Die Relationen der Dinge in einer Ontologie mittelalterlicher Narrative
Abstract
Das von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften geförderte Digital-Humanities-Projekt ONAMA – Ontology of Narratives of the Middle Ages – bedient sich der umfangreichen Korpora zweier Langzeitprojekte, der Bilddatenbank REALonline und der Textdatenbank MHDBDB, die Bilder und Texte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit systematisch erschließen.
Bei der Narrativ-Annotation in ONAMA werden nicht nur Konstanten und Variablen der narrativen Strukturen sichtbar, sondern auch die einzelnen Bezugspunkte, die ein spezifisches Narrativ ausmachen. Wie sich im Rahmen der Forschungsarbeit zeigt, sind dies neben Figuren und Handlungen in besonderem Ausmaß auch die typischen Dinge der Erzählungen. Der Beitrag rückt in den Fokus, wie Dinge in ONAMA modelliert sind und welche Potenziale ihre Analyse für das Verständnis von Narrativen von Bildern und Texten des Mittelalters haben kann.
Abstract (englisch)
The Digital Humanities project ONAMA – Ontology of Narratives of the Middle Ages –, funded by the Austrian Academy of Sciences, is based on the extensive corpora of two long-term projects, the image database REALonline and the text database MHDBDB, which systematically index images and texts of the Middle Ages and the Early Modern Period.
In ONAMA, not only constants and variables of narrative structures become evident, but also the individual points of reference that make up a specific narrative. As this research shows, things are as essential for narratological structures as characters and actions. The article focuses on how things are represented in the ONAMA-model and how their analysis can deepen our understanding of the narratives of images and texts in the Middle Ages.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Dinge spielen in der (digitalen) Narratologie häufig nach wie vor eine untergeordnete Rolle. Während die Erzählrelevanz von Handlungen, Settings und Personen
allgemein als gesichert gilt, werden die dinghaften ‚Kleinigkeiten‘ in Narrativen oftmals als bloße Ausschmückungen der Szenen abgetan und nicht in dem Ausmaß behandelt, das ihren tatsächlichen Stellenwert widerspiegelt. In den Bereichen der Dingtheorie und Dingkultur haben sich in den letzten Jahren neue Perspektiven eröffnet. Impulse kamen unter anderem aus dem schon seit den 1990ern intensivierten interdisziplinären Forschungsfeld der materiellen Kultur, aber beispielsweise auch aus zahlreichen, ursprünglich v.a. von den Sozialwissenschaften vorangetriebenen Studien zu Mensch-Ding-Beziehungen. Auch die mediävistischen Disziplinen zeigen – allerdings fachabhängig in gänzlich unterschiedlichem Ausmaß – schon länger Interesse. Manchmal gelang ein Fortschritt von der älteren interpretativen Ding-Attribution hin zu zeitgenössischer Theorie und der damit in Zusammenhang zu bringenden narratologischen Wirkmacht der Dinge besser, manchmal weniger gut. Oftmals konzentrieren sich die Untersuchungen mittelalterlicher Kultur zudem primär auf einzelne Objekttypen wie Kleidung oder Waffen. Dies hat sich auch bei der digitalen Erschließung von Motiven, Narrativen und Sujets nicht entscheidend verändert. Figurenrollen und Figurenaktivitäten werden von den Digital Humanities inzwischen mit Sorgfalt in den Fokus genommen, insbesondere mit neuen quantitativen Methoden. Die Dinge in den Narrativen haben hingegen den Sprung vom Close zum Distant Reading/Viewing nicht immer geschafft; sie laufen Gefahr, in der digitalen Analyse wieder stärker ins Hintertreffen zu geraten.In diesem Aufsatz soll die Untersuchung der Dinge bzw. Objekte in Bildern und Texten des Mittelalters und der frühen Neuzeit mit digitalen Methoden ins Zentrum des Interesses gerückt werden. Als methodischer Zugang dienen dabei die Ergebnisse des Projektes ONAMA – Ontologie der Narrative des Mittelalters, das zunächst vorgestellt wird. Das Projektteam erarbeitete eine Semantic-Web-Ontologie als digitales Werkzeug für die Analyse des imaginativen Potenzials und der narratologischen Muster in der Literatur und in Bildern des Mittelalters. In dieser Ontologie werden nicht nur Figuren, Handlungsabfolgen, Zeiten und Orte modelliert, sondern eben auch Dinge in Narrativen.
Narrative analysierbar machen: Zum Projekt ONAMA
In ONAMA wird ein digitales Modell für das Erfassen von Narrativelementen wie Handlungen, Akteur*innen, Objekten, Settings und den zeitlichen Strukturen sowie den Rollen und Funktionen dieser Elemente entwickelt, das für textuelle wie visuelle Medien des Mittelalters angewendet werden kann.Wikidata und Iconclass ermöglichen es zudem, auch diese Datenpools für Abfragen nutzen zu können. Der Zugriff auf das im Projekt mit der Ontologie annotierte Korpus kann über ein eigens entwickeltes Frontend für einfache Abfragen erfolgen. Darüber hinaus stehen die Daten in RDF-Form für komplexe Queries zur Verfügung.
Ziel dieser Ontologie ist es, die Erzählstrategien von Bildern und Texten annotieren und damit in weiterer Folge analysieren zu können. Mithilfe der Ontologie können Genese und Tradierung von narrativen Bausteinen und die Konfigurationen dieser Bausteine im jeweiligen Medium, aber auch in der medienübergreifenden Zusammenschau untersucht werden. Im Modell unterscheiden wir zwischen abstrakten Narrativ-Konzepten und deren Realisierungen in konkreten Texten und Bildern. Konzepten können beliebig viele untergeordnete Konzepte zugeordnet werden, sodass eine sehr detaillierte Erfassung von Narrativsequenzen möglich ist, die weit über den allgemeinen Plot einer Geschichte hinausgeht. Ein Narrativ (Konzept) ist in ONAMA eine einzelne Figurenaktivität, ein Ereignis bzw. eine Zustandsänderung. Eine Narrativ-Realisierung kann hingegen auch ein Zustand sein: Nur auf dieser Basis können etwa bildliche Erzählungen in ihrer konkreten Umsetzung als Einzelbilder oder Bildfolgen erschlossen werden. Jedes in ONAMA angelegte Konzept bzw. jede Realisierung wird daher mit einem einzelnen Handlungsknoten (der gegebenenfalls ein „Zustandsknoten“ ist) verbunden. In Anlehnung an ein Konzept aus der Sprachwissenschaft haben wir die von einer Handlung abhängigen Akteur*innen, Objekte, Orte oder zeitlichen Elemente mit semantischen Rollen versehen, sodass etwa zwischen einem Handelnden (Agent) und dem von einer Handlung Betroffenen (Patient) unterschieden werden kann. Damit können die Rollen, die einzelne Narrativ-Elemente in der Erzählung einnehmen, beschrieben und in weiterer Folge ausgewertet werden. Auch Funktionen, die einem Narrativ-Element nur in einer bestimmten Situation bzw. während einer konkreten Sequenz eines Narrativs zukommen (z.B. Gabe, Widersacherin etc.), können in ONAMA erfasst werden. Die digitale Aufbereitung der Narrative wird mit Semantic–Web-Technologien umgesetzt, um sie künftig auch in maschinenlesbare Kontexte integrieren und für umfassende Analysen verfügbar machen zu können. Dafür verwenden wir einen Namespace für die Ontologie (@prefix onama: <http://onama.sbg.ac.at/ontology#>) und einen für die in ONAMA annotierten Bilder und Texte (@prefix onamaObject: <http://onama.sbg.ac.at/object/>). Referenzen von ONAMA-Datensätzen auf andere Wissensdatenbanken und Klassifikationssysteme wieAusgangspunkt und Datenpool für das Projekt sind zwei Langzeitprojekte der Digitial Humanities: Die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MHDBDB) der Universität Salzburg und die Bilddatenbank REALonline, die vom „Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit“ in Krems (ebenfalls Universität Salzburg) betrieben wird.
Auf der Grundlage retrodigitalisierter sowie genuin digitaler Editionen wird der mittelhochdeutsche und frühneuhochdeutsche Wortschatz seit den frühen 1970er-Jahren in der MHDBDB onomasiologisch, also über die Wortbedeutung, erschlossen. Von 2016 bis 2020 wurde die Datenbank einem erneuten Redesign und einer Migration unterzogen.Web Annotation Vocabulary auf die Tokens der Texte bezogen. Dieses Verfahren ermöglicht weiters das Hinzufügen von Metadaten zu jeder Annotation, etwa um deren Urheberschaft oder Entstehungszeit zu kennzeichnen.
Sie enthält mittlerweile rund 10,7 Millionen Tokens, also einzelne Wörter, verteilt auf über 660 Texteditionen unterschiedlichster Textsorten und -gattungen, mit rund 6,7 Millionen semantischen Annotationen. Die Texteditionen der Datenbank wurden im Zuge des Relaunchs nach TEI-XML transferiert. Um in den e-Texten beliebig viele Annotationsebenen wie etwa Part-Of-Speech (POS), Phrasen- und Satzstrukturen, Onomastik oder Semantik auszeichnen zu können, werden die Annotationen im Stand-Off-Verfahren über dasIn der ebenfalls seit den 1970ern aufgebauten Bilddatenbank REALonline werden die Daten zu allen dargestellten Bildelementen (Personen, Dinge, Tiere, Pflanzen, Handlungen, Orte etc.) und ihre Features (Material, Farbe, Form, Gestik etc.) auf Kunstwerken und Artefakten erfasst, die sich in unterschiedlichen Kulturerbe-Institutionen in Österreich, den angrenzenden Regionen Deutschlands, Tschechiens, der Slowakei, Ungarns, Sloweniens und Südtirols sowie in einzelnen Gebieten Polens und Rumäniens befinden und schwerpunktmäßig in das 12. bis 16. Jahrhundert datieren.
Das strukturiert aufgenommene Datenmaterial bildet eine wichtige Grundlage für Forschungsfragen unterschiedlicher Disziplinen. Die Daten werden als Graph modelliert, wodurch auch die Beziehungen zwischen einzelnen Elementen visualisiert und untersucht werden können. Aktuell wurden so über 1,2 Millionen semantische Annotationen innerhalb von über 22.500 Datensätzen zu mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bildern erfasst.Über das Projekt ONAMA können nun auch die narrativen Strukturen von Texten bzw. Bildern, die Teil des MHDBDB- bzw. des REALonline-Korpus sind, erschlossen und mit Referenzen auf diese ausgestattet werden. Zudem wird gewährleistet, dass neben dem ONAMA-Korpus auch die MHDBDB- und REALonline-Daten im Semantic Web verfügbar sind,
sodass auf Grund der Referenzen in ONAMA auch die Datenpools der beiden anderen Datenbanken für Abfragen genutzt werden können.Die folgenden Abbildungen (Abb. 1–3) vermitteln die Struktur der Ontologie:
Dinge in Narrativen: Zum Stand der Forschung
Dinge, denen besondere Wirkmacht zugeschrieben wird, die spezielle Eigenschaften innehaben oder die überhaupt anthropomorphisiert werden, sind in der Kultur des Mittelalters keine Seltenheit. Natürlich sind es besonders diese Gegenstände und Objekte, die die Forschungstradition seit Jahrzehnten intensiver beschäftigen. „Im ‚Universum der Dinge‘ faszinieren […] insbesondere die ‚lebendigen‘, die ‚sprechenden‘, die ‚souveränen Dinge‘, Gegenstände mithin, die eine eigentümliche Macht oder Wirkmächtigkeit, eine Widerständigkeit, einen Eigen-Sinn zu besitzen scheinen und insofern als Dinge von Gewicht empfunden werden“
, schreibt beispielsweise Elke Brüggen über wissenschaftliche Ding-Diskurse.Doch von Interesse für heterogene Theoreme und einschlägige Objektstudien ist nicht nur dieser auf den ersten Blick unter dem Begriff der agency zu subsumierende Formelschatz, der Dingen mit spezifischen Aspekten Wirkmächtigkeit, Widerständigkeit oder auch Langlebigkeit (Stichwort: Dingbiografien) zuschlägt. Neben diesen im weiteren Sinne ‚handelnden‘ Dingen (vgl. Dinge mit Handlungsmacht bei Latour
) kommt auch scheinbar nur ‚illustrierenden‘ Dingen eine narrative Bedeutsamkeit zu. Unter diesem Aspekt gibt es mehrere jüngere Bestrebungen, die Fragen nach Dingkultur, ‑forschung und ‑theorie in- und außerhalb mediävistischer Disziplinen neu aufzumachen. Eine zentrale Rolle spielt dabei beispielsweise die Forschungsgruppe um Anna Mühlherr, Bruno Quast, Heike Sahm und Monika Schausten, die bereits 2012 ein maßgebliches Kolloquium zum Thema „Dingkulturen. Verhandlungen des Materiellen in Literatur und Kunst der Vormoderne“ initiierte. Dieses bildete wiederum die Basis für den 2016 publizierten, richtungweisenden Band „Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne“. Die Autorinnen und Autoren um Mühlherr et al. trachten danach, „das mediävistische Gespräch über die Dinge voranzutreiben und zu vertiefen“ , wobei ihre Ausrichtung primär philologisch-textbasierter Natur ist. Untersucht werden beispielsweise Übergabeprozesse bzw. zirkulierende Dinge (Gaben, Geschenke etc.), spezifische Funktionen von Dingen, metaphorisierte Dinge und einzelne Objekte (z.B. Hochzeitsobjekte, Ringe usw.). Auf eine vergleichbare Unterscheidung der Qualitäten von Dingen hinsichtlich von Funktion, Form, Hierarchisierung etc. wird im Folgenden auch in diesem Beitrag schwerpunktmäßig mit Blick auf die ONAMA-Ontologie eingegangen, womit ein Anschluss an den aktuellen Stand der Forschung gesucht wird.All die erforschten Dinge in der Literatur bzw. Dingstudien zu literarischen Narrativen des Mittelalters zu berücksichtigen, wäre eine in diesem Rahmen nicht zu leistende Aufgabe. Ein kursorischer Überblick sei jedoch dahingehend geliefert, als es in den letzten Jahren auffällig viele Einzeluntersuchungen mit Dingperspektive zu bestimmten Texten gab. Nicht nur der genannte Band von Mühlherr et al. legt davon beredtes Zeugnis ab, in dem sich unter anderem Beiträge zu Dingen im Nibelungenlied, im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg, im Werk Wolframs von Eschenbach, im Rolandslied des Pfaffen Konrad, im Wigalois, in Salman und Morolf, im Werk Hartmanns von Aue, in der Aeneis und im Eneasroman, beim Mönch von Salzburg, bei Heinrich Wittenwiler und Heinrich von dem Türlîn finden. Die Linie der textbezogenen Fokussierung auf Dinge zieht sich auch durch zahlreiche andere jüngere Forschungsergebnisse. Romana Kaske etwa konzentriert sich ebenfalls auf Dinge in Konrads Trojanerkrieg,
Pia Selmayr auf die Dinge im Nibelungenlied, Florian Nieser auf den Willehalm Wolframs von Eschenbach – um nur auszugshaft einige der neueren Studien zu nennen.Von besonderer Relevanz für die vorliegende Untersuchung sind freilich jene Forschungsfragen, die die erzähltheoretische Perspektive, die Dinge in mittelalterliche Texte einbringen, mit besonderem Augenmerk herausgreifen. Oftmals ist der Zugang derjenige der ‚handelnden‘, augenscheinlich ‚wichtigen‘ oder in anderer Form ‚wirkmächtigen‘ Dinge, was auf die Alterität der mittelalterlichen Literatur zurückgeführt wird.
Valentin Christ beschäftigt sich in seinen „Bausteine[n] zu einer Narratologie der Dinge“ ebenfalls vordergründig mit Texten (dem Eneasroman Heinrichs von Veldeke, dem Roman d’Eneas und Vergils Aeneis). Dabei analysiert er sorgfältig die Handlungsrelevanz von Dingen im Spiegel etablierter Motivationsdiskurse zur erzählerischen Dingkultur (Gabentopoi, Schutzmotivik, mythische Handlungsmotivatoren etc.). Daran anknüpfend gilt auch für die ONAMA-Ontologie, dass der Fokus auf die Dinge natürlich nur eine mehrerer zentraler Säulen neben Figuren, Handlungen etc. sein kann. Es sei aber, mit Christ gesprochen, erneut die narrative Relevanz von Objekten betont, die unserer Meinung nach insbesondere für die qualitative Datenverarbeitung essenziell ist, um eine erschöpfende Modellierung von Narrativen gewährleisten zu können:“Eine Lektüre von den Dingen her soll indes nicht bedeuten, dass die handelnden Figuren in den Hintergrund treten. Vielmehr soll diese Lesart den Stellenwert von Dingen für Handlungssequenzen wie für die narratio verdeutlichen und alternative Textzugänge bieten, die in der (bloßen) Konzentration auf das Figurengefüge außer Acht geraten können.”
Im Unterschied zu den Narrativen in literarischen Texten des Mittelalters gibt es hinsichtlich der Erzählstrategien visueller Medien aus jener Epoche kaum systematische Analysen, die ergründen, welche Rolle die Dinge dabei einnehmen. Dies kann vor allem auf zwei Faktoren zurückgeführt werden: Zum einen werden dargestellte Dinge auf visuellen Medien des Mittelalters nach wie vor hauptsächlich unter dem Aspekt ihrer symbolischen Funktion analysiert (vor allem in der Nachfolge von Panofskys Modell des disguised symbolism) oder als „Lückenfüller“ für die Erschließung einer nur sehr fragmentarisch (archäologisch oder museal) überlieferten Objektwelt herangezogen.
Zum anderen wird generell vor allem in Bezug auf Einzelbilder noch immer diskutiert, ob diese überhaupt erzählen können – wie unter anderem aus einer 2020 erschienenen Publikation zum Thema Narrativität und Einzelbild hervorgeht. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt Lessings folgenschweres Diktum vom Gegensatzpaar der Malerei als Raumkunst bzw. Literatur als Zeitkunst und die Etablierung von narratologischen Modellen, die überwiegend auf der Basis von literarischen Texten den temporalen Kriterien den bedeutendsten Anteil für die Definition von Narrativität zusprechen. Die Arten und Formen narrativer Potenziale von visuellen Medien wurden dadurch oftmals erst gar nicht erhoben.Auch wenn hinsichtlich der mittelalterlichen Kunst die Etablierung einer medienspezifischen Narratologie mancherorts eingefordert wurde,
konnten diese Bestrebungen bis dato noch nicht eingelöst werden. Anhaltspunkte für die Frage, wie die visuellen Medien des Mittelalters erzählen, können unter anderem Wolfgang Kemps Studien zu Bildfolgen in der mittelalterlichen Glasmalerei und seine Untersuchungen zu den etablierten Erzählstrategien in den „Räumen der Maler“ des Spätmittelalters (und darüber hinaus) bieten, die von Wilfried Franzen herausgestellten Formen des Erzählens in Bildern sowie Christine Jacobs Studien zu den Raumerzählungen in den hagiographischen Bilderzyklen des Tre- und Quattrocento. In diesen genannten Studien und auch in kürzeren Beiträgen, wie etwa jenem von Klaus Niehr zu „Erzählebenen, Erzählformen, Erzählmotive im Bild“, spielen natürlich auch Dinge eine wesentliche Rolle in der Betrachtung, werden aber hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Funktionen, die sie für die Erzählstrategien einnehmen können, nicht systematisch untersucht.Im Rahmen der mediävistischen Text-Bild-Forschung
wurden die Relationen der beiden Medien in der jüngeren Vergangenheit neu bewertet und deren jeweilige eigenständige Erzähltechniken und Positionen zu einer Thematik, aber auch deren wechselseitige Beeinflussungen deutlicher herausgestellt. Dabei ist auch die Rolle, die Dinge in diesen Narrativen einnehmen können, mitunter berücksichtigt worden.Für Fragen der Modellierung von transmedialen Bausteinen von Narrativen in ONAMA war der Blick auf andere Projekte in den Digital Humanities von Relevanz. Verwandte Projekte zur formalen Modellierung von Narrativen berücksichtigen erzählte Dinge in unterschiedlichem Ausmaß. Die Art und Weise, wie Dinge in Ereignisse involviert sind – beispielsweise als Auslöser oder als Instrument –, wird aber in vergleichbaren Projekten ebensowenig modelliert wie Dingbeziehungen und -bedeutungen. Die von Khan u.a. am Beispiel von Homers Odyssee demonstrierte Ontologie ODY-ONT zur formalen Darstellung von Erzähltexten fokussiert etwa auf Events und daran beteiligte Protagonisten.
Hier gibt es Klassen für Personen, phantastische Wesen und Tiere sowie eine Unterscheidung in aktive und passive Beteiligung; über eine Erschließung von beteiligten materiellen Objekten wird bezeichnenderweise nichts ausgesagt, in der Klassenhierarchie sind Gegenstände nicht gesondert berücksichtigt. Im Projekt NBVT extrahiert ein „Narrative Building and Visualisation Tool“ automatisch diverse Entitäten, die mit einem abgefragten Thema – beispielsweise Dante Alighieri – in Zusammenhang stehen, aus Wikipedia- und Wikidata-Seiten. Die Entitäten werden gemäß der im Projekt entwickelten Ontologie kategorisiert, die unter anderm in Personen, Objekte und Werke unterscheidet. Beim Anlegen einzelner Events – etwa der Taufe von Dante im Florentiner Baptisterium – können dann Elemente aus diesem Pool zum Event hinzugefügt werden, wobei aber nur bei Personen die Art des Zusammenhangs über Rollen näher definiert wird. Die Erschließung von medial heterogenen Repositorien über Narrative hat auch das Projekt „Labyrinth“ zum Ziel. In der dort entwickelten Ontologie sind Stories sowie einzelne Actions oder Events mit Charakteren, aber auch mit Objekten verknüpfbar. In Ciottis auf literaturwissenschaftliche Analysen abzielendem Entwurf einer „Character Ontology“ dient die Klasse Object neben den Klassen Place, Quality, Action und Event hingegen dafür, stereotype Charaktere mit für sie typischen Attributen auszustatten und so primär Potenziale zu modellieren. Die Modellierung von Charakteren hat auch Zöllner-Webers „Figurenontologie“ zum Ziel: Objekte sind hier zwar nur als von Figurenhandlungen passiv betroffene Entitäten, aber doch vergleichsweise prominent platziert, denn Handlungen von Figuren werden nach den Kategorien act on object, act on subject und act on oneself unterteilt. Die Kategorien werden kombiniert, wenn Objekte in Interaktionen zwischen Personen eingebunden sind.An Object of Desire. Die Queste nach dem Goldenen Vlies
Um die Ontologie zu erproben, wurden exemplarisch Narrative von sowohl in der MHDBDB als auch in REALonline umfangreich vertretenen Themenstoffen aufgenommen. Ein Hauptaugenmerk lag dabei zunächst auf Narrativen der Argonautensage, die im Mittelalter bevorzugt im Kontext des Trojanischen Krieges tradiert wurde und die Abenteuer Jasons und der Argonauten auf ihrer Queste nach dem Goldenen Vlies facettenreich schildert, sowie auf ausgewählten Narrativen rund um die Belagerung und Einnahme Trojas.
Die dazu in ONAMA bislang erfassten Narrative in literarischen Realisierungen stammen aus zwei Antikenromanen, die in der MHDBDB vollständig und annotiert verfügbar sind: aus dem Liet von Troye
von Herbort von Fritzlâr einerseits und aus Der trojanische Krieg von Konrad von Würzburg andererseits. Im um 1190 verfassten Liet von Troye – der ersten deutschsprachigen Bearbeitung des Trojastoffes überhaupt – bezieht sich Herbort von Fritzlâr in extenso auf die um 1165 entstandene altfranzösische Estorie de Troie von Benoît de Sainte-Maure. Diese spielte – neben Ovids Metamorphosen, dem Excidium Troiae und der Ilias latina des Baebius Italicus – auch für Konrad von Würzburg eine zentrale Rolle, als er rund ein Jahrhundert später, in den 1280er Jahren, seine überaus umfangreiche und kunstvolle, wenn auch unvollendet gebliebene Darstellung des Trojanischen Krieges verfasste. Sowohl im Liet von Troye Herborts als auch im Trojanischen Krieg Konrads ist die Queste nach dem Goldenen Vlies ein Vorspiel zu den eigentlichen Kriegshandlungen um Troja.Die bildlichen Realisierungen von Narrativen der Argonautensage stammen aus dem prachtvollen Cod. 2773 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien149 Miniaturen von Martinus Opifex zur Verfügung.
, der um 1450 entstand und eine anonyme deutschsprachige Übertragung von Guido de Columnis Historia destructionis Troiae beinhaltet. Martinus Opifex, ein in Regensburg ansässiger Illuminator, setzte diesen Trojanischen Krieg dergestalt opulent und detailverliebt in zahlreichen Miniaturen in Szene, dass der Codex als „einzige deutsche Epenhandschrift des 15. Jahrhunderts […] in Anspruch und Reichtum mit den burgundischen Prachthandschriften konkurrieren kann.“ REALonline stellt aus dieser Bilderhandschrift insgesamtObjekte nehmen innerhalb der Argonautensage, kaum überraschend, zentrale Positionen sowohl innerhalb einzelner, als auch übergeordneter Narrative ein. Dabei kommt dem Goldenen Vlies des Widders Chrysomallos natürlich eine besonders herausragende Stellung als Ausgangspunkt der gesamten Sage zu; schließlich wird „Iasons Auszug in die Fremde mit der Heimholung des goldenen Vlieses des Phrixoswidders motiviert“
. So steht mit dem „Mythos vom wunderbaren Widder und seinem goldenen Vlies, uralten Symbolen des Kostbarsten, was der Mensch gewinnen kann“ ein Gegenstand der Begierde als Handlungsmotivator am Anfang der Argonautensage, die bereits in der Antike reich tradiert wurde. Freilich will Pelias, der König von Iolkos, seinen Neffen Jason mit dem Auftrag der Heimholung des Goldenen Vlieses verderben, indem er ihn auf eine gefährliche Reise, vermeintlich ohne Wiederkehr, schickt.Behält man diesen Umstand präsent, wirkt das Goldene Vlies als handlungsmotivierendes Primärobjekt in allen Narrativen der Argonautensage mit Bezug auf die Queste im Hintergrund mit, wenngleich es auch nur in einer verhältnismäßig kleinen Anzahl an Narrativen in expliziter Weise vorkommt beziehungsweise angesprochen wird. ONAMA trägt diesem Umstand Rechnung, indem es durch die Anlage von über- bzw. untergeordneten Narrativen auf der Konzeptebene hierarchische Bezüge nachvollziehbar macht (vgl. Abb. 1): So verbindet die Kante |broader| ein Konzept eines Narrativs mit übergeordneten Konzepten; während umgekehrt |narrower| ein Narrativ-Konzept mit einem weiteren Narrativ-Konzept, das als Teil des ersten betrachtet werden kann, in Relation setzt (Abb. 4):
Die schematische Darstellung zeigt, wie das Konzept Jason rüstet sich für den Zweikampf durch |broader| mit Jasons Aufgaben zur Erringung des Goldenen Vlieses und – diesem wiederum übergeordnet – mit Argonauten in Kolchis verbunden ist, welche ihrerseits mit |broader| auf das Konzept Geschichte der Argonauten: Suche nach dem Goldenen Vlies verweisen. Durch diese hierarchisch angelegten Bezüge wird die Bedeutung des Objekts Goldenes Vlies für die gesamte Erzählung offenkundig.
Die Darstellung von Jasons Gewinn – oder vielmehr Raub – des Goldenen Vlieses aus dem heiligen Hain des Ares, wo es auf einer geweihten Eiche hängend von einem Drachen bewacht wird, differiert in den einzelnen Realisierungen. Während in manchen antiken Bearbeitungen
die Argonauten den heroischen Taten des Jason – der Bezwingung der feuerspeienden Stiere, ihrem Einschirren an den Pflug und dem Kampf gegen die aus den Zähnen des Kadmosdrachen hervorwachsenden chtonischen Erdmenschen – beiwohnen und selbst Aietes Zeuge dieser Handlungen wird, wie bei Apollonios von Rhodos , in dessen Argonautika zudem Medea heimlich Jason in den heiligen Hain geleitet, die Schlange mit Zaubermitteln einschläfert und es so dem Sohn des Aeson ermöglicht, das Vlies von der Eiche zu holen , gehen die mittelalterlichen Bearbeitungen des Argonautenstoffes andere Wege. Diese sind in ONAMA auf Ebene der Realisierungen gut nachvollziehbar sowohl hinsichtlich der einzelnen Narrative als auch in Bezug auf deren Abfolge in den Texten und Miniaturen durch deren Vernetzung mit den Kanten |previous| und |next|.Herbort von Fritzlâr situiert das Aresfeld unweit der kolchischen Hauptstadt Iaconites und die Argonauten sind Augenzeugen der Bewährungsproben Jasons, die hier lediglich die Tötung des Drachen und dieser nachgereiht – in einem einzigen Vers – die Tötung der Stiere umfassen.TRY Jason rüstet sich für den Zweikampf > |next| > TRY Argonauten begleiten Jason zum Drachenfeld > |next| > TRY Jason geht zum Drachen auf dem Feld > |next| > TRY Jason kämpft mit dem Drachen > |next| > TRY Drache speit Feuer > |next| > TRY Magischer Ring, Blatt mit Zauberspruch und magische Salbe schützen Jason > |next| > TRY Jason verletzt den Drachen > |next| > TRY Jason tötet den Drachen mit dem Schwert > |next| > TRY Jason tötet die Ochsen > |next| > TRY Jason nimmt das Goldene Vlies > … .
Ausschnitthaft gestaltet sich diese Narrativabfolge im Liet von Troye wie folgt: … >Konrad von Würzburg verortet, Benoît de Sainte-Maure folgend, den heiligen Hain des Ares auf einer einsamer Insel, zu der Jason alleine fährt, und berichtet von der Zähmung der Ochsen, der Tötung des Drachen und dieser Tat nachgestellt von den aus dem Drachenmaul herausgeschlagenen Zähnen heranwachsenden Rittern und deren Überwältigung.
Der Phrixoswidder selbst weilt bei Konrad munter auf einer zauberhaften Wiese und überlässt Jason bereitwillig seine goldene Wolle. Bei Herbort, bei Guido de Columnis und auch bei Konrad muss Medea zu Hause im Palast verweilen und der Rückkehr des holden Helden harren, nachdem sie ihm heimlich lebenserhaltende Hilfsmittel, ‚needful things‘ im eigentlichsten Sinne, zur Bewältigung der eigentlich unbewältigbaren Athla, offeriert hat. So ermöglichen beispielsweise bei Konrad ein Zauberring zur Tarnung, eine feuerbeständige Zaubersalbe, Leim zum Verkleben der Nüstern der Feuerochsen, ein schützendes Jupiteridol sowie Zaubersprüche das Überleben Jasons. Betrachtet man das Goldene Vlies als Primärobjekt der gesamten Queste, können diese Zaubermittel als Sekundärobjekte in Bezug auf das Gesamtnarrativ angesehen werden, weil sie – ebenso wie die Argo auch – für die Erlangung des Primärobjekts unabdingbar sind.ONAMA bietet zudem die Möglichkeit, in nuancierter Weise auf diverse Handlungsstränge beziehungsweise Narrative zu schauen, auch wenn sie in einer Realisierung vermeintlich eher im Hintergrund passieren und die ‚Haupthandlung‘ ergänzen. Diese Gewichtung wird in den Verbindungen zwischen Narrativkonzepten und Narrativrealisierungen erfasst. Konzept und Realisierung sind in diesen Fällen mit der Property |isRealisedAsSupplementaryNarrativeBy| und umgekehrt mit |realisesAsSupplementaryNarrative| verbunden. Ein Beispiel soll dies illustrieren:
Auf der Miniatur auf fol. 20r des Cod. 2773 (Abb. 5) – die Seite trägt die rubrizierte Überschrift Hie virt Iaſon in die kleinen Innſeln nach dem ſchatzeRO 006368 Jason rudert zur Insel des Goldenen Vlieses. Der Maler reichert aber die Abreise Jasons gekonnt an und verstärkt die Intensität des Geschilderten, indem er zum einen eine Gruppe von fünf Menschen, umringt von Hunden, in der Bildmitte am Strand stehend positioniert – unter ihnen ist Herakles durch seinen blauen Mantel und die Haartracht identifizierbar. Zum anderen zeigt er am obersten linken Bildrand Medea in Iaconites auf einem Turm, wie sie Jason nachblickt. Letztere Narrativrealisierung RO 006368 Medea beobachtet den abreisenden Jason von einem Turm aus verweist mit der Kante |realisesAsSupplementaryNarrative| auf Medea beobachtet den abreisenden Jason von einem Turm aus, welches als ergänzendes Konzept mit der Haupthandlung Jason reist zur Insel des Goldenen Vlieses verbunden ist.
– inszeniert Martinus Opifex den auch im Text geschilderten alleinigen Aufbruch des Jason zum Aresfeld in einem Boot: der Aisonide paddelt bereits im rechten obersten Bilddrittel im Meer. ONAMA erfasst diese Realisierung mit:Transpor-tier-en: Dinge in Narrativen rund um ‚animalische Lieferdienste‘
Den zweiten Schwerpunkt im Beispielkorpus für ONAMA haben wir auf Narrative gelegt, die um das Thema kämpferisch beziehungsweise zahm agierender wilder Tiere oder Fabelwesen kreisen. In diesem Abschnitt möchten wir nun anhand einer Abfrage zeigen, in welchen Narrativen Tiere einer Person Dinge herbei bringen, welche Bedeutungen den Objekten in diesen Narrativen zukommen, wie sie durch die Annotation mit ONAMA untersucht werden können und welche Funktion dabei die semantischen Rollen (vgl. Abb. 2) einnehmen.
In einer Graphvisualisierung zu dieser Abfrage ist im Zentrum der |verb|-Knoten „bring“ zu sehen. Damit sind jeweils über den Knoten |action| Konzepte oder Realisierungen von Narrativen verbunden, in denen „bringen“ als Handlung vorkommt und mit denen wiederum über die Kante |has semantic role| eine |Agent Role| in Beziehung steht, die von einem Tier besetzt wird. Durch die Annotation mit semantischen Rollen können nun ganz konkrete Konfigurationen von Narrativ-Elementen gesucht werden: Wir wollen mit dieser Abfrage etwa keine Konzepte oder Realisierungen finden, bei denen z.B. Tieren von einer handelnden Figur Futter gebracht wird – in diesem Fall wäre im ONAMA-Korpus dem Tier die semantische Rolle |Benefactive Role| und der Person |Agent Role| zugeordnet – oder in denen etwa eine Person ein Tier – beispielsweise einen besonderen Jagdhund – einer anderen Person (z.B. als Geschenk) bringt. Auch wenn wir uns, wo sinnvoll, bei der Modellierung von ONAMA an der im Bereich des Kulturerbes genutzten Top-Level-Ontologie CIDOC-CRM orientiert haben und auf diese referenzieren, zeigt das Beispiel bereits, warum für die Annotation von Narrativen eine eigene Ontologie notwendig war: Tiere können gemäß CIDOC-CRM-Modell nicht als handelnde Akteure erfasst werden.
Zur Beantwortung der Frage nach der Rolle der Dinge in den Narrativen in der vorgenannten Abfrage kann in einem weiteren Schritt ausgegeben werden, welche semantischen Rollen von Entitäten der Klasse |Thing| besetzt werden. Dabei stößt man auch auf die Dinge, die von den Tieren überbracht werden. Sie sind alle unter |Theme Role| – der Rolle für die Entität, die durch den vom Prädikat benannten Vorgang entweder räumlich bewegt oder räumlich eingeordnet wird – erfasst. Hier reicht die Palette im aktuellen Korpus von Hostien, rituellen Opfergaben, Briefen bis hin zu Nahrung oder Salböl. Anhand der Referenzen zu den Wikidata-Einträgen (siehe im Detail dazu im Abschnitt „Vernetzung: ONAMA und Linked Open Data“ weiter unten) ist es möglich, die überbrachten Dinge auch nach übergeordneten Kategorien (z.B. „rite“, „religious practice“ etc.) ausgeben zu lassen und so Muster von Arten solcher Dinge in größeren Datenmengen auszumachen. Sie können in weiterer Folge zu neuen Fragestellungen führen oder den Ausgangspunkt für Forschungsthemen im Rahmen eines Close Reading-Ansatzes bilden.
In unserem Abfragebeispiel treten Dinge weiters als Repräsentanten eines bestimmten Ortes auf. Mit der semantischen Rolle |Place Role| wurden dabei unter anderem Dinge wie ein Thron oder ein Altar annotiert, wenn diesen eine nähere Bestimmung des Handlungsorts im textuellen oder bildlichen Narrativ zukommt. So sind etwa in der bildlichen Realisierung RO 000742 Rabe bringt Chrisam und Brief für die Krönung des Hl. Oswald (Abb. 6) diese beiden Objekte als bedeutende Settingangaben verzeichnet.
Wie in der Graphvisualisierung des Abfrageergebnisses ersichtlich, ist mit der Entität „Altar“ aber auch die Verbindung zu einem weiteren Narrativ hergestellt, in dem ein Tier einer Person etwas bringt und in welchem ein Altar eine andere Rolle, nämlich |Goal Role| – also ein explizites Ziel einer Handlung – einnimmt. Hier wird durch einen Adler die Opfergabe an den Altar der Griechen gebracht, worauf auch in der Bildüberschrift explizit verwiesen wird: Hie bringet der adlar daz genommen opfer den kriechen auf ire altar.
Diese bildliche Realisierung (Abb. 7) stammt aus der bereits erwähnten Übersetzung der Historia destructionis Troiae (ÖNB Wien, Cod. 2773, fol. 206r).Lässt man sich im ONAMA-Korpus ausgeben, welche anderen |Goal Role|s es in Realisierungen des übergeordneten Konzepts Adler bringt den Griechen geraubtes Opfer der Trojaner gibt, stößt man bei jener der Fortsetzung zum Trojanischen Krieg des Konrad von Würzburg, die um oder nach 1300 entstanden ist, auf ein anderes Objekt, das als Ziel des Adlers, der die Opfergabe bringt, annotiert ist: nämlich auf ein Schiff. Diese über die Annotation mit ONAMA detektierbare Diskrepanz zwischen den unterschiedlichen Realisierungen in Text und Bild ist auch in der Handschrift mit der Guido de Columnis-Übersetzung enthalten: Auch hier lässt im Text der Raubvogel die wertvolle und in weiterer Folge auch symbolische Fracht auf die Schiffe der Griechen fallen. In der Miniatur der Handschrift wurde dagegen mit dem Objekt „Altar“ in Kombination mit den damit in Verbindung zu bringenden Handlungen und den Reaktionen der umstehenden Personen darauf eine sehr eingängige Bildformel geschaffen: Teil dieser Erzählstrategie im Bild ist nämlich die auf der vorhergehenden gegenüberliegenden Seite platzierte Miniatur (Abb. 8), die in der Bildüberschrift ebenfalls explizit auf den Altar und die Handlung des Tieres verweist: Hie entfurt der adlar den Troianern daz opfer von dem altar.
Die Miniaturen der Doppelseite machen anhand eines scheinbar unmittelbar aufeinander folgenden Geschehens den Verlauf der Geschichte eindrücklich nachvollziehbar. In beiden Settings – einmal im Tempel, einmal in einer ufernahen Landschaft – ist das zentrale Element der Altar. Im einen Fall entfernt sich der Adler mit dem Opfer in den Krallen vom nunmehr leeren Altar, auf dem nur noch Rauch zu sehen ist. Im anderen Fall ist er im Begriff, seine Beute an der Feuerstelle am Altar abzulegen. Die Verkürzung der Abfolge im Bild wird zugunsten der Eingängigkeit – nicht zuletzt, weil dadurch symbolisch bereits vermittelt wird, wer den Sieg im Kampf um Troja davontragen wird – in Kauf genommen.
Natürlich können auch Gegenstände, die in Bildern aufscheinen, ohne in irgendein direkt dargestelltes physisches – oder psychisches – Geschehen verwoben zu sein, auf Handlungen oder Vorgänge verweisen. Diese liegen, von dem im Bild repräsentierten Zeitpunkt (oder Zeitpunkten) aus gesehen, entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft.
Durch ihren bildlich wiedergegebenen Zustand, ihre Beschaffenheit, ihre Lokalisierung in Bezug auf Akteur*innen und den Bildraum oder durch ihre bloße Präsenz können solche dargestellten Dinge Marker für außerhalb des Bildes liegende Geschehnisse sein. In unserem Beispiel ist der Adler im Flug wiedergegeben; ‚Momentaufnahmen‘ von Vorgängen stellen daneben ebenso die von der Feuerstelle am Altar aufsteigenden Rauchschwaden (ein physikalischer Vorgang, ausgelöst durch göttliches Einwirken) wie die Gesten der erschrockenen Trojaner und der auf die Buchseiten geheftete Blick des Geistlichen dar. Für die Bilderzählung wichtig ist aber auch das im Vordergrund am Tempelboden aufgehäufte Gold. Die Trojaner sammeln Güter zur Übergabe an die Griechen – im Glauben, sich damit den Frieden sichern zu können (im Text: Gold, Silber und Getreide). In der Miniatur liegt das angehäufte Gold quasi als Ergebnis (oder Zwischenergebnis) dieser Handlungseinheit – dieses Narrativs – da, auch wenn es nur mit Textkenntnis dahingehend einordenbar ist. Wie können solche Elemente der Bilderzählung, die eigentlich Zustände als Folge von Handlungen wiedergeben, im handlungsorientierten Modell ONAMA erfasst werden? Die Trennung von Narrativen in Konzepte und Realisierungen ermöglicht die Erfassung der Handlung als Konzept („Trojaner sammeln Gold, Silber und Getreide im Minervatempel“). Visuelle Realisierungen können in solchen Fällen von Objekten, die schlicht durch ihr Vorhandensein irgendwo im Bildraum auf Ereignisse hinweisen, mit Hilfe der beiden semantischen Rollen |Theme Role| und |Localisation Role| angelegt werden: „Gold (theme) befindet sich am Tempelboden (localisation)“.Ein vergleichbares Objekt ist in der Miniatur auf fol. 200v. zu finden, die Antenors Aussendung als Botschafter für Friedensverhandlungen mit den Griechen zeigt – die jener lediglich als Vorwand nutzt, um Troja zu verraten (Abb. 9). Antenor (violett gekleidet) befindet sich bereits im Gespräch mit Diomedes und Agamemnon.
Der Text lässt – etwa im Unterschied zu den ausdrücklich benannten Olivenzweigen, die im Hintergrund der Miniatur zu sehen sind – einen gewissen Spielraum dafür offen, auf welche Weise der Trojaner gerade zuvor überhaupt zu den Belagerern gelangt ist: Darumb sie den Anthenorem von den mawren haben gelassen.
Über die visuelle Realisierung bekommen wir einen Einblick, wie sich der Miniator in der Mitte des 15. Jahrhunderts den Vorgang konkret vorgestellt hat: nämlich als einen geflochtenen Weidenkorb, der an einem Strick von der trojanischen Stadtmauer hinabgelassen wird. Dieses durch seine Materialität, Farbigkeit und relativ mittige Positionierung betonte Objekt macht nicht nur diese Vorstellung überhaupt erst greifbar, es ist auch ein Indikator für ein Geschehnis im Bild und dessen Stellung in der Erzählabfolge: Erst gibt es die Friedenszeichen in Form von Olivenzweigen, dann wird Antenor die Mauer hinabgelassen und schließlich kommt es zu dem Gespräch mit Diomedes und Agamemnon. Ähnlich wie bei dem aufgehäuften Gold auf fol. 205v (Abb. 8) nimmt der leere Korb also die Rolle des Stellvertreters für eine bereits abgeschlossene Handlungseinheit ein. Im Unterschied zu dem Gold ist aber vermutlich selbst für Betrachter*innen ohne ausreichende Textkenntnis aus der Alltagserfahrung deutlich, dass etwas oder jemand über die Mauer herabgelassen wurde. Auch hier kann in ONAMA das Hinablassen Antenors von der Stadtmauer als Narrativ-Konzept angegeben und der leere Korb als visuelle Realisierung dieses Konzepts modelliert werden – erst mit einer solchen Vorgehensweise können die Funktionen von Dingen in den Erzählstrategien von Text und Bild adäquat analysiert werden.Modellierung narrativer Funktionen von Dingen und Akteuren
In falschen Händen: Das trojanische Palladion
Ein besonderes Ding aus dem Troja-Stoffkreis, an dem sich die Auszeichnung von Objekten mit narrativen Funktionen in ONAMA zeigen lässt, ist das Palladion. Es handelt sich um ein aus Holz gefertigtes, portables heiliges Objekt von göttlicher Provenienz, das Troja uneinnehmbar macht, solange es sich in der Stadt befindet.fol. 17r) oder die Griechen und Trojaner den (vorgeblichen) Frieden schwören (fol. 207r).
Es ist oder trägt ein Abbild der bewaffneten Göttin Athene. In den Miniaturen des Cod. 2773 ist das Palladion dagegen als augenscheinlich ‚einfache‘ – reduziert gestaltete, nackte – anthropomorphe Plastik dargestellt (fol. 204v und 215v) (Abb. 10 und 13) und ähnelt jenen Götterbildern, die berührt werden, wenn Jason Medea ewige Treue schwört (Das Palladion ist mit dem Trojanischen Pferd verknüpft: Einmal muss es aus der Stadt entfernt werden, damit deren Einnahme mithilfe des Pferdes überhaupt möglich wird. Dieser Raub des Palladion erfolgt in den im ONAMA-Fallstudienkorpus enthaltenen Texten und Bildern mit der Hilfe des trojanischen Fürsten Antenor, der in verräterischer Absicht im Tempel die Herausgabe des Heiligtums erwirkt und dieses den Griechen übermittelt.
Die nunmehrige Absenz des Palladion dient weiterhin als wirksames Argument, warum das Trojanische Pferd überhaupt in die Stadt gebracht werden sollte: Bei Guido de Columnis geben die Griechen vor, Pallas solle durch das Geschenk für den Diebstahl des Palladion entschädigt werden, damit sie sicher heimreisen könnten. Auch in Herbort von Fritzlârs Liet von Troye wird das Trojanische Pferd vom Priester Chryses als Sühnegeschenk angeboten – denn das Palladion sei verloren. Das fatale Geschenk ist bekanntermaßen schließlich so konstruiert bzw. dimensioniert, dass es bei den Trojanern zur Autodestruktion führt: Die eigene Stadtmauer wird eingerissen (Abb. 11).Sowohl die Historia destructionis Troiae als auch Herbort von Fritzlâr und die Trojanerkrieg-Fortsetzung berichten von dem Streit um das Palladion, der sich nach der Zerstörung Trojas zwischen den Griechen entwickelt.
Aiax Telamonius reklamiert die wertvolle Beute für sich und erntet heftigen Widerspruch von anderen Bewerbern. Wenn in der Historia destructionis Troiae Aiax Telamonius und Ulixes vielfache Argumente ins Treffen führen, warum sie jeweils für die Eroberung Trojas federführend verantwortlich wären und deshalb Anspruch auf das Palladion hätten, wird deutlich, dass das Palladion, obwohl bereits vor der finalen kriegerischen Auseinandersetzung und Zerstörung der Stadt durch Hinterlist angeeignet, als Trophäe verhandelt wird: als Siegeszeichen; als Gedächtniszeichen, das den Sieg über Troja verewigt. Auf die Verewigung kommt Aiax Telamonius selbst zu sprechen, indem er einen immerwährenden Schandfleck auf dem Ruf der Griechen attestiert, sofern der Sieg über die Trojaner Ulixes und somit dessen wortreich verwirklichten Täuschungsmanövern zugesprochen werde.Trophäen sind jedoch nicht bloß nach außen wirksame Zeichen der Macht, deren aufwertendes Potenzial von sozialer Bestätigung abhängig ist. Die Vorstellung besteht hier vielmehr darin, dass sie die Macht des überwundenen Gegners substanziell in sich tragen, wodurch sich diese bei Einverleibung der Trophäe auf den neuen Besitzer überträgt.
Aufgrund dieser im Objekt liegenden Potenz wohnt Trophäen „per se ein mehr oder weniger kompetitives, d.h. wechselnde Begehrlichkeiten weckendes Element inne“. Das geraubte Palladion löst einen Streit aus, der im Mord an Aiax Telamonius und der anschließenden nächtlichen Flucht des Ulixes gipfelt, der des Mordes verdächtigt wird. Das Bild der Auffindung des ermordeten Aiax Telamonius am Morgen nach dem Streit und der Entscheidung zugunsten von Ulixes auf fol. 215r des Cod. 2773 (Abb. 12) mit der Bildlegende Hie ist der Thelomonius in seinem pette erslagen zeigt den Leichnam nicht eigentlich zerstückelt, wie es der Text berichtet, sondern es ist als einziger abgetrennter Körperteil ein Arm dargestellt. Ausgerechnet die Hand wurde jenem, der das begehrte Objekt ‚loslassen‘ musste, in einer Geste des Triumphs und der Demütigung abgeschlagen und auf den Boden geworfen. Beide Protagonisten, die sich das Palladion aneignen wollen, kommen mehr oder weniger gravierend zu Schaden. Das Palladion verschwindet damit wieder aus der Erzählung. In der Miniatur auf fol. 215v, die Ulixes’ Flucht zeigt, blickt Diomedes vom Ufer aus dem abreisenden Ulixes nach und hält das Palladion, das ihm Ulixes überlassen hat, ‚in Blickrichtung‘ (Abb. 13).Allgemeine und situationsspezifische Funktionen von Dingen und Akteuren
Trophäe kann ein Objekt definitionsgemäß nicht vom Beginn seiner Existenz an sein: „Ich kann das Siegeszeichen nicht erschaffen, ich muss es übernehmen.“
Dingbeziehungen können permanent oder temporär bzw. überhaupt nur situationsspezifisch zutreffend sein – in konkreten Narrativen freilich auch, wenn eine solche Einschränkung nicht bereits in der Art der Beziehung selbst angelegt ist. Ein Ding kann für unterschiedliche Figuren, aber auch für dieselbe Figur zu verschiedenen Zeitpunkten etwas Unterschiedliches bedeuten. In ONAMA können solche Dingbeziehungen oder ‑bedeutungen einerseits als |Entity Function|s an den Datensatz des Objektes angefügt werden. Andererseits können Funktionen situationsspezifisch aufgenommen werden, also auf der Ebene einzelner ONAMA-Narrative (Narrativ-Konzepte oder Narrativ-Realisierungen). Das geschieht, indem die jeweilige Funktion an den |Semantic Role|-Knoten angefügt wird (Abb. 14). Die Funktion „heiliges Objekt“ oder auch „Talisman“ kann also dem Item „Palladion“ generell zugewiesen werden, während die Funktion „Trophäe“ beispielsweise im Narrativ „Aiax Telamonius fordert das Palladion für sich“ und den nachfolgenden Narrativen für das Palladion gelten kann. Im Projekt ist die Auszeichnung auf der Ebene der Konzepte vorgesehen.
Dieselbe Klasse |Entity Function| wird für Rollen von Akteuren verwendet. Bestimmte wiederkehrende Rollen, die Personen, aber auch Tiere, Fabelwesen und andere übernatürliche Wesen – sie alle sind in ONAMA Subklassen der Klasse |Actor| – in den Geschichten einnehmen, können als Funktionen diesen Akteuren entweder generell oder situationsspezifisch zugewiesen werden. Das verwendete Vokabular wird im Zuge der Aufnahme von Narrativen aufgebaut und lehnt sich an bestehende Konzepte an, wie etwa die sieben Figurentypen, die Vladimir Propp für die Gattung der Zaubermärchen identifizierte (Held, Gegenspieler, Schenker, Helfer, Königstochter, Sender, falscher Held).
Sie können aufgrund dieser Spezialisierung nur als ein grundsätzlicher Anhaltspunkt dienen. Ein weiterer Orientierungspunkt sind die Rollen und Typen, die sich im Motif Index of German Secular Narratives finden. Die Liste der bisher in Kombination mit Akteur*innen verwendeten Funktionen umfasst unter anderem die Begriffe: Held*in, Heilige*r, Helfer*in, Liebende*r, Geliebte*r, abgewiesene*r Liebhaber*in, Gegenspieler*in, übermächtige*r Gegner*in, Wächter*in, Berater*in, Bote/Botin, Komplize/Komplizin, Herrscher*in.Funktionen von Dingen und von Akteuren werden in ONAMA bewusst mit derselben Klasse und Property modelliert – schließlich gibt es hier durchaus Überschneidungen. Tiere gelten in ONAMA als Akteure, die in Narrativen zweifellos entsprechende Rollen einnehmen können – beispielsweise jene des Helfers, wenn man nur an die oben genannten Beispiele aus Heiligenlegenden denkt. Wenn im Trojanischen Krieg Diomedes das Pferd seines Rivalen Troilus, den er im Kampf von selbigem heruntergestoßen hat, zu Briseida bringen lässt, hat dieses hingegen die Funktion einer Trophäe,
die häufig – wie oben – auch materiellen Objekten zufällt. Umgekehrt können erzählte bzw. im Bild geschilderte Dinge, auch wenn sie nicht als ihrer selbst bewusste Subjekte gezeichnet sind, unter Umständen Funktionen ausfüllen, die sonst von lebendigen Protagonisten besetzt werden – beispielsweise jene des Gegenspielers, wenn sie sich sperrig, widerständig oder gar eigensinnig verhalten, wie schon öfter gezeigt wurde.Vernetzung: ONAMA und Linked Open Data
Die zwei bereits vorgestellten Beispielkorpora sind über das Semantic Web in vielfältiger Weise mit einer Vielzahl weiterer Projekte verbunden. Eine vergleichbare semantische Erschließung von Bildern und deren Verknüpfung mit Normdaten ist auch von Laura Hollink und weiteren vorgeschlagen worden,Wordnet und Iconclass vernetzt. Demgegenüber ist die ONAMA-Ontologie durch die Vielzahl an zur Verfügung stehenden semantischen Rollen ausdifferenzierter und in ihrer Anwendung nicht auf einen Medientyp festgelegt. Explizit eingetragen werden in den ONAMA-Objekten Verweise auf Iconclass, ein System zur Erschließung von Bildinhalten, und auf Wikidata, einer gemeinschaftlich bearbeiteten Wissensdatenbank. Beide Datenbanken werden international von Institutionen wie Archiven und Bibliotheken und Forschungsprojekten genutzt, sodass ONAMA auch mit diesen Datenbeständen implizit verbunden wird.
was aber von der Forschung nicht umfänglich aufgegriffen wurde. Mit einem Vokabular aus ‚Agent‘, ‚Action‘, ‚Recipient‘ und ‚Object‘ werden im von Hollink et.al. vorgestellten Prototypen dargestellte Handlungen beschrieben und unter anderem mitDas Klassifizierungssystem Iconclass organisiert über 28.000 Bildthemen in zehn Hauptkategorien und einer Vielzahl hierarchisch angeordneter und beliebig tief geschachtelter Unterkategorien. Näher beschrieben werden die einzelnen Bildthemen durch eine Verschlagwortung, in der sich auch Dingliches finden lässt. Beispielsweise sind die Bildthemen der Argonautensage mit dem Schlagwort ‚Goldenes Vlies‘ verbunden. Über eine kombinierte Abfrage können alle Narrative in ONAMA ermittelt werden, die auf Iconclass-Themen verweisen, deren Schlagwortlisten das für die Argonautensage zentrale Objekt ‚Goldenes Vlies‘ enthalten:
Iconclass | Beschreibung (Zitate Iconclass) |
94A | „die Geschichte von den Argonauten: die Suche nach dem Goldenen Vlies“ |
94A1 | „Jason, der Sohn des Aeson, in Iolcus“ |
94A2 | „die Argo wird (manchmal mit Hilfe Minervas) gebaut“ |
94A22 | „die Argonauten versammeln sich; Reisevorbereitungen“ |
94A23 | „die Argo sticht in See“ |
94A3 | „die Abenteuer der Argonauten auf ihrer Reise nach Colchis“ |
94A4 | „die Argonauten in Kolchis“ |
94A41 | „Jason und die Argonauten treffen Aietes, den König von Colchis“ |
94A42 | „die Begegnung Jasons mit Medea: sie verliebt sich sofort in ihn; zusätzlich kann Cupido dargestellt sein, der einen Pfeil auf Medea schießt“ |
94A43 | „Jason und Medea am Altar der Hecate (oder Diana): Medea gibt ihm ein magisches Kraut oder eine Salbe“ |
94A44 | „Jason spannt die feuerspeienden Stiere vor den Pflug“ |
94A45 | „nach dem Pflügen sät Jason Drachenzähne; bewaffnete Männer erscheinen“ |
94A46 | „der Kampf mit dem Drachen: Jason sprüht eine Droge in seine Augen; zusätzlich kann Medea als Helferin dargestellt sein“ |
94A47 | „die Argonauten und Medea gehen an Bord; sie werden von den Colchiern verfolgt“ |
94A5 | „die Rückreise der Argonauten von Colchis“ |
94A6 | „Jason kehrt nach Iolcus zurück“ |
Die so ermittelte Liste ermöglicht die Suchen in anderen Datenbeständen, die ebenfalls auf Iconclass bezogen sind. Mit Iconclass-Bildthemen verbunden ist etwa die Datenbank des RKD, des Nederlands Instituut voor Kunstgeschiedenis. Zu den zahlreichen Darstellungen dieser Bildthemen dort gehört der Bau der Argo des niederländischen Malers Antoon Derkinderen, verbunden mit dem Iconclass-Bildthema 94A2. Auch in weiteren Repositorien lassen sich mit Hilfe dieses Bildthemas ähnliche Darstellungen finden. Als weiteres Beispiel kann das Donatello oder Bertoldo di Giovanni zugeschriebene Flachrelief Minerva und Argus beim Bau der Argo dienen, das der Bildindex der Kunst und Architektur listet.
Die Verbindung von ONAMA-Konzepten und -Realisierungen zu Iconclass ermöglicht in erster Linie, verwandte Bildquellen in Bildarchiven zu recherchieren. Über die Verschlagwortung der Bildthemen in Iconclass können aber auch Objekte in verbundenen Bildthemen aufgezeigt werden.
Ausführlichere Recherchen erlauben die Verbindungen von ONAMA hin zu Wikidata. Über die Zugehörigkeit zu Oberkategorien in Wikidata können etwa alle in den ONAMA-Datensätzen vorhandenen Möbel abgefragt werden:
‚Altar‘, ‚Bank‘, ‚Bett‘, ‚Thron‘, ‚Tisch‘, ‚Truhe‘.
Somit wird es ermöglicht, die semantischen Rollen von Möbelstücken in Narrativen zu untersuchen, obwohl eine entsprechende Oberklasse nicht in den ONAMA-Daten angelegt worden ist. Auch die bereits erwähnten ‚needful things‘, die Medea Jason überreicht, lassen sich über den Zusammenhang der in ONAMA angelegten Gegenstände über Oberkategorien von Wikidata aufspüren: Die meisten davon sind über die Verbindung zu Wikidata mit der dortigen Kategorie ‚Magisches Objekt‘ verbunden. In den verbundenen Narrativkonzepten in ONAMA werden die Fähigkeiten der Gegenstände für ihre Träger ersichtlich: Sie sind in der Rolle Agent, während ihre Träger die Rolle Patient ausfüllen. Der magische Ring stärkt Jason und macht ihn unsichtbar, um im Kampf mit dem Drachen bestehen zu können. Medeas Zaubersalbe hingegen schützt ihn vor dem Feueratem der Stiere.
Selbstverständlich ist das Einbeziehen der Daten von Wikidata nicht auf Objekte beschränkt. Informationen zu in Narrativen handelnden Personen werden durch einen Bezug auf Normdaten auf vielfältige Weise ergänzt. So wird die Suche nach handelnden Heldinnen möglich, da über Wikidata auch das Geschlecht einer Person abfragbar ist. Die Erschließungstiefe geht damit weit über das hinaus, was in einem Einzelprojekt geleistet werden kann. Den ‚needful things‘ in ONAMA werden so eine Vielzahl von ‚needful relations‘ zur Seite gestellt.
Zusammenschau und Ausblick
Wie gezeigt werden konnte, spielen Dinge per se eine wesentliche Rolle für die Konzeption sowie die Rezeption von Narrativen in den literarischen und visuellen Medien des Mittelalters. ‚Needful things‘ sind in diesem Sinne also nicht nur Primärobjekte, also Dinge mit zentralen Aufgaben für die Erzählung, sondern auch jene, deren Bedeutung erst durch detaillierte Analysen der Muster und Besonderheiten von Konfigurationen, Rollen und Funktionen narrativer Bausteine herausgestellt werden kann. In beiden Fällen bietet die im Projekt ONAMA entwickelte Ontologie viele Möglichkeiten, die Signifikanz von Dingen in den Erzählstrategien mit digitalen Technologien zu untersuchen.
So können beispielsweise Handlungsmotivatoren genauer in den Blick genommen werden. Ohne den Ring der Nibelungen als ein „Ding der Macht“
sähe die bekannte Geschichte um Herrschaft und Machtausübung gänzlich anders aus; ohne das Palladion wäre Troja nie der Nimbus der Uneinnehmbarkeit zugeschrieben worden; ohne das Goldene Vlies wäre Jasons Reise vielleicht nur eine belanglose Spritztour – noch dazu ohne Argo – gewesen. All diese bedeutsamen Gegenstände sind zum einen geprägt von der bemerkenswerten narrativen Plastizität historischer Topoi, zum anderen freilich schlichtweg unerlässlich für handlungsrelevante Zustandsänderungen. Aber wie explizit kommen diese Handlungsmotivatoren vor? Wo sind Abweichungen in der Darstellung in den unterschiedlichen Realisierungen – gegebenenfalls auch in verschiedenen Medien – zu beobachten? Wo werden den handlungsmotivierenden Objekten allgemeine, wo situationsspezifische Funktionen zugeschrieben? Inwiefern werden sie durch weitere Dinge in ‚Nebenhandlungen‘ konturiert und welche ‚Sekundärobjekte‘ sind von Bedeutung? In den Abschnitten zum Goldenen Vlies und zum Palladion haben wir gezeigt, wie solche Fragen mithilfe von ONAMA analysiert werden können.Was aber ist mit den anderen, vordergründig ‚unbedeutenderen‘ Dingen, die oftmals ‚nur‘ dem Setting, der bloßen ästhetischen Ausstaffage zugeschrieben werden? Unsere Antwort lautet: Wir brauchen sie genauso, um Narrative in einen bild- und wortsensiblen Deutungsrahmen einbetten zu können und sie en gros miteinander vergleichbar zu machen. Aus den einzelnen Dingen ergeben sich subtile semantische Aspekte oder Interferenzen, welche die Rezeption und Interpretation eines Narrativs beeinflussen. So kann es etwa vorkommen, dass ein Bild oder Text durch Verwendung eines spezifischen Dings am Bildrand oder in einem Nebensatz eine völlig andere Dimension gewinnt: Charaktere und Handlungsstränge erhalten topischen Background, Spannungsbögen werden aufgemacht, kulturelle Codes bedient oder gebrochen, hermeneutische Horizonte eröffnet. Dinge können als Stellvertreter für abgeschlossene Handlungseinheiten fungieren, einen Handlungsort angeben oder beispielsweise anhand ihres Zustands, ihres Status, ihrer Lokalisierung oder ihrer geschlechtertheoretischen Kategorisierung Marker für eine Vielzahl von damit zu assoziierenden Umständen sein. Im Abschnitt zu den Dingen in den ‚tierischen Lieferdiensten‘ haben wir demonstriert, wie die Datenmodellierung in ONAMA – und dabei im Besonderen die semantischen Rollen – ganz konkrete Konfigurationen von Narrativelementen auffindbar und vergleichbar macht und damit die Erzählstrategien der unterschiedlichen Realisierungen in Text und Bild besser greifbar werden. Die im Rahmen des skizzierten Projektes erarbeiteten |Semantic Role|s bieten in Kombination mit der Unterscheidung in Narrativ-Konzepte und ‑Realisierungen, der Inbezugsetzung von Narrativen über Teil-Ganzes-Beziehungen und der Gewichtung von Narrativen auf Realisierungsebene (‚Haupt- und Nebenhandlungen‘) die Möglichkeit, Objekte angemessen nuanciert aufzunehmen (vgl. Abb. 3).
In ONAMA werden also nicht nur die ‚Hauptdinge‘ modelliert, sondern eine ganze Palette an relevanten Objekten und ihre Relationen, Funktionen und Rollen in Bezug auf eine Handlung erfasst. Darüber hinaus bieten die Referenzen im ONAMA-Korpus zu den beiden Datenbanken MHDBDB und REALonline die Möglichkeit, diese (auch hinsichtlich der darin dokumentierten Dinge) reichen Datenpools über das Semantic Web für Abfragen ebenso zu integrieren, wie die Relationen zu Wikidata die darin enthaltenen strukturierten Daten für Queries verwendbar machen. Die Verweise auf Iconclass schaffen die Voraussetzungen, um Vergleichsbeispiele zu ONAMA-Datensätzen in anderen Bilddatenbanken zu finden.
ONAMA will auf diese Weise dabei mitwirken, die medienübergreifende Erforschung von Narrativen mit digitalen Mitteln im Spannungsfeld unterschiedlicher narratologischer Bausteine – Handlungen, Figuren, Dinge, Ereignisse, semantische Rollen etc. – voranzubringen und einen Beitrag dazu leisten, die sich durch die Überlieferungen in verschiedenen Medienformaten ergebenden fachlichen Grenzen mit interdisziplinären Methoden konsensual zu überwinden.