Operative und materielle Potenziale der Holzschnitte zur Altimetrie bei Peter Apian
Abstract
Mathematische Werke des 16. Jahrhunderts sind häufig mit diagrammatischen Darstellungen versehen. Was sie zu leisten vermögen, insbesondere im Rahmen volkssprachlicher Übersetzungen, diskutiert der Beitrag exemplarisch anhand der Holzschnitte zur Altimetrie in Peter Apians Instrument Buch (1533). Es wird argumentiert, dass man aus dem Potenzial der bereits bestehenden, für die deutsche Übersetzung wiederverwendeten Holzschnitte schöpft, um Nachvollziehbarkeit und Anwendbarkeit der Inhalte entsprechend des laikalen Zielpublikums zu steigern. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Hybridität der Raumdarstellung, die Materialität der Instrumente sowie die Relationalität von Text und Bild.
Abstract (englisch)
Sixteenth-century mathematical treatises often include diagrammatic illustrations. This paper analyses the capabilities of such illustrations, with a specific focus on the altimetry woodcuts found in Peter Apian’s Instrument Buch (1533). The argument put forth is that the pre-existing woodcuts, which were reused for the German translation, were utilized to enhance the comprehensibility and applicability of the content for a lay audience. The hybrid nature of the spatial representation, the materiality of the instruments, and the relationship between text and image are crucial here.
Titelabbildung: Frontispiz (Detail), Peter Apian, Instrument Buch, München, BSB, Rar. 2045, Ingolstadt 1533. Foto: © Bayerische Staatsbibliothek. (Lizenz: CC BY-NC-SA 4.0).
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
Mühelos (facilime) sei dem hier gezeigten Holzschnitt die Anwendung der dargestellten Messmethode zu entnehmen (Abb. 1).
So verspricht die lateinische Überschrift zur ersten Illustration des dritten Buchs des 1532 erschienen Quadrans astronomicus von Peter Apian (eigentl. Peter Bienewitz oder Bennewitz; 1495–1552). Ganz so einfach ist das aber nicht – jedenfalls dann nicht, wenn die notwendigen Grundlagen für ihre Anwendung fehlen, wie Apian in der Vorrede der erweiterten, mit Instrument Buch betitelten deutschen Übersetzung von 1533 konstatiert:Unnd die weyl ich das selbige [lateinische, nunmehr verbesserte Buch der astronomischen Instrumente] nit on sonderlichen nutz der gelerten / durch grossen vleyß in den Druck gebracht / sonder auch den liebhabern der Mathematischen künste / so das Latein nicht verstehen / der da vil sint. Dann als ich gespoͤrt habe / so sindt mer subtiller und spitzkundiger koͤpffe in diser kunst bey den Layen / dann bey den schrifftgelerten / wann sie allein der anfaͦng / darauff dise kunst gegründt wirt / nicht beraubt waͤren. Die weyl aber dise kunst on grosse umbschwayff in die Teutsche sprach nit wol mag gebracht werden / wie dann Ewer Edel und Gestreng wol zu ermessen haben / auch wie schwer und ungemaͤß der Teütschen sprach sie sey / habe ich underweylen etliche woͤrter / wie sie im latein gebraucht werden muͤssen bleyben lassen.
Was den Holzschnitt anbelangt, mögen abgesehen vom Verfahren selbst, den hierfür zu verwendenden Instrumenten und notwendigen Berechnungen (auf alle drei Faktoren ist später noch zurückzukommen) bereits die Gründe für die widernatürliche Darstellung zweier Sonnen sowie die darin eingezeichneten, zur Seite geneigten anthropomorphen Züge rätselhaft erscheinen. Das gilt ebenso für den abrupten Wechsel des dargestellten Untergrunds von einer dunklen, geometrisch-abstrakten Fläche zu einem hellen, unregelmäßig-naturmimetischen Landschaftsfragment im rechten Teil. An rein gestalterische Mittel ist in beiden Fällen kaum zu denken. Die mimetische und abstrakte Elemente verbindende Hybridität der Darstellung legt vielmehr nahe, dass Peter Apian bzw. die ausführenden Zeichner mit diesen sowie anderen, auf den folgenden Blättern immer wieder in ähnliche Schemata eingepassten motivischen und darstellungstechnischen Besonderheiten einen ganz bestimmten Zweck verfolgten:
die Zuweisung eines den Darstellungen je eigenen Potenzials, einer Operativität (mit Sybille Krämer gesprochen), die sich komplementär, in bestimmten Fällen relational zu den jeweiligen Texten verhält und damit ein epistemisches Surplus, ein Mehr an Verständnis generieren kann. Das betrifft einzelne Details der Holzschnitte und Texte ebenso wie übergeordnete Erkenntnisse.Das der Hybridität der Darstellungen inhärente Potenzial, epistemischen Mehrwert zu erzeugen, offenbart sich insbesondere dort, wo Ikonisches und Diskursives, sprich bildliche und sprachliche Elemente produktiv ineinandergreifen.
Der Wunsch, Theorie und Praxis zu verknüpfen und mathematisches Wissen an Laien zu vermitteln, ist im frühen 16. Jahrhundert per se nichts Neues. Zugeschnitten auf jene, die Land besitzen, ein Handwerk erlernen, sich künftig der Kunst widmen oder im Handel tätig werden, haben sich in volkssprachlich verfassten mathematisch-geometrischen Schriften u. a. mit den italienischen Abakus-Traktaten des 14. und 15. Jahrhunderts in großer Zahl erhalten, in nennenswertem Ausmaß auch nördlich der Alpen: darunter die Geometria Culmensisvon ca. 1400, von der eine lateinisch-deutsche Ausgabe sowie zwei fragmentierte Textzeugen bekannt sind; oder eine um 1477 besorgte Übersetzung des Tractatus quadrantis (auch Quadrans vetus; vor 1284), die sich unter der Signatur Cgm. 328 in der Bayerischen Staatsbibliothek in München befindet. Letztere befasst sich entsprechend ihrer Vorlage ausführlich mit der Altimetrie und unternimmt dabei auch den Versuch, mathematische Begrifflichkeiten vom Lateinischen ins Deutsche zu übersetzen. Illustrationen weist die Handschrift keine auf. Ganz anders stellt sich dies wiederum in der 1513 gedruckten, gleichsam mit der Altimetrie befassten, jedoch lateinischen Elucidatio fabricae ususque astrolabii des Johannes Stöffler dar. Großformatige und äußerst detaillierte Holzschnitte, die darstellungstechnisch auf der Höhe ihrer Zeit erscheinen, ergänzen dort die umfangreichen Texte (Abb. 2).
Was Peter Apians Quadrans astronomicus sowie sein Instrument Buch von ihren Vorgängern unterscheidet, ist nicht nur der Umstand, dass sie noch weit stärker auf Anwendbarkeit der Inhalte zielen.
Die These einer hybriden Bildlichkeit, die im Stande ist, theoretische Aspekte wie auch instrumentelle Praxis zu betonen, und es überdies vermag, den Holzschnitten vermittels relationaler Bezugnahmen verständlichere Übersetzungsmöglichkeiten abzuringen, gilt es im Folgenden anhand der Altimetrie in Apians Quadrans astronomicus und Instrument Buch zu diskutieren; insbesondere anhand der ersten drei Propositionen des jeweils dritten Buchs. Im Anschluss an einige Grundannahmen (I.) wird diese These unter Bezugnahme auf jenes beleuchtet, das Sybille Krämer in ihren Ausführungen zur Diagrammatik bzw. Diagrammatologie als „Attribute[] operativer Bildlichkeit“ bezeichnet hat: den Aspekt der ‚Räumlichkeit‘ in Tiefenraum und Flächigkeit (II.), den ‚Graphismus‘ in Phänomen und Instrument (III.) und schließlich die ‚Operativität‘ in Relation und Proportion (IV.). Ungeachtet der sich dabei immer wieder ergebenden konzeptionellen Überschneidung ist zu zeigen, welch immens wichtige, bisweilen aber unterschätzte Rolle die Illustrationen mathematisch-geometrischer Schriften für die Ausbildung einer neuen, dem Lateinischen adäquaten, möglichst allgemein verständlichen Terminologie spielten.
Zu betonen bleibt, dass die folgende, primär kunsthistorische Abhandlung sich als Versuch versteht, mathematisch-geometrische Schriften in den Blick zu nehmen, deren historische, bis wenigstens ins frühe 15. Jahrhundert zurückreichenden Wurzeln und Verzweigungen noch immer weitestgehend im Dunklen liegen. Systematische, fachlich möglichst breit aufgestellte Studien, die literatur-, wissenschafts- und kunsthistorische Aspekte gleichermaßen berücksichtigen, sie möglichst auch mit mittelalterlichen Vorgängern vergleichen, sind und bleiben ein Forschungsdesiderat, für das der vorliegende Beitrag nur als Anstoß dienen kann.
2. Grundannahmen
Geht man davon aus, dass die Adressat*innen der beiden Werke mit den erforderlichen, in der Vorrede des Instrument Buchs erwähnten Grundlagen vertraut waren, insbesondere jenen der Mathematik bzw. der Geometrie und Optik,
und sie das Sehen dementsprechend als Wahrnehmungsprozess verstanden, dessen physischer Anteil sich als geradliniger beschreiben lässt, liegt für Betrachtende des ersten Holzschnitts mitunter Folgendes auf der Hand (siehe Abb. 1): erstens, dass die Einfügung der anthropomorphen Züge in die ansonsten ungerichteten Sonnenscheiben es ermöglicht, die ihnen jeweils entspringenden, zueinander parallel geführten Linien auf die Lichtquellen zu beziehen. Die Linien sind folglich zweifelsfrei als Sonnenstrahlen zu identifizieren. Zweitens, dass sich die beiden Lichtquellen dafür verantwortlich zeichnen, dass die Sonnenstrahlen in einem bestimmten Winkel ausgerichtet sind, wobei der rechte, entlang der Oberkante eines Quadranten verlaufende am Bodenstreifen endet, während der linke Strahl, nachdem er zunächst die Traufe der Bedachung eines Turms tangiert, denselben diagonal durchschneidet. Auf Letzteres folgt drittens, dass der linke der beiden Sonnenstrahlen die abrupte Trennung zwischen dem hellen, unregelmäßig-naturmimetischen Landschaftsfragment und der dunklen, geometrisch-abstrakten Fläche verursacht. Das mündet wiederum in eine vierte Erkenntnis, nämlich jene, dass es sich bei der geometrisch-abstrakten Fläche um den vom orthogonal aufragenden Turm hervorgerufenen und durch den Lichtstrahl begrenzten Schlagschatten des Turmes handelt. Bei dessen Darstellung ging es offenbar weniger um mimetische Qualität. In diesem Falle wäre nämlich von einer formalen Übereinstimmung des Schattens mit der unregelmäßigen Bodenfläche auszugehen. Neben der Form versichert die abwechselnd aus kürzeren und längeren vertikalen Linien gebildete Skalierung unterhalb vielmehr, dass bei der Darstellung des Schattens, und das wäre sodann die fünfte Erkenntnis, dessen Quantifizierbarkeit, also die hier mit 80 bezifferte Längsabmessung im Zentrum des Interesses steht. Dieser fünfte Punkt gilt auch für die subtil vermittels horizontaler Ziegelreihen skalierte, gleichfalls 80 messende Turmarchitektur. Und sechstens ist schließlich festzuhalten, dass die Turmhöhe und die Länge seines Schlagschattens offenbar dann von identischem Ausmaß sind, wenn sie im rechten Winkel zueinander stehen und die Schnur des Senklots eines an der Sonne ausgerichteten Quadranten den 90° umfassenden Viertelkreis, den sogenannten Limbus, exakt im Zentrum schneidet, sprich: wenn sie 45° anzeigt. Zweck der motivischen und darstellungstechnischen Besonderheiten, so kann vorläufig festgehalten werden, ist also jener eines visuell vermittelten, mathematisch-geometrischen Schlusses, dessen Bedingungen und Ergebnis sich instrumentell anhand natürlicher Phänomene gewinnen lassen: Höhe des Turms und Länge des Schlagschattens stimmen in ihren Abmessungen überein, wenn sie im rechten Winkel zueinander stehen und der Einfallswinkel des Lichtes 45° beträgt. Unter diesen Bedingungen gestaltet sich die Praxis der Vermessung einer unbekannten Höhe tatsächlich mühelos, wie Peter Apian sowohl im Quadrans astronomicus als auch im Instrument Buch von 1533 erklärt: Felt er […] auf 45 grad / so ist der thurn gleych als hoch als der schat langt ist : wan̄ du den schatten mit ainer elln / oder sonst einem gwoͤnlichen maß missest / so hast du den Thurn auch gemessen. Als / ist der schat 80. schrit lanck / so ist der Thurn auch 80. schrit hoch. Die weitestgehend statisch angelegte Leichtigkeit der im Kontrapost gezeigten Figur des Holzschnitts entspricht der Einfachheit des im Text erläuterten Messverfahrens.3. Tiefenraum und Flächigkeit
Voraussetzungsreicher sind die beiden darauffolgenden Exempel. Das gilt für die notwendigen mathematischen Berechnungen ebenso wie für die praktische Vermessung. Analog zur Theorie und Praxis werden auch die beigegebenen Holzschnitte komplexer und bewegter. So auch jener zur zweiten Proposition (Abb. 4). Abgesehen von der leicht variierten Stadtansicht, die links des nunmehr runden Turms ein in die Tiefe fluchtendes Gebäude zeigt, ist die Neigung der beiden Sonnen ungleich steiler, weshalb der Schlagschatten kürzer (L = 42) als die Höhe des ursächlichen Turmes scheint (H = 168).
Das bedingt wiederum, dass die Figur den Winkel des Quadranten neu justieren, ihn in einer dynamisch nach vorn tendierenden Haltung entsprechend des einfallenden Lichts positionieren muss. Bewegter als die der ersten ist auch die Figur der dritten Proposition, allerdings in die entgegengesetzte Richtung (Abb. 5). Grund hierfür ist das gegenüber dem ersten und zweiten Beispiel nunmehr flach einfallende Licht bzw. der von einem zeitgenössisch anmutenden, zinnenbewehrten Gebäude geworfene Schlagschatten, der hier weitaus länger ist (L = 240) als das ursächliche Gebäude hoch (H = 180). Dementsprechend ist die Figur dazu gezwungen, dem sich entfernenden Lichtstrahl quasi hinterherzurennen, und zwar so weit, dass der abermals neu auszurichtende Quadrant bis an den äußersten Rand des Holzschnitts reicht. Dabei sind die räumlichen Verhältnisse komplexer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.
In den Holzschnitten werden zwei verschiedene Modalitäten der Raumdarstellung auf subtile Weise kombiniert: Tiefenraum und Flächigkeit.
Bei Ersterem handelt es sich um ein Schauen in das Bild hinein. Medium und Materialität des Blattes werden dergestalt negiert. Der Blick öffnet sich in einen durch künstlerische Mittel erzeugten, seinerseits mimetisch gestalteten Tieferraum. Dieser enthält durch Andeutungen von Licht und Schatten als plastisch ausgewiesene Körper. Perspektivische Verkürzungen und Überlappungen signalisieren überdies ein Vorn und Hinten. In den hier gezeigten Holzschnitten repräsentieren diesen Modus primär die jeweils links gezeigten, durch Schraffuren modellierten und perspektivisch in die Tiefe fluchtenden Gebäude – besonders eindrucksvoll am wehrhaften Palazzo im Holzschnitt der dritten Proposition zu sehen (siehe Abb. 5). In diesen Gebäuden, oder genauer gesagt, in den Schlagschatten derselben, die sich als dunkle, regelmäßig-geometrische Projektionen von den unregelmäßig-natürlichen Landschaftsfragmenten rechts abheben, kündigt sich der zweite Modus an: jener der Flächigkeit. Deutlicher wird dies in den Holzschnitten der ersten beiden Propositionen (siehe Abb. 1 und 4). In vorderster Ebene angelegt bilden dort die jeweils skalierten und bemaßten ‚Vorderkanten‘ der Schlagschatten gemeinsam mit den Lichtstrahlen und Turmarchitekturen rechtwinklige Dreiecke aus. Bei der Flächigkeit dieser Dreiecke handelt es sich allerdings nicht um eine solche, die „Verzicht leistet auf eine Imitation der Dreidimensionalität“ – jedenfalls nicht hinsichtlich der Möglichkeit eines Blicks auf das Dahinter. In einer solch opaken, materiell-greifbaren Form werden die geometrischen Flächen etwa in Johannes Stöfflers Elucidatio von 1513 präsentiert (siehe Abb. 2). Dergestalt überdecken sie gar Teile der messenden Figuren. In den Holzschnitten des Peter Apian sind die Dreiecke zwar ersichtlich, bleiben mit Ausnahme der Kanten aber transparent, möglicherweise auch deshalb, weil die dahinterliegenden Schlagschatten als Grundlage der Mess- und Berechnungsverfahren sichtbar bleiben sollten. Das dem Tiefenraum eigene ‚Schauen hinein‘ und das für die Flächigkeit charakteristische ‚Schauen auf‘ schließen hier einander nicht aus. Sie bilden ein Hybrid, dessen einzelne Elemente sich ebenso komplementär verhalten wie die Praxis und die Theorie. Der Akzent liegt dabei jeweils auf Ersterem, sprich auf Tiefenraum und Praxis. Müheloser Nachvollzug wird dennoch keiner mehr behauptet: Das hier geschilderte Messverfahren ist von folgender Gestalt und Schema des Messverfahrens lauten die Bildüberschriften nunmehr schlicht – eine Zurückhaltung, die durchaus gute Gründe hat. Der zu Füßen der Figur des zweiten Holzschnitts liegende Stechzirkel mag auch hierfür Ausweis sein, galt er doch nicht nur als Attribut der Geometrie und Arithmetik. Der Zirkel war auch jenes Instrument, das vermittelnd zwischen practica und theoria, dem Reich des Materiellen und jenem der immateriellen Ideen stand.4. Phänomen und Instrument
Wie die gesteigerte Dynamik der Holzschnitte von der ersten zur zweiten und dritten Proposition bereits vermuten lässt, sind alsbald Kenntnisse notwendig, die über das Ablesen eines Winkels oder das Vermessen eines Schlagschattens hinausgehend nach Einsichten in die Funktionsweise des Quadranten und die damit verbundenen Konstruktionen verlangen. So etwa im Holzschnitt zur zweiten Proposition (siehe Abb. 4). Dort lässt der Neigungswinkel des Sonnenstrahls die Länge des Schlagschattens (L = 42) auf exakt ein Viertel der Höhe des Turmes schrumpfen (H = 168). Logisch und für sich genommen auch korrekt wäre sodann der Schluss, dass der vom Senklot des Quadranten angezeigte Winkel einem Viertel seiner Gesamtabmessung, also 22,5° entspricht. Darunter wird jedoch ein Wert von 25 angegebenen. Ein Irrtum oder Fehler? Keineswegs!
Die Angabe von 25 beruht auf einer Einschreibung, die sich als Teil eines Systems von Linien und Skalen auf der materiellen Oberfläche des Quadranten findet (siehe Abb. 3): der gegen die äußeren Enden mit VMBRA VERSA und VMBRA RECTA beschriftete Viertelkreis der Scala altimetra (dt. Messleiter). Für deren graphische Konstruktion spielt erneut das Phänomen des Schlagschattens eine ganz zentrale Rolle. Im arabischen Raum seit dem 9. Jahrhundert als ẓill al-Sullam bekannt (wörtlich ‚Schatten der Leiter‘), geht die bei Apian im Zentrum bei 100 geteilte, nach beiden Seiten in Zehner- sowie Einser-Schritten (punct bzw. puncta umbrae) abnehmende Skalierung auf den Schatten eines Gnomons, also den Zeiger einer Sonnenuhr zurück. Ist dieser Gnomon im rechten Winkel an einer vertikalen Wand montiert und dabei so weit von einem parallel gelagerten Untergrund entfernt, wie dessen eigene Länge ist, bildet sich zwischen Gnomon, Wand, Bodenoberfläche und einer gedachten Verbindungslinie ein imaginäres Quadrat (Abb. 6a). Aus diesem Grund ist die Scala altimetra im Deutschen auch als ‚Schattenquadrat‘, im Italienischen als quadrato delle ombre bekannt. Ist nun das Licht in einem Winkel 𝛼 = 0–45° gegen den Gnomon gerichtet, findet sich dessen Schatten an die Wand ‚geworfen‘: die im Lateinischen als umbra recta, wörtlich als ‚richtiger‘ bzw. ‚gerader Schatten‘ bezeichnete Seite. Misst der Einfallswinkel dagegen 45–90°, verlängert sich der Schlagschatten des Gnomons so weit, dass er zusätzlich auf die Bodenoberfläche trifft: auf den als umbra versa oder als ‚verkehrter Schatten‘ bekannten Teil. Bei diesen ‚Schattenquadraten‘, wie sie sich bereits auf mittelalterlichen Quadranten finden (Abb. 7), handelt es sich also um materielle Manifestationen, die in Form von graphisch-abstrakten Einschreibungen auf ihren natürlich-dynamischen Ursprung zurückverweisen: auf den Lauf der Sonne bzw. das vom beleuchteten Gnomon hervorgerufene, dynamisch-ephemere Phänomen des Schattens. Auf diesem Prinzip einer „extrinsischen Materialität“ basiert auch die Scala altimetra auf Peter Apians Quadrant, allerdings mit einer konstruktiven Manipulation: umbra recta und umbra versa finden sich auf einem einzigen, an den Enden mit H und I beschrifteten Kreissegment, und zwar jenseits der zentralen, einem Lichteinfall von 45° entsprechenden 100er-Markierung (Abb. 6b).
Dass die Einsicht, wofür umbra recta und umbra versa stehen, für Laien nicht ganz ohne Mühen zu erringen, aber wesentlich für Praxis und Theorie des Vermessungswesens ist, war Peter Apian durchaus bewusst.
Das geht aus seinem Instrument Buch hervor. Aus eben diesem Grund hat er wahrscheinlich darauf gesetzt, künftige Nutzer*innen seinen Quadranten sowohl mental als auch materiell rekonstruieren zu lassen (oder zumindest Anweisungen hierfür zu geben). So schreibt er gleich im ersten Teil: In disem Andern Capitel / wil ich dich lernen / wie du die linien oder riß / und buͦchstaben / so in disem fordern tayl des Quadranten begriffen sint / von einem zu dem andern erclaͤren. Während Apian im Quadrans astronomicus die Scala altimetra, ihre Funktion und Teile nur äußerst knapp erwähnt, widmet er dieser im Instrument Buch eine ausführliche Erläuterung. Abseits der Angaben zum Anbringungsort, zur Länge und Materialität des Senklots (ein subtiller seydner faden, zway subtille staindlein oder perlein, ein klaines bleykloͤtzel), der Ausführung der beiden Absehen (zway loͤchlein / in gleicher weyt) und, dass die Vorlage auff die bretlein sollen geleymet werden, geht es Apian hier in erster Linie darum, die Bedeutung von umbra recta bzw. umbra versa in einer nachvollziehbaren Weise zu vermitteln:Merck auch mit vleyß auff die woͤrtlein / VMBRA RECTA und VMBRA VERSA / die dabey stehen. Dan̄ Umbra recta hayst zu Teuͤtsch / der Recht schat / das ist / so ein thurn oder ein ander gebew / einen kurtzern schaten hat / dann das selber hoch ist. […] darumb wirdt ich nicht unbillich nachvolgendt / durch das gantze buͦch / die puncta Umbrae rectae / nennen punct des kurtzen schattens / oder des Rechten schattens. Die werden in diesen Quadranten von dem Punct H / biß auff die mitte gezelt / unnd enden sich auff der zal 100.
Dasselbe erklärt Apian hinsichtlich der umbkerte punct
der umbra versa, gefolgt von einer Rechtfertigung. Da die umbra versa länger sei als der Turm hoch, nenne er diese punct des Langen schatens : wie wol es moͤcht einen frembd geduncken / die weyl sie dise zwen namen vormals nit gehabt haben. Aber meins bedunckens hab ich ine die rechte natuͤrliche namen aufferlegt im Teuͤtschen : wiewol im Latein gar ein andere maynung darinn verstanden wirdt. Die Bedenken scheinen durchaus berechtigt, jedenfalls dann, wenn man die um 1477 entstandene, in MS Cgm. 328 eingebundene deutsche Übersetzung des Tractatus quadrantis als Referenz zu Rate zieht. Dort greift der anonyme Autor für jene Begriffe, die Maximilian Curtze als „mathematische Kunstausdrücke“ bezeichnet hat, noch auf wörtliche Übersetzungen zurück: Staffel für gradus, Zwiestand für differentia bzw. distantia, Schein des Gesichts für radius visualis und, für unseren Kontext am wichtigsten, rechten Schatten und verkerten Schatten für umbra recta und umbra versa. Anders wiederum bei Johannes Stöffler. Dieser verbindet die umbra recta und umbra versa in seiner Elucidatio (1513) bereits mit Größenangaben (minor, maior, crescit, decrescit). Er stellt diese Angaben allerdings in einen Zusammenhang, der sie mehr an den Lauf der Sonne als an eine damit ermöglichte Unterscheidung und Identifizierung der beiden Instrumentenseiten bindet. Vor diesem Hintergrund wäre die Aussage Peter Apians zumindest in Teilen zu relativieren. Ungeachtet dessen könnte es sich, mit der geforderten Vorsicht formuliert, bei den deutschen Übersetzungen langer Schatten und kurzer Schatten gleichwohl um originäre handeln. Am Beginn des Abschnitts zur Höhenmessung bekräftigt Apian jedenfalls noch einmal hoffnungsvoll: Es gefiel mir auch wol / wann man die punct umbrae rectae nennet den kurtzen schatten / und die punct umbrae versae den langen schatten. Und so finden sich die Bezeichnungen dann auch auf einen viereckigen Quadranten im Beschlus der Altimetrie übertragen (Abb. 8).
5. Relation und Proportion
Angesichts des eingangs angeführten Zitats war es im Falle der umbra recta sowie der umbra versa wohl notwendig, die grosse umbschwayff einer Übersetzung in die Teutsche sprach auf sich zu nehmen.
Aufgrund der relationalen Koppelung von Text und Bild wird im Instrument Buch auch ohne Wissen um die Herkunft und Konzeption der Scala altimetra verständlich, weshalb gleich unterhalb der Darstellung des Quadranten zur zweiten Proposition nicht 22,5, sondern ein Wert von 25 festgehalten wird (siehe Abb. 4). Es sind die punct des rechtn schatens, die das Senklot auf der umbra recta-Seite der Skala H-I eines am Licht ausgerichteten Quadranten zeigt, wenn der zu beobachtende Schatten kuͤrtzer dann der Thurn hoch ist. Das ist im beigegebenen Holzschnitt zweifellos der Fall. Sobald nun das Maß der umbra recta abgelesen und die Länge des kurzen Turmschattens genommen sind, wird die hier zwar angeführte, der Intention nach aber unbekannte Höhe des Turms errechenbar: Wann der faden gefallen wer auff 25 punct des rechten schatens / und der schatt ist langt 42 schrit oder Ellen / Setz in die Regel / Sprich / 25 geben 42 was geben 100? Multiplicir 100 mit 42 / summen 4200 / die tayl in 25 / die taylung gibt 168 schrit / so hoch ist der Thurn. Diese, dem damaligen Sprachgebrauch entsprechend als regl Detri bezeichnete Verhältnisgleichung (Dreisatz) würde als Formel in etwa so aussehen:
Die Proportionalität zwischen dem natürlichen Phänomen und der abstrakten Einschreibung (Turmhöhe : Schattenlänge = umbra versa : umbra recta), die innerhalb des Textes eine sprachlich implizite bleibt, sich indirekt aber zumindest in der Berechnung äußert, wird im Holzschnitt visuell konkretisiert: Jenes rechtwinklige Dreieck, das Schatten, Turm und Lichtstrahl bilden, verhält sich prima vista proportional zu jenem, das sich zwischen den Schnittpunkten der umbra recta und des Senklots mit der Oberkante des Quadranten formt. Die Ähnlichkeit der gezeigten Dreiecke ist dementsprechend nicht nur eine optische. Sie ist auch eine mathematisch-geometrische. Im Akt des Weiterblätterns und der Betrachtung der darauffolgenden, auf derselben Axiomatik basierenden Holzschnitte des dritten Buches mag sich der Eindruck von Proportionalität und Ähnlichkeit erhärten.
Peter Apians Leistung hinsichtlich der Übersetzung der abstrakten lateinischen Begriffe umbra recta und umbra versa mit langer Schatten und kurzer Schatten, die ein Mehr an Nachvollziehbarkeit bedeutet, liegt wesentlich, wie gezeigt wurde, in den bereits für den Quadrans astronomicus gefertigten, für das Instrument Buch wiederverwendeten Holzschnitten begründet. Das ist zweifellos exzeptionell und in dieser Prägnanz bis dahin vielleicht sogar ein Einzelfall – zumindest mit Blick auf die deutschsprachigen mathematisch-geometrischen Schriften des 15. und 16. Jahrhunderts. Dem ist in künftigen Studien weiter nachzugehen. Angelegt fand sich das epistemische Potenzial jedoch in allgemeineren Charakteristika einer operativen Bildlichkeit: der Hybridität von Flächigkeit und Tiefenraum sowie der Relationalität von Bild und Text. Je nach Gewichtung wird dabei verstärkt die praktische Anwendbarkeit oder die theoretische Fundierung betont. Bei Peter Apian tendiert die Akzentuierung in beiden Fällen, in der deutschen Übersetzung aber ganz speziell in Richtung Praxis. Das mag wiederum der im Vorwort angesprochenen Zielgruppe geschuldet sein: den Liebhabern der mathematischen Künste unter jenen, die des Lateins nicht mächtig sind. Ihnen sollte im wahrsten Sinne möglichst bildhaft vermittelt werden, was mit Hilfe der Mathematik und Geometrie zu leisten ist, aber auch, welche Kenntnisse und Materialien hierfür notwendig sind – einige wenige vorausgesetzt, andere vermittelt (und auch beigelegt). Es sind m. E. gerade diese, der Bildlichkeit mathematisch-geometrischer Schriften inhärenten Potenziale, die eine künftige Forschung noch stärker zu berücksichtigen und vermehrt an Bruchlinien und Übergängen verschiedener Sprach- und Kulturräume aufzusuchen hat.