh. 2
Dresden, Landesbibliothek C 80 1r 1450 2
Vatikan/Heidelberg, Universitätsbibliothek Vat. Pal. Lat 1452 50r 15. Jh. 2
Gotha, Forschungsbibliothek Chart B. 445 128v 15. Jh.; 1439 (79r) 2, als Marginalie zum lateinischen Fließtext
Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek 16.1 Astronom 4° 44r 1486 2
München, Universitätsbibliothek 4 Cod. Ms 649 108v 15. Jh. 2
Graz, Universitätsbibliothek 275 11v 15. Jh. 2, auf eigener Seite
Leipzig, Universitätsbibliothek 1470 537r 1486-87 2, auf eigener Seite
Wolfenbüttel,  Herzog August Bibliothek Cod. Guelf. 1189 Helmst. 189v 1462 2, auf eigener Seite
Salzburg, Erzabtei St. Peter B IX 14 71v (90v) 1429–1444 2 (erste Zeile), dann 3
Salzburg, Erzabtei St. Peter B III 32 254v 1. H. 15. Jh. 3, quer eingetragen
Berlin, Staatsbibliothek Ms. Lat. Qu. 2 94v 14. Jh. 3, steht abgesetzt, nur dieser Text ist von dieser Hand geschrieben
Gotha, Forschungsbibliothek Chart B. 445 126v 15. Jh.; 1439 (79r) 3, in einem lateinischen Nachtrag auf eigener Seite
Wien, Österr. Nationalbibliothek 5184 60v 15.Jh., Ende 3, im Kontext mehrerer von unterschiedlichen Händen geschriebener Merkverse. Darunter ein weiterer dt. Spruch zu den Zehnerzahlen im Kontext der menschlichen Lebensalter.
Erfurt, Wiss. Allgemeinbibliothek Ampl. Oct. 80 zw. Bl. 4 und 5 um 1400 4, in den Codex eingebunden
Kremsmünster, Stiftsbibliothek Fragm. VIII/o. S. Unum 15. Jh. 4
Michelstadt, Evang. Kirchenbibliothek D 692 124a 1455–1469 4, in den Codex eingebunden
Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek O 110e 1v 15. Jh. 4, als Heftchen
Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek O 110e 2r-2v 15. Jh. 4, als Heftchen
Straßburg, Bibliotheque Nationale et Universitaire (verbrannt) C 102 134v 15. Jh. ?

Tabelle 2: Überblick über die Überlieferungssituation

Die Tabelle zeigt, dass der mit Abstand häufigste Überlieferungstyp die Gruppe 2 bildet, also Primäreinträge in Handschriften, in denen der Spruch als solcher gekennzeichnet ist. Er steht hier manchmal mit einer Überschrift oder einem Item eingeleitet, oft mit farbigen Unterstreichungen beispielsweise neben Tabellen oder Stellenwertpyramiden, so gut wie immer im Kontext von Texten und Diagrammen zur Numeratio. Hier wird er planvoll an der richtigen Stelle eingesetzt, mehrfach in Verbindung mit einer Erklärung des Dezimalsystems. Nachdem die Ziffern durch den Spruch gelehrt wurden, wird so gezeigt, was passiert, wenn man diese in Folge durch angehängte Nullen erweitert. Es fällt auf, dass der Spruch in drei Fällen, obwohl von der vorhergehenden Hand geschrieben, auf einer eigenen Seite platziert wurde. Hier könnte man die Vermutung anstellen, dass die Vorlage vielleicht ein Einzelblatt und somit ein Textträger der Gruppe 4 gewesen ist. In den Fließtext eingebaut wird er nur insgesamt zweimal: in München in einem Traktat zur Memorialkunst30 und in Annaberg-Buchholz, wie schon eingangs erwähnt, in Adam Ries’ autografer Coß, wo er nur noch als Reflex ehemaliger Beliebtheit erscheint.
Weniger planvoll, eher assoziativ wird der Spruch in fünf Handschriften nachgetragen. Auch hier gibt es einen Fall, die Gothaer Handschrift, wo der Spruch innerhalb eines kurzen lateinischen Textes wiederum zur Numeratio auftaucht und auch dieser Eintrag steht auf einer eigenen, ansonsten leeren Seite. Die anderen Nachträge gesellen sich zu verwandten Texten. Sie sind immer zeitnah zu diesen eingetragen worden und können leicht als Nutzerspuren interpretiert werden. Wo immer es um die Kunst des Zählens geht, scheint der Vnum dat vinger-Spruch nicht weit gewesen zu sein. Besonders gut sieht man das in der Salzburger Handschrift. Auf 71v trug die Haupthand nur die erste Zeile des Spruchs ein. Eine zweite Hand vervollständigte ihn später.

Zum Schluss soll noch ein genauerer Blick auf die letzte und vielleicht aussagekräftigste Gruppe geworfen werden: die Überlieferung auf Einzelblättern. Es sind nur drei Beispiele dieses Typs erhalten, der naturgemäß zu den anfälligsten für Verlust gehört. Nimmt man jene Niederschriften dazu, die innerhalb eines Codex auf einer eigenen Seite zu finden sind, erhöht sich die Anzahl gleich beträchtlich. Insgesamt deutet viel darauf hin, dass diese Art der Überlieferung maßgeblich zum Erfolg des Spruches beigetragen hat.
Gerade im Kontext der Schulbildung muss man davon ausgehen, dass Texte auf Wachstafeln und in weiterer Folge in Heftchen oder auf Einzelblättern notiert wurden;31 als Merkhilfe, zu Übungszwecken, zum Weitergeben. Dort beginnt die Überlieferung, deren Endpunkt wir heute sehen. Dort erfüllt der Spruch seine ureigenste Bestimmung – das Erlernen der indisch-arabischen Zahlen. In dieser Hinsicht ist auch die Fehlerhaftigkeit, welche die Gesamtüberlieferung heute zeigt, erklärbar. Notizen, die im Unterricht auf Zetteln gemacht werden, sind temporäre Textträger. Sie werden oft nicht in besonders sorgfältigen Schriften geschrieben, nicht korrigiert. Verständnisfehler können auftauchen, aus einem d versum kann leicht diversum werden, aus einem widder ein wider. Wird der Spruch mündlich gelehrt und memoriert, ist es nur verständlich, wenn regionale Anpassungen in den bezeichneten Gegenständen vorgenommen werden. Wenn die bairische kraxe nicht bekannt ist, wird das regional passende reff stattdessen eingesetzt. Dennoch bleibt der Spruch im Wesentlichen derselbe. Seine Verbreitung erfolgt nicht über die großen Werke der Schulliteratur oder die Bücher der Rechenmeister, in die er erst aus der Erinnerung ihrer Schreiber*innen übertragen wird, sondern durch deutlich mobilere Trägermedien. Die kleinen Merkzettel und Heftchen, die man in der Tasche mit sich herumtragen kann, sind die physischen Zeugnisse der in diesem Fall äußerst erfolgreichen Wissenszirkulation. Wenn man sich den Überlieferungskontext der Handschriften ansieht, in denen der Merkvers heute auftaucht, fällt auf, dass darunter hauptsächlich Bücher aus bürgerlichem Besitz sind. Sie gehörten Gelehrten und Händlern, allesamt mobile Gesellschaftsgruppen. Der Spruch ist, zumindest nach heutigem Wissenstand, in keiner Klosterhandschrift erhalten, doch außerhalb der Klosterschule scheinen ihn alle beim Erlernen der indisch-arabischen Zahlen mit auf den Weg bekommen zu haben. Später trugen sie ihn in ihre Codices ein, doch davor muss es unzählige der kleinen Blätter gegeben haben, die unter den Schüler*innen kursierten. Insofern erweist sich der kuriose kleine Spruch mit seiner disparaten Überlieferung als regelrechter Glücksfall. Er zeigt auf, mit welchen einfachen Mitteln sich ein neues und komplexes Wissen über ein ganzes Sprachgebiet verbreitet haben kann: Mit Schweineschwänzen, Bratwürsten und Unterhosen und einer Menge kleiner Zettel.

Fußnoten

  1. Mit ‚fehlerhaft‘ sind hier und im Folgenden Brüche in den Texten gemeint. Sie betreffen Lücken im Text, wenn also Wörter oder Satzteile ausgelassen wurden, offenbar nicht verstandene Textstellen, u. Ä. Darunter werden hingegen nicht die Varianten bei der Wahl der Begriffe, dialektale Unterschiede oder unterschiedliche Schreibweisen verstanden.
  2. Signatur: Annaberg-Buchholz/Erzgebirgsmuseum M 001, S. 6. Siehe dazu auch den Beitrag von Michaela Wiesinger.
  3. Vgl. hierzu den Beitrag von Michaela Wiesinger.
  4. Die Autorinnen arbeiten derzeit an einer ausführlichen Studie zum Vnvm dat vinger-Spruch, die in Buchform erscheinen wird. Die beiden hier veröffentlichten Beiträge verstehen sich als Diskussionsanstoß und wollen erste Überlegungen darlegen.
  5. Siehe auch Tabelle 2. Gezählt sind hierbei die einzelnen Niederschriften. In Gotha, Salzburg und Weimar liegen Handschriften, in die der Spruch zweimal eingetragen wurde, sie erscheinen somit zweimal in der Liste.
  6. Die Vier und die Null werden hier allerdings ausgespart, da sie ausführlich in Michaela Wiesingers Beitrag behandelt werden.
  7. Straßburg C 102.
  8. Weimar O 110e, Salzburg b IX 14, Salzburg b III 32, Erfurt Ampl. Oct. 80, Straßburg C 102. Vgl. auch den Beitrag von Michaela Wiesinger.
  9. Vgl. Grimm/Grimm 2023 (DWB), Art. Bau: 3) gebäude, aedificium, structura, die errichtung des hauses.
  10. Vgl. Grimm/Grimm 2023 (DWB), Art. schleife, f.: 5) schlittenartiges gestell, auf dem lasten fortgeschleppt werden, dann auch niedriger schlitten.
  11. Vgl. Köbler 2014, Art. wēde*: Rute, Gerte, Strick (M.), Strang; […] Gedrehtes.
  12. Vgl. Köbler 2014, Art. wēder*, weder, wedder, weer, mnd., M.: nhd. Widder, Schafbock, Hammel […].
  13. Vgl. Köbler 2014, Art. kēdene, kēde, kedde*, kēte, kētene, kēthene, mnd., F: Kette.
  14. Vgl. Lexer 2023, Art. kolbe swm.: kolbe, keule als waffe; DWB Art. Keule: f. 1) keule als waffe.
  15. Vgl. Benecke/Müller/Zarncke 2023 (BMZ), Art. slif stm.: 3. schwung, schlag? einen slif slahen.
  16. Vgl. Lexer 2023, Art. kropel stm. → krüpel.
  17. Vgl. Lexer 2023, Art. stapfel, staffel stswm. f.: Stufe.
  18. Cappelli (Hg.) 1928, S. 423.
  19. Vgl. Grimm/Grimm 2023 (DWB), Art. Krachse, krächse, kraxe, kräxe, u. a., f.: tragreff u. ä., ein merkwürdiges oberd. wort, schon mhd. östr. Chrechse.
  20. Vgl. Lexer 2023, Art. wallen swv: wallen, wandern, pilgern, wallfahrten.
  21. Vgl. Haye 2016, S. 240.
  22. Vgl. Haye 2016, S. 243.
  23. Klein 1989, S. 136.
  24. Siehe den Beitrag von Michaela Wiesinger.
  25. Vgl. Klein 1989, S. 136.
  26. Grubmüller kannte 1988 über 250 (vgl. Grubmüller/Schnell 1988, S. 4), der Handschriftencensus listet aktuell 292 Textzeugen (vgl. handschriftencensus.de (Zugriff am 12.12.2023).
  27. vnde Vergilius: Numeros menini, sed verba notare. Vgl. Grubmüller/Schnell 1989, S. 1765.
  28. Klein 1989, S. 152.
  29. Vgl. Klein 1989, S. 151, Anm. 55.
  30. Siehe den Beitrag von Michaela Wiesinger.
  31. Vgl. Bodemann/Kretzschmar 2000, S. 243–280; Haye 2016, S. 94.

Bibliografie

Bodemann, Ulrike/Kretzschmar, Beate: Textüberlieferung und Handschriftengebrauch in der mittelalterlichen Schule. In: Schulliteratur im späten Mittelalter, hg. von K. Grubmüller (Münstersche Mittelalter-Schriften 69). München 2000.
Wird erwähnt in Fußnote: [31]

Cappelli, Adriano (Hg.): Lexicon abbreviaturarum. Wörterbuch lateinischer und italienischer Abkürzungen, wie sie in Urkunden und Handschriften besonders des Mittelalters gebräuchlich sind, dargestellt in über 14000 Holzschnittzeichen (J. J. Webers illustrierte Handbücher). 2., verb. Aufl., Leipzig 1928, S. 423. http://services.ub.uni-koeln.de/cdm/ref/collection/mono20/id/8533 [Zugriff am 24.12.2023].
Wird erwähnt in Fußnote: [18]

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerterbuchnetz.de/DWB [Zugriff am 24.12.2023].
Wird erwähnt in Fußnote: [9] [10] [19]

Grubmüller, Klaus/Schnell, Bernhard (Hg.): ‚Vocabularius Ex quo‘. Überlieferungsgeschichtliche Ausgabe. Band I: Einleitung. Nachdruck der Ausgabe 1988. Berlin/Boston 2018. online.
Wird erwähnt in Fußnote: [26]

Grubmüller, Klaus/Schnell, Bernhard (Hg.): ‚Vocabularius Ex quo‘. Überlieferungsgeschichtliche Ausgabe. Bd. IV: Text L-P (Texte und Textgeschichte 25). Tübingen 1989. online.
Wird erwähnt in Fußnote: [27]

Haye, Thomas: Verlorenes Mittelalter. Ursachen und Muster der Nichtüberlieferung mittellateinischer Literatur. Leiden/Boston 2016.
Wird erwähnt in Fußnote: [21] [22] [31]

Klein, Dorothea: Ad memoriam firmiorem. Merkverse in lateinisch-deutscher Lexikographie des späteren Mittelalters. In: Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Kurt Ruh zum 75. Geburtstag. Hg. von Konrad Kunze, Johannes G. Mayer und Bernhard Schnell (Texte und Textgeschichte 31). Tübingen 1989. online.
Wird erwähnt in Fußnote: [23] [25] [28] [29]

Köbler, Gerhard, Mittelniederdeutsches Wörterbuch, 3. Aufl. 2014: https://www.koeblergerhard.de/mndwbhin.html [Zugriff am 24.12.2023].
Wird erwähnt in Fußnote: [11] [12] [13]

Mittelhochdeutsches Handwörterbuch von Matthias Lexer, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerterbuchnetz.de/Lexer [Zugriff am 24.12.2023].
Wird erwähnt in Fußnote: [14] [16] [17] [20]

Mittelhochdeutsches Wörterbuch von Benecke, Müller, Zarncke, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerterbuchnetz.de/BMZ [Zugriff am 24.12.2023].
Wird erwähnt in Fußnote: [15]