Überlegungen zur Materialität und Mobilität archivalischer Ordnungen im Dreißigjährigen Krieg

Abstract
Dieser Beitrag untersucht Eroberung und Transport von Archiven im Dreißigjährigen Krieg und die damit verbundene Veränderung archivalischer Ordnungen. Anhand der Fälle des kurpfälzischen Archivs 1622, des kurbayerischen Archivs 1632, des württembergischen Archivs 1634, und schließlich des Prager Reichsarchivs 1648 wird jeweils untersucht, wie die erbeuteten Akten und Urkunden durch die Eroberer geordnet, verzeichnet, verpackt wurden und wie diese schließlich abtransportiert und am Zielort in neue Kontexte eingegliedert wurden. Zentrale Quellen sind Inventare und Verzeichnisse der Aktenbeute, die vor den Transporten oder bei der Eingliederung in die neuen Archive erstellt wurden. Anregungen objektgeschichtlicher Ansätze aufgreifend werden die eroberten Akten und Urkunden dabei als materielle Objekte betrachtet, die unterschiedliche Wert- und Bedeutungskontexte durchliefen und Spuren der Reisen davontrugen. Die archivalischen Ordnungen erweisen sich dabei gleichermaßen von situativen politischen Entscheidungen, gelehrten Ordnungsmustern der Zeit wie von den räumlich-materiellen Bedingungen von Transport, Verpackung und Lagerung geprägt.
Abstract (englisch)
This article examines the looting and transport of archives during the Thirty Years’ War and the resulting transformations of archival orders. Using the cases of the Palatinate archives in 1622, the Bavarian archives in 1632, the Württemberg archives in 1634, and the imperial archives in Prague in 1648, the article analyses how the seized archival documents were sorted, registered, and packed by the conquerors, and how they were finally moved away and incorporated into new contexts. Key sources are archival inventories, created either before the transport or in the destination archives. Drawing from approaches on the history of objects, the archival documents are regarded as material objects, which were attributed different meanings and values during their journey. It becomes obvious that the archival orders were affected as well by contingent political decisions as by contemporary scholarly patterns of classification as by the spatial-material conditions of transport, packaging, and storage.
Inhaltsverzeichnis
Auch Urkunden und Akten sind Objekte. Als Schriftgüter aus Pergament, Papier und Tinte, versehen mit Siegeln und Schnüren verfügen sie über ähnliche Eigenschaften wie andere Objekte: Sie wurden betrachtet und berührt, aufbewahrt und gesammelt, in Kisten, Laden, Truhen und Schränken geordnet oder zu Einheiten gebunden, ausgetauscht und ebenso wie andere Objekte in manchen Fällen über weite Strecken transportiert. Zu den bis dahin umfangreichsten Transporten von Urkunden und Akten aus Archiven kam es im Dreißigjährigen Krieg.
In Kisten und Fässer verpackt wurden Archivgüter auf Wagen oder Schiffe verladen und durch ganz Europa transportiert. Archive wurden in allen Phasen des Dreißigjährigen Kriegs und von allen Kriegsparteien erobert. Als mobile Güter galten sie als legitime Beute der Eroberer eines Gebietes. Angesichts der Kriegssituation und der frühneuzeitlichen Transportbedingungen liegt es auf der Hand, dass sie ihre Zielorte nicht unverändert erreichten: Plünderung, Eroberung, Verpackung und Transport hinterließen Spuren auf den Urkunden und Akten, veränderten ihre Ordnung und zerstreuten ganze Archive. Die Eroberer zerstörten die Archive jedoch nicht blind, sondern ordneten und verzeichneten sie, wie im Folgenden zu zeigen ist, als wertvolle Beutestücke sorgfältig, so dass bereits auf dem Transport und bei der Eingliederung in die Zielarchive neue Ordnungen entstanden. Diese Transformationen archivalischer Ordnungen durch Mobilität sind Thema dieses Beitrags. Im Einzelnen gilt es zu untersuchen, wie sich Eroberung, Verpackung und Transport auf die Archivalien und ihre Ordnung auswirkten und wie den geraubten Dokumenten nach Neuordnung und Transport in unterschiedlichen Kontexten jeweils neue Bedeutungen zugeschrieben wurden.
Die Ordnung von Urkunden und Akten in Archiven kann als ein klassischer Gegenstand der Archivforschung und -praxis gelten, denn erst das Wissen um diese oft verworrenen Ordnungszusammenhänge ermöglicht das Auffinden von Archivalien. Archivhistorische Arbeiten haben solche Ordnungen zuletzt auch in größere kulturgeschichtliche Zusammenhängen eingeordnet und gezeigt, dass sie eng mit dem zeitgenössischem Herrschaftsverständnis, den Verwaltungskulturen und den gelehrten Praktiken einer Zeit verbunden waren. Die heute wahrgenommene Verworrenheit dieser Ordnungen ist so oft Ergebnis einer wechselvollen Geschichte, innerhalb derer die hier untersuchte Beutenahme und damit verbundene Mobilität der Archive in Kriegszeiten ein Moment der Transition bildeten.
Die Mobilität von Objekten und deren Transformationen war in den letzten Jahren ein zentrales Thema objektgeschichtlicher Forschungen. Urkunden und Akten erscheinen dabei allerdings bislang als eher ungewöhnliche Untersuchungsgegenstände. Forschungsgeschichtlich leuchtet dies ein, galt es ja gegenüber älteren Forschungen des „Wissenstransfers“ gerade zu zeigen, dass kulturelle Wissensbestände eben nicht nur in Texten, sondern auch mit materiellen Objekten reisen. Zugleich hat eine wachsende Forschung zu Materiellen Textkulturen jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass Schriftstücke, wie eingangs skizziert, auch selbst über Objekteingenschaften verfügen. Indem die hier untersuchten Urkunden und Akten in diesem Sinne nicht nur als Texte, sondern auch in ihren Eigenschaften als Objekte betrachtet werden, können Anregungen der Forschung zur Mobilität von Kulturgütern auch für diese Objektgruppe aufgegriffen werden.
Anregungen bieten hier objektbiographische Methoden, in Anlehnung an die hier jeweils nach unterschiedlichen Wertstadien gefragt wird, welche die Archivgüter auf ihren Wegen durchliefen. Dies schärft den Blick für die großen Veränderungen, denen der Wert eines Objekts je nach Kontext unterlag, der im Fall der geraubten Archivgüter vom bloßen Materialwert bis hin zu hohen ökonomischen und symbolischen Werten reichen konnte. Weiterhin werden im Anschluss an Forschungen zu Transport und Logistik die räumlich-materiellen Aspekte von Verpackung und Transport mit ihren Auswirkungen auf die Ordnung der Archivalien in den Blick genommen. Eine besondere Rolle kommt dabei den Behältnissen und Möbeln der Aufbewahrung und Verpackung zu, deren ordnende Funktion auch von Seiten der wissensgeschichtlichen Sammlungsforschung herausgestellt wurde.
Akten unterwegs: Lagerung, Verpackung und Transport der Archivbeute
Die jüngere Archiv- und Wissensgeschichte hat vielfach gezeigt, dass archivalische Ordnungen nicht nur auf dem Papier bestanden, sondern sich auch ganz konkret in Archivkästen, -truhen und Laden manifestierten, die häufig mit Buchstaben, Farben, Zeichen oder Begriffen beschriftet waren und so die Ordnung des Archivs auch räumlich abbildeten.
Diese räumlich-materiellen Ordnungen waren oft älter als ihre Verschriftlichung in Inventaren und Verzeichnissen und erleichterten den Archivaren und Kanzlisten die Orientierung im Archiv. Die Aufbewahrungsmöbel waren in der frühen Neuzeit in vielen Fällen so konstruiert, dass sie bei Gefahren, sei es durch Feuer oder durch Krieg, möglichst leicht zu transportieren waren. Schon mittelalterliche Urkundenarchive wurden entweder gleich in so genannten „Fluchttruhen“ aufbewahrt oder sie verfügten zumindest über solche Truhen, die mit Tragestangen oder Griffen ausgestattet, schnell in Sicherheit gebracht werden konnten. Auch die herausziehbaren Laden und die Aktenkästen frühneuzeitlicher Archive waren häufig für den Fluchtfall gebaut. Anschaulich hat dies Hubert Weckbach anhand von Beispielen aus dem Heibronner Stadtarchiv rekonstruiert. Hier konnten die Laden aus den Archivschränken bei Bedarf im Ganzen herausgezogen und mit einem einschiebbaren Deckel verschlossen werden, so dass eine transportable Kiste entstand (Abbildung 1). Diese Kisten wurden vornehmlich für Urkunden verwendet. Für die Aufbewahrung von Akten wurden stapelbare Kästen mit Griffen verwendet, die bei Gefahr im Ganzen an sichere Orte gebracht werden konnten. Auf diese Weise konnte das Archiv, oder zumindest einzelne Bestände, schnell und gezielt abtransportiert werden, während zugleich die Ordnung innerhalb der Laden und Kisten erhalten blieb. Zu diesem Zweck waren etwa bei dem hier gezeigten Heilbronner Aktenkasten die Griffe so angebracht, dass der Kasten beim Tragen auf den Rücken gedreht wurde, und die Akten nicht herausfielen (Abbildung 2).- Abb. 1: Lade mit einschiebbarem Deckel, Archiv am Kieselmarkt, Stadtarchiv Heilbronn. Foto: Stadtarchiv Heilbronn/M. Jehle.
- Abb. 2: Fluchtkasten. Zweitüriger Aktenkasten mit Tragegriffen, Archiv am Kieselmarkt, Stadtarchiv Heilbronn. Foto: Stadtarchiv Heilbronn/M. Jehle.
In den hier untersuchten Fällen der Eroberung von Archiven mussten die Eroberer daher oft feststellen, dass besonders wichtige Teile der Registratur fehlten. So wurde von Seiten Bayerns bei der Durchsicht des soeben eroberten Heidelberger Archivs, dass ganze Schubladen aus den Archivschränken entfernt worden und mitgenommen worden waren, so dass insbesondere die zentralen herrschaftsbegründenden Urkunden der Pfalz fehlten.
Insgesamt stellte der Transport der erbeuteten Archivalien in Kriegszeiten die Eroberer jedoch vor große Herausforderungen. Urkunden und Akten waren keine alltäglichen Frachtgüter. Dennoch war ihr Transport in der Frühen Neuzeit nicht unüblich, so dass man auf gewisse Erfahrungen aus Friedenszeiten zurückgreifen konnte. Das Reisekönigtum mittelalterlicher Herrscher hatte mobile Kanzleien erforderlich gemacht, und noch Karl V. führte seine Schriftstücke auf Kanzleiwagen, manchmal sogar auf einem Kanzleischiff, durch sein Reich. Erbteilungen und die damit verbundenen Zersplitterung von Herrschaftsgebieten machten den Umzug ganzer Archive notwendig. Und im Kriegsfall wurden bis ins 17. Jahrhundert in Feldkanzleien neben Briefen und Akten des täglichen Gebrauchs auch wichtige Urkunden mitgeführt, eine Praxis, die erst im 17. Jahrhundert abnahm.
Verpackt in Kisten oder Fässern wurden die Archivalien sowohl zu Land als auch zu Wasser transportiert. Eine besondere Herausforderung stellte die Verpackung dar, denn Akten und Urkunden waren anfällig für Feuchtigkeit und leicht in Unordnung zu bringen. die Beschaffenheit solcher Kisten hat Meghan Williams für die Reisekanzlei Karls V. rekonstruiert: Diese waren mit Eisen beschlagen oder mit Leder bespannt und mit Schlössern gesichert. Um das Verrutschen der Kisten und die Beschädigung der Schlösser zu vermeiden, wurden die Wagen mit Stroh ausgelegt. In den hier untersuchten Fällen der Archivtransporte in Kriegszeiten wurden Kisten meist für den Transport zu Land verwendet, insbesondere dann, wenn die Akten für die baldige Verwendung sorgfältig geordnet worden waren. Dies war etwa in Heidelberg 1622 und in Stuttgart 1635 der Fall: Innerhalb der Kisten wurden die Urkunden und Akten, bereits vor dem Transport des kurpfälzischen Archivs nach München, in lederne oder pergamentene Bände eingebunden oder, wie beim Transport der württembergischen Archivbeute 1635 nach Wien, als Aktenkonvolute in Papier eingeschlagen. Einen noch besseren Schutz vor Nässe bot Wachstuch, dessen Verwendung für den Transport der Prozessakten des Reichskammergerichts von Speyer nach Frankfurt aus dem Jahr 1681 belegt ist. Galt es hingegen, große Aktenmengen unter Zeitdruck abzutransportieren, wie nach der Eroberung des Prager Reichsarchivs durch Schweden 1648 kurz vor Kriegsende, so kamen eher Fässer zum Einsatz, die ein größeres Volumen fassten und beweglicher waren, da sie gerollt werden konnten. Diese wurden oft auf Schiffen transportiert.
Große Eile bestand auch bei der Flüchtung des kurbayerischen Archivs, dessen Transport in einem Bericht des dortigen Hofbibliothekar Claudius Belchamps außergewöhnlich gut dokumentiert ist. Als sich schwedische Truppen der Stadt näherten, wurden in großer Eile wichtige Teile von Kanzlei, Archiv und Bibliothek auf die über 100 Kilometer entfernte Festung Burghausen in Sicherheit gebracht. Die Archivalien wurden gemeinsam mit den ebenfalls zu flüchtenden Büchern der Hofbibliothek in große Bücherfässer gepackt. Die Fässer konnten von der kurfürstlichen Residenz zur Isar gerollt werden, was ein schnelles Verschiffen ermöglichte. Da jedoch nicht ausreichend Fässer zur Verfügung standen, war die Anzahl der zu rettenden Archivalien und Bücher begrenzt. Weiterhin mussten aufgrund der Eile auch fachunkundige Helfer herangezogen werden, so dass Belchamps später beklagte, die Bücher seien beim Verladen beschädigt worden und die Archivalien durcheinander geraten. Anstatt dass die Fässer zum Schutz der Dokumente wie üblich mit Stroh ausgestopft wurden, hatte man offenbar Heu als Füllmaterial verwendet, das unterwegs in den Fässern gegoren war, so dass das Papier bei der Ankunft feucht war und einen grünen Belag aufwies. Die Archivalien waren damit zwar gerettet, jedoch zunächst kaum benutzbar und in Unordnung. Nach dem Krieg mussten sie grundlegend neu verzeichnet werden, da aufgrund der Eile keine Transportlisten angefertigt worden waren.
Neben der sachgerechten Verpackung und Verzeichnung durch Experten erwiesen sich nicht zuletzt auch die Transportbehältnisse als entscheidend für das Gelingen des Transportes. Dieser verlief für die Münchener Akten offenbar ohne weitere Zwischenfälle auf großen Lastkähnen über die Flüsse Isar, Donau, Inn und Salzach. Die Heidelberger und Stuttgarter Archivalien erreichten auf dem Landweg ebenfalls ohne größere Zwischenfälle ihre Zielorte. Die schwedische Archivbeute aus Prag musste hingegen die Ostsee überqueren, was eine besondere Schwierigkeit darstellte. Als sie im Herbst 1648, kurz vor dem Ende des Kriegs, fertig verzeichnet und verpackt auf ihren Transport wartete, war die Ostsee durch Eis unpassierbar. Die witterungsbedingte Zwischenlagerung der schwedischen Archivbeute in der Nähe der Küste führte dazu, dass diese teilweise in Böhmen und Norddeutschland zerstreut wurde. Viele Stücke fanden sich später in Sammlungen oder Adelsarchiven wieder. Das Gelingen eines Archivtransportes war damit nicht zuletzt auch von den geographischen Gegebenheiten abhängig, die in München ein schnelles Verschiffen ermöglichten, oder wie im Prager Fall, verhinderten. Als entscheidend für den Verbleib einzelner Bestände erwies sich auch die Verpackung auf dem Transport: Das Archiv bildete unterwegs keine Einheit mehr, sondern bestand aus verschiedenen Wagen- oder Schiffsladungen von Fässern oder Kisten, die bereits während des Transportes oder auch noch am Zielort zerstreut werden konnten. Die Entstehung dieser Zwischenordnung der Akten unterwegs gilt es im Folgenden näher zu betrachten.
Plünderungen: Der Wert der Archivgüter zwischen Material- und Sammlungswert
Noch bevor die Archive von den Eroberern verpackt und abtransportiert werden konnten, wurden sie häufig zum Gegenstand von Plünderungen durch Söldner. Besonders dann, wenn die Eroberung im Sturm erfolgte, wurden Städte zur Plünderung freigegeben, bevor die neuen Herrscher einzogen. Dabei handelte es sich um einen fest eingeplanten Teil der Beuteökonomie, denn Beutegüter galten als Teil des Soldes und mussten diesen nicht selten sogar ganz ersetzen.
Vollständig geplündert wurde schließlich das Prager Reicharchiv 1648 durch schwedische Söldner. Nach einem Bericht des dortigen Archivars Leonard Pipius hätten die Söldner auf der Suche nach der Schatzkammer in den Kanzleihäusern die Häuser durch graben, und weilen der vermeindte Schatz nicht gefunden worden, […] die fasciculen aufgeschnitten, von einander geworffen die seiden und gulden schnur abgerissen, viel gantz verunstalt. Für die Söldner, die den rechtlichen oder antiquarischen Wert unbekannter Urkunden kaum einschätzen konnten und zugleich darauf angewiesen waren, ihre Beuteobjekte schnell zu veräußern, war der Materialwert entscheidend. Auf der Suche nach Wertgegenständen griffen sie so zu den Siegelschnüren, die zusammen mit dem Siegel als Merkmale der Echtheit und Autorität von Urkunden dienten. Die Archivalien wurden an diesem Punkt aus ihren ursprünglichen Ordnungszusammenhängen in den Archiven entfernt und als einzelne Objekte in ihre Bestandteile Papier, Siegel und Wachs fragmentiert.
Doch konnten die Dokumente nach Plünderungen in anderen Kontexten auch jenseits ihres Materialwertes und außerhalb der archivalischen Ordnung erneut Wert erlangen, wenn sie ebenso wie andere Beutegüter über irreguläre Märkte in die Hände von Sammlern gerieten, so auch im Prager Fall. Nachdem im Oktober 1648 Alexander Erskein als Kriegspräsident der schwedischen Hauptarmee in Prag das Kommando von General Königsmark übernommen hatte, so berichtete Pipius, habe dieser gleich die Schlüssel des Archivs an sich genommen. Dabei habe er ein ziemliche Menge Schriften aus der Registratur in sein quartier tragen lassen. Eben dieser Alexander Erskein war es, der im Dreißigjährigen Krieg die bekannteste und umfangreichste Sammlung von Archivalien zusammentrug, indem er gezielt Dokumente aller Art, insbesondere auch Verwaltungsschriftgut, erwarb und erbeutete und dieses auf sein Gut Erskeinschwinge in Norddeutschland brachte. Ähnlich wie Erskein sammelten auch andere, zumeist hochrangige, schwedische Militärangehörige auf dem Kontinent neben Kunstgegenständen, Büchern und Handschriften auch Urkunden und Akten aus Archiven. Solche antiquarischen Interessen und Sammeltätigkeiten wurden bislang hauptsächlich für schwedische Sammler erforscht, sie gelten jedoch in ähnlicher Weise auch für andere Akteure, wie etwa das Beispiel des Thomas Howard, 21. Earl of Arundel zeigt, der bei seiner Gesandtschaftsreise 1634 zahlreiche Kunstgegenstände, Bücher und Handschriften kaufte und nach England brachte. Die erbeuteten Archivalien wurden hier ähnlich wie Bücher oder Kunstgegenstände zu Sammlungsstücken, denen auch jenseits unmittelbarer politisch-strategischer oder symbolisch-repräsentativer Zwecke ein antiquarischer Wert beigemessen wurden. Die Wege der Akten, die oft über verschiedene Stationen von Händlern und Sammlern verliefen, sind bislang kaum bekannt, doch finden sich in zahlreichen großen Sammlungen Hinweise darauf, dass umfangreiche Bestände von Archivalien aus Kriegsbeute im Dreißigjährigen Krieg stammen.
Ein solches antiquarisches Interesse spielte auch für die schwedische Krone eine Rolle, gerade Königin Christina I. ließ gezielt Kulturgüter aller Art für ihre umfangreichen Kunst- und Wissenschaftssammlungen erbeuten, darunter auch Archive und Bibliotheken. Das historisch-antiquarische Interesse führte allerdings zu eigenen Problemen beim Transport der Archivalien, denn hier bedurfte es fachkundiger Experten für die Auswahl und die Einschätzung der antiquarischen Werte. Eben diese Experten waren es allerdings, die wie oben dargestellt eigene antiquarische Interessen verfolgten. Auch Christina I. hatte das Problem erkannt: Im Januar 1643 erfolgte aus Stockholm der Befehl, alle in Zukunft erbeuteten Archive, Akten, Briefe und Protokolle nicht zu zerstreuen, sondern zu verzeichnen und gesichert an die Ostsee zu bringen, von wo sie abgeholt und dem Reichsarchiv zur Verfügung gestellt werden sollten. Gabriel Oxenstjerna, der mehrere Jahre lang als Kanzlist im schwedischen Reichsarchiv gearbeitet hatte, wurde nach Leipzig geschickt, um die dort erbeutete kaiserliche Feldkanzlei zu verzeichnen und für ihren Transport zu sorgen. Er begleitete die Armee anschließend weiter und verzeichnete auch die folgenden Eroberungen des Nikolsburger Archivs des Bischofs von Olmütz sowie schließlich des Prager Reichsarchivs im Juli 1648. Damit kann bereits an dieser Stelle eine Funktion der im Folgenden näher zu untersuchenden Verzeichnisse der erbeuteten Archivalien festgehalten werden: Die Liste, erstellt durch einen sachkundigen Vertrauten, diente hier der Sicherung der Archivalien bei ihrem Transport, auch und gerade gegenüber den eigenen Leuten.
Bestandsaufnahme und Verzeichnung: Die Ordnung fremder Akten
Nach der Eroberung einer Stadt oder einer Residenz fand jeweils eine Bestandsaufnahme der Beute statt. Hochrangige Militärangehörige verschafften sich einen Überblick über Kunstgegenstände, Bibliothek und Archiv. Diese Bestandsaufnahme diente der Auswahl und Sicherung wichtiger Beutestücke sowie häufig auch der Verteilung der Beute zwischen Verbündeten.
Zahlreiche Einzelheiten zu Praxis des Ordnens und Verzeichnens sind aus einem Bericht des bayerischen Hofrates und Geheimsekretärs Esaias Leuker zu erfahren, der 1622 mit der Verzeichnung des soeben erbeuteten Heidelberger Archivs beauftragt worden war. Leuker, der als gelehrter Hofrat zugleich auch die Funktion eines Bibliothekars innehatte, war mit gelehrten Ordnungsprinzipien vertraut. Dennoch bereitete ihm die Sortierung und Auswahl der Akten für den Transport viel Mühe: Es ist aber ein so mühsamb werkh und sein der meisten theils Akten dermassen von einander zerstreüt, das es langer weil und großer mühe bedarf, solche in gewisse capita und volumina zusamben zu bringen. Leuker beschrieb hier das Problem des Ordnens fremder Akten: Die Ordnung des Heidelberger Archivs war für ihn kaum durchschaubar und entsprach nicht seinen eigenen Suchkriterien. Daher musste er bei der Durchsicht fast ein yedes concept vorher durchlesen, so etwa bei der Korrespondenz der Heidelberger Räte, die er gerade bearbeitete, wo zwischen den aus seiner Sicht relevanten politischen Korrespondenzen unzehlich vil privat correspondenz schreiben zu finden seien. Aus Platzgründen damit die truhen, die man hinauf zuführen, nicht mit vergebnen schrifften gefüllt werden entschied er sich daher, nicht größere archivalische Einheiten wie ganze Bände oder Faszikel einzupacken, sondern diese aufzubrechen und nach eigenen Kriterien neu zu ordnen.
Dabei konnte er sich jedoch der vorgegebenen Ordnung des Heidelberger Archivs nur begrenzt entziehen, wie in seinem Bericht immer wieder deutlich wird. Frühneuzeitliche Archivordnungen waren stark an räumlichen Gegebenheiten und ordnenden Möbeln orientiert, die, wie oben dargestellt, den Archivaren und Kanzlisten das Auffinden von Dokumenten erleichterten. Die Leuker unbekannte Anordnung der Akten in den Räumen des Heidelberger Schlosses erwies sich hier als besonders hinderlich bei die Verzeichnung der Akten: wann ich auch erst in einer Canzleistuben fertig, und mich in ein ander gewelb begib, so find ich als dan abermals neüe sachen, so theils den vorigen materien anhängig, theils neüe rubricas erfordern. Leuker beschreibt hier ein Problem, mit dem sich frühneuzeitliche Registratoren auch in Friedenszeiten bei der Erstellung von Archivinventaren konfrontiert sahen: Bei der Verzeichnung fanden sich immer wieder Aktenstücke, die in keine der anfangs geschaffenen Kategorien und Rubriken passten. Hier musste Leuker improvisieren: dahero ich noch zur zeit hier kein rechte ordnung halten khönnen, sonder mich allein dieser general regel behelfen müssen, das ich die parthei sachen sine ordine wie mir iedes unter die handt gestossen, beiseiten gelegt. Es ging ihm in der Kriegssituation nicht darum, das Archiv insgesamt zu ordnen, sondern das relevante Material für die begrenzten Kapazitäten des Transports nach aktuellen politischen Interessen zu selektieren.
Diesen Interessen entsprechend bildete er die Titel reichs- oder geheime correspondenz sachen […] sowie wahl= collegial=- Churfürsten= deputation= visitation= krayß= und unionstägen. Diese habe er in bislang 120 Bänden tomos geordnet und deren Inhalt in einem vorläufigen Verzeichnis erfasst, das er als Anhang mit nach München sandte. Diese Kategorien zeigen, dass das Interesse Bayerns am Heidelberger Archiv insbesondere ein reichspolitisch-taktisches war, denn sie alle betreffen die jüngere Reichspolitik der Pfalz und deren Einbindung in gegenwärtige und vergangene Bündnisse. Am Nachweis dieser Bündnisse hatte der bayerische Herzog aufgrund seiner Bemühungen um die ehemals pfälzische Kurwürde ein besonderes Interesse. Der Bann über Friedrich V. von der Pfalz und dessen Verlust der Kurwürde, die tatsächlich 1623 an Bayern überging, wurde reichsrechtlich mit der Verstrickung des Pfälzers in Bündnisse und Verschwörungen gegen Kaiser und Reich begründet, die ihren Höhepunkt in der Annahme der böhmischen Krone gefunden hatten. Das in Heidelberg gesammelte Material sollte nun dessen langfristiges Agieren gegen Kaiser und Reich belegen und damit die Legitimität der Übertragung der Kurwürde an Bayern weiter untermauern. Aufgrund des aktuellen politischen Nutzens der Akten drängte Maximilian Leuker zum baldigen Transport, der noch im Oktober 1623, also unmittelbar nach diesem Schreiben, erfolgte.
Beutelisten: Verzeichnisse der Aktenbeute
Vor dem Transport und bei der Eingliederung in die Zielarchive wurden die erbeuteten Archivalien in Verzeichnissen erfasst. Diese bilden die Urkunden und Akten im Zwischen-Raum des Transports ab und lassen damit nachvollziehen, welche Bestände mitgenommen wurden und in welcher Weise sich der Transport auf die Ordnung der Akten auswirkte. Die Frage nach der zeitgenössischen Funktion der Beutelisten in der Kriegssituation gibt zugleich weiteren Aufschluss über den Umgang mit den Dokumenten. Diese Fragen werden im Folgenden anhand mehrerer Verzeichnisse der pfälzischen und württembergischen Aktenbeute untersucht.
Die Heidelberger Beuteliste
Leukers bereits genanntes Verzeichnis erfasst detailliert, welche Dokumente aus Heidelberg mitgenommen wurden. Über die erwähnten taktischen Dokumente hinaus waren dies alle noch vorhandenen Urkunden, insbesondere Lehensbriefe, kaiserliche Privilegien und Verträge mit anderen Fürsten. Der erste Teil des Verzeichnisses beinhaltet ausschließlich ältere Archivinventare über Urkunden der Pfalz, Belehnungen und Verträge, darunter auch ein Gesamtinventar des Heidelberger Archivs, wobei jeweils vermerkt ist, ob die dort verzeichneten Originale noch vorhanden waren. Leuker war bekannt, dass wichtige Teile der Urkunden kurz vor der Einnahme der Stadt geflüchtet worden waren, denn er notierte bei seinem dritten Eintrag zu einem alten Heidelberger Archivinventar: referiert sich wie auch die anderen vorgehandelten auf die originalia, so im archivo vorhanden, welche aber vor der ein nemung der stat haidelberg anderswohin geflohet worden.
Den Verzeichnissen kam hier in Abwesenheit der Urkunden ein eigener Wert zu, denn sie boten nicht nur einen Überblick der vorhandenen Dokumente, sondern gaben auch Aufschluss über deren Inhalt, so findet sich etwa unter der Nummer 27 ein Index Alphabeticus mit der Bemerkung, dass dort nicht allein die Volumina […] verzeichnet, sondern auch die contenta aller documenten referirt werden. In ähnlicher Weise wie sonst Kopialbücher wurden die pfälzischen Archivinventare hier in Abwesenheit der Urkunden als Ersatz für die Dokumente verwendet. Eine solche Funktion hatte auch das Transportverzeichnis im Ganzen: Leuker verzeichnete besonders die ihm wichtig erscheinenden Bände mit Dokumenten zu den Bündnissen der Pfalz detailliert, teilweise mit ausführlichen Inhaltsangaben zu einzelnen Aktenstücken. Da das Verzeichnis getrennt von dem Transport der Akten versendet wurde, bot es zusätzlich eine Sicherung, falls die Dokumente unterwegs verlorengehen oder geraubt werden sollten.- Abb. 3: Titelansicht. Verzeichnus derer Documenten, Register, und brieflichen Urkunden, welche aus dem Schloß Haidelberg nach München geführt worden Im Monat Oktober Ano 1623. BHStA München, Dreißigjähriger Krieg Akten 169, fol. 66v-67r.
Ausführlich beschrieben wurde auch jeweils die materielle Beschaffenheit der Akten. Die Einträge geben jeweils zunächst die Art des Dokumentes und dessen Format an, wie ein ablang Register oder ein quart Band in folio. Weiterhin werden das Material des Beschreibstoffes sowie des Einbandes genannt und deren Zustand charakterisiert, wie etwa in schwarzes leder eingebunden oder in schlecht pergament eingebunden mit ledernen Bendeln.
Reihenfolge und Gliederung der Bände innerhalb des Verzeichnisses entsprechen einer in dieser Zeit in den deutschen Fürstentümern häufig verwendeten Archivordnung, die Herrschafts- und Lehensverhältnisse widerspiegelte. Es beginnt mit den herrschaftsbegründenden Urkunden der Pfalz, ersatzweise mit deren Verzeichnissen, den Beziehungen zu Papst- und Kaisertum, zu anderen Fürsten und schließlich zu Untertanen. Damit bildete das Verzeichnis die Stellung der Pfalz innerhalb des Reichsverbandes ab, was älteren Ordnungen des pfälzischen Kurarchivs entspricht. Weiterhin war die Gliederung der Liste auch von den praktischen Problemen des Ordnens fremder Akten geprägt: Mehrmals bricht die Nummerierung ab, beginnt erneut und schließlich folgt am Ende ein unnummerierter Teil mit der Überschrift Absonderliche einsichtige Briefdokumente und Acta, welche wegen Kürze der Zeit nicht haben können in gewisse Thomos und Rubricas abgeteilt werden, sondern solchs nach München verschoben worden. Letzteres ist wohl dem Drängen Maximilians zu einem schnellem Transport der Akten geschuldet, so dass neben verbliebenen Spuren der Heidelberger Archivordnung und den reichspolitischen Interessen Bayerns auch logistische Bedingungen wie die begrenzten Transportmöglichkeiten oder Zeitknappheit bei der Verpackung die Ordnung des pfälzischen Archivs in München prägten.
Die württembergischen Beutelisten
Für die württembergische Archivbeute wurden sowohl vor dem Transport in Stuttgart als auch nach der Ankunft in Wien mehrere Verzeichnisse erstellt. Während Verpackung und Transport der Heidelberger Aktenbeute relativ schnell abgeschlossen wurde, meldeten die kaiserlichen Statthalter in Stuttgart immer wieder Funde aus dem Archiv und brachten über mehrere Jahre Transporte mit Archivalien auf den Weg nach Wien. Im Folgenden werden zwei in Stuttgart und drei weitere in Wien erhaltene Verzeichnisse dieser Aktenbeute untersucht.
- Abb. 4a: Innenansicht. Verzeichnus derer Documenten, Register, und brieflichen Urkunden, welche aus dem Schloß Haidelberg nach München geführt worden Im Monat Oktober Ano 1623. BHStA München, Dreißigjähriger Krieg Akten 169, fol. 66v.
- Abb. 4b: Innenansicht. Verzeichnus derer Documenten, Register, und brieflichen Urkunden, welche aus dem Schloß Haidelberg nach München geführt worden Im Monat Oktober Ano 1623. BHStA München, Dreißigjähriger Krieg Akten 169, fol. 67r.
Die Verzeichnisse umfassen hauptsächlich solche Archivalien, die bereits zuvor auf die Festung Hohenasperg geflüchtet worden waren.
Ähnlich wie im Heidelberger Verzeichnis sind in den Stuttgarter Listen meist ganze Konvolute und Bände verzeichnet. Bei den Konvoluten handelte es sich um lose Zusammenstellungen von Akten oder Urkunden, bei denen jeweils das Format quart oder folio sowie das Einschlagmaterial compert oder weißes compert sind. Anders als in Heidelberg wurden die Konvolute nicht aufgebrochen und neu zusammengestellt, sondern jeweils insgesamt der Stuttgarter Archivordnung entnommen. Das Problem des Umgangs mit fremden Ordnungskriterien stellte sich hier auch deshalb kaum, da die württembergischen Registratoren als lokale Experten unter der kaiserlichen Statthalterschaft weiterbeschäftigt wurden. Die Ordnung der Stuttgarter Akten wurde so weitaus weniger verändert.
Auch die Stuttgarter Verzeichnisse lassen erkennen, dass bei der Auswahl der Akten jenseits abstrakter Ordnungskategorien auch die Art der Aufbewahrung eine Rolle spielte. Bereits bei der Auswahl der Akten konnten besonders gut gesicherte Kisten auf einen wertvollen Inhalt hinweisen. So berichteten die kaiserlichen Räte im Juni 1635 nach Wien, sie hätten in der Stuttgarter Registratur eine verschlossene Truhe gefunden, in der sie von aller hand gehaimben correspondenzen tractaten, unnd handlungen, so die Protestierend Chur: und fürsten thails mit dem König in Frankreich, teils mit Schweden und anderen mit confoederierten entdeckt hätten und baten um weitere Instruktionen, wie mit diesen zu verfahren sei. Auch bei der Verzeichnung der Aktenbeute orientierte man sich an der vorgefundenen Ordnung der Akten in Kisten, so ist ein umfangreicher Teil der 1636 in Stuttgart erstellten Beuteliste einfach mit dem Titel Ein Einschlag Kasten von Rauen Brettern überschrieben. Als Inhalt des Kastens verzeichnet wurden darunter Urkunden, Akten und Rechnungen der jüngsten Zeit, die von Inventaren über Munition, Listen der Festungen im Land, Briefwechsel mit anderen Reichsständen bis hin zu Rechnungen der protestantischen Union reichen. Hier wurde die Gliederung der Archivgüter in Kisten, die sich wie oben gezeigt als entscheidend für deren weiteren Verbleib erweisen konnte, zusammen mit dem Behältnis aus dem eroberten Archiv unverändert übernommen.
- Abb. 5: Verzeichnis der Württembergischen Dokumente aus der Festung Hohenasperg, undatiert. Was sich für Württembergische Brieffliche Documenta Secreta und wichtig Sachen, uff dem Schloss Hohenasperg befunden etc. wie folgt. LABW/HStA Stuttgart, A 265, Bü 41b.
- Abb. 6: Verzeichnis von Dokumenten aus der Festung Hohenasperg und dem Stuttgarter Archiv von 1636. Freyheiten des Herzogthums Württemberg. Welche von der Vestung Asperg, erholt, auch was noch alhie zuo Stuetgardt zu finden gewest beygelegt, und Ihnn volgenden verzeichnus gebracht worden, den 11. Februarii Anno 1636. LABW/HStA Stuttgart, A 265, Bü 42.
Die Ankunft der Akten: Verzeichnisse der württembergische Aktenbeute in Wien
Die württembergischen Akten und Urkunden kamen so in einer noch weitgehend vom Stuttgarter Archiv geprägten Ordnung in mehreren Transporten zwischen 1635 und 1637 nach Wien, wo in der Reichshofkanzlei erneut mehrere Verzeichnisse erstellt wurden.
Das umfangreichste erfasst Teile der Bestände vom Hohenasperg. Die in Stuttgart zunächst nur summarisch nach Konvoluten und Bänden erfassten Urkunden und Akten wurden hier mit umfangreichen Regesten zu einzelnen Akten verzeichnet. Sie betrafen Privilegien und Verträge der Habsburger mit Württemberg, besonders die Mediatisierung einzelner Reichsstandschaften und die Säkularisierung der Klöster betreffend. Das Verzeichnis war in seiner Ausführlichkeit dazu geeignet, die Arbeit mit den Dokumenten zu ersetzen. Um letztere bei Bedarf vorlegen oder einsehen zu können, war jeweils vermerkt, ob ein Original oder eine Kopie vorhanden war.- Abb. 7: Durch den Grafen von Sulz gefertigtes Verzeichnis der Akten und Schriften. Designation derjenigen Acten und Schrifften, so von Herrn Grafen von Sulz eingeschickt und in einem weißen mit Brettern zusammen geschlagenen Kasten befunden. OeStA/HHStA Wien, AB 122, fol. 6r.
Ganz im Gegensatz zu dieser sorgfältigen inhaltlichen Erschließung steht ein anderes, ebenfalls in der Reichskanzlei angelegtes Verzeichnis, das erneut im Titel auf die Verpackung der Akten verweist, die Designation derjenigen Acten und Schrifften, so von Herrn Grafen von Sulz eingeschickt und in einem weißen mit Brettern zusammen geschlagenen Kasten befunden.
Hier werden knapp und ohne erkennbare Systematik alle in dem betreffenden Kasten vorhandenen Schriftstücke aufgeführt. Der Kasten enthielt demnach hauptsächlich Verwaltungsschriftgut und Rechnungen, insbesondere über die Herrschaft Heidenheim aus den Jahren 1621 bis 1630, daneben Urkunden über Stuttgarts Verhältnis zur Diözese Konstanz, ein Lehensbuch aus dem 16. Jahrhundert sowie eine Gerichtsordnung, daneben noch einige gelehrte Schriften, die sich mit dem Kriegsrecht oder der Säkularisierung der Klöster befassen. Dies lässt deutlich die Interessen des Grafen von Sulz zu erkennen, der die Kiste nach Wien geschickt hatte: Sulz war ab 1634 kaiserlicher Statthalter in Stuttgart und zuvor 1629 bis 1630 als Restitutionskommissar in Württemberg im kaiserlichen Auftrag für die Rückführung protestantisch gewordener Klöster zuständig, was sein Interesse für kirchenpolitische Akten erklärt. Auch hier verblieben die Akten in der Ordnung, in der sie für den Transport in einer Kiste zusammengestellt worden waren.- Abb. 8: Verzeichnis der Dokumente und Schriften aus Württemberg im Haus- Hof und Staatsarchiv Wien. Verzeichnus derjeinigen Documenten und Schriften, so Außlandts Württemberg zur kaiserlichen ReichHofsCanzley Registratur zue gelifert worden. OeStA/HHStA Wien, AB 125, unfoliiert.
Während die Beutenahme von Urkunden und Verträgen zur Herrschaftssicherung unmittelbar einleuchtet, erscheint hingegen die große Anzahl nach Wien transportierter Verwaltungsakten zunächst erklärungsbedürftig. Bei der Durchsicht der Listen stellt sich so die Frage, zu welchem Zweck der Wiener Hof etwa Rechnungen des Heidenheimer Forstmeisters oder der dortigen Tretmühle sammelte.
Hatte sich Bayern nach der Eroberung Heidelbergs besonders für Verträge und Korrespondenzen zu Bündnissen der Pfalz interessiert, die reichspolitisch zum Nachweis einer Verschwörung gegen Kaiser und Reich eingesetzt werden sollten, so lassen sich ähnliche Ziele auch für die württembergische Aktenbeute der Kaiserlichen nachweisen. So schrieb der dortige Statthalter Graf von Sulz 1635 an den Kaiser, er habe in dem Württembergischen Archivo zue Stuttgardten ein ausführlich Bedenken in französischer Sprach angetroffen, aus welchem die schädliche Intention der Protestierenden klar ersichtlich sei. Zwar beträfen alle diese Unterlagen die Vergangenheit, jedoch sei es möglicherweise auch für die Zukunft äußerst nützlich, dies einwandfrei beweisen zu können.
Die Kenntnis feindlicher Bündnisse war auch über engere reichspolitische Interessen hinaus von strategischem Nutzen im Krieg, so dass entsprechende Akten auch für die schwedische Seite von Interesse waren, die gerade in der letzten Kriegsphase gezielt danach suchen ließ. So wies der schwedische Kanzler Axel Oxenstjerna 1643 seinen Feldherrn Lennart Torstenson an, dieser solle überall, wo er dazu in der Lage sei, Archive und Kanzleien erbeuten, denn es wäre hochwichtig und sehr nützlich, auf diese Weise über die Pläne des Feindes sowie über die Bündnisse und Allianzen des Hauses Österreich mit anderen Königen und Reichen Kenntnis zu erhalten und auch sonst Dokumente, Rezesse und Akten verschiedenen Inhalts zu erbeuten, die der Historie dienen könnten. Die letztgenannte historische Bedeutung der Akten und Urkunden verweist auf ein antiquarisch-historisches Interesse, das neben der Sammlung von Urkunden zur Herrschaftssicherung nach außen, von Verwaltungsakten zur Bestandsaufnahme der Herrschaftspraxis nach innen sowie der Suche nach Information zu gegnerischen Bündnissen ein weiteres, viertes Ziel der Beutenahme von Archivgütern war.
Ausblick: Das Nachleben der Archivgüter in den Zielarchiven
Nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs erfuhren die Archivgüter ein unterschiedliches Schicksal. Nach den Friedensschlüssen von Münster und Osnabrück 1646-1648 wurden sie, ebenso wie andere Beutegüter, teilweise restituiert, ein großer Teil der Archivbeute verblieb jedoch bei den neuen Besitzern, so auch in den hier diskutierten Fällen.
Mit der Integration in die Archive ihrer Eroberer erfuhren die erbeuteten Archivalien weitere Transformationen im Archivprozess. Durch die archivarische Bearbeitung, etwa mit Paginierung, Signierung und Beschriftung, wurden diese auch in die Akten selbst eingeschrieben, die solche Spuren auch bei späteren Restitutionen behielten. Wurden Bände und Konvolute aufgebrochen, neu sortiert und eingebunden, so veränderten sich auch die Ordnung der Akten erneut. Diese konnten, wie Teile der Heidelberger Akten in München, in die Archivsystematiken integriert oder in den neuen Archiven als eigene Bestände geführt werden, wie es bei einem großen Teil der württembergischen Akten in Wien der Fall war. Eine besondere Rolle spielte in diesem Prozess auch die archivische Bezeichnung der Akten: Ein Teil der württembergische Akten wurde im Wiener Archiv unter dem Titel Nördlinger Aktenbeute abgelegt, eine Bezeichnung, die nicht den aus Verzeichnissen der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs selbst stammt.
- Abb. 9: Ein Konvolut aus der „Nördlinger Aktenbeute“, Haus- Hof und Staatsarchiv Wien, Kriegsakten 76.
Einem Archivvermerk zufolge wurde dieser Bestand erst 1918 unter diesem Titel (wieder) zusammengefügt.
Während hier ein nachträglich eingeführter Titel dauerhaft die Herkunft der Akten als Beutegüter des Dreißigjährigen Kriegs hervorhob, blieben in anderen Fällen Quellenbegriffe aus den Beuteverzeichnissen bestehen, die sich auf situative Interessen der Akteure an den Akten in der Kriegssituation beziehen. Dies gilt etwa für den Bestand Protestantische Korrespondenz im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, der sich erst vor dem Hintergrund des bayerischen Interesses, im Kampf um die Kurwürde Bündnisse der protestantischen Fürsten nachzuweisen, erschließt. Zeitgenössische Interessen und Deutungen wurden auch mit den hier untersuchten Verzeichnissen selbst weitergegeben, die in der Kriegssituation oder unmittelbar nach Ankunft der Akten zur Transportsicherung, zur Übersicht oder einfacheren Verwendung der Aktenbeute verfasst wurden und, wie oben gezeigt, die Akten jeweils zu bestimmten Zwecken ordneten. Einige dieser Verzeichnisse wurden noch bis ins 20. Jahrhundert als Findmittel benutzt, wie entsprechende Archivvermerke zeigen. Hier wirkte die in der Kriegssituation geschaffene Ordnung der Akten auch in den neuen Archiven fort.Fazit
Beutenahme und Verschleppung von Archivgütern im Dreißigjährigen Krieg bilden Momente des Umbruchs und der Transition der auch insgesamt oft sehr dynamischen Geschichte archivalischer Ordnungen. Die von den Eroberern gleichermaßen als Instrumente der Transportsicherung wie des Informationsmanagements erstellten Verzeichnisse der Aktenbeute erlauben nicht nur die Rekonstruktion dieser veränderten Ordnungen, sondern geben, gelesen im Zusammenhang mit anderen Quellen, auch Aufschluss darüber, wie diese Ordnungen entstanden.
Eine wichtige Rolle spielten demnach erstens politisch-strategische Interessen der Eroberer: Vom bayerischen Streben nach der pfälzischen Kurwürde über die kaiserlichen Interessen an der Restitution geistlicher Güter in Württemberg bis hin zur schwedischen Suche nach kriegsstrategischen Dokumenten war die Beutenahme der Archive stets von solchen Interessen geleitet. Diese prägten die Titel der Bände, Konvolute und Kisten, nach denen die Akten für den Transport verzeichnet wurden und unter denen sie, wie etwa im Fall der Protestantischen Korrespondenz, oft langfristig verblieben. Eine wichtige Rolle kam dabei auch den verzeichnenden Experten, also den Räten und Kanzlisten zu, die ihre jeweils eigenen Ordnungsvorstellungen und Erfahrungen einbrachten. Mit den Archivalien wurden zweitens auch Spuren der alten Ordnung des beraubten Archivs transportiert. Dieser Ordnung konnten sich die Akteure, wie etwa der Bericht des bayerischen Rates Esaias Leuker zeigt, beim Verzeichnen der Akten kaum entziehen. Noch deutlicher wird der Einfluss der alten Ordnung im Stuttgarter Fall, in dem sich ganze Membra der Archivordnung Rammingens in den kaiserlichen Beutelisten wiederfinden oder Kisten der Registratur unverändert abtransportiert wurden.
Schließlich prägten drittens auch die räumlich-materiellen Gegebenheiten des Transports selbst die Ordnung der Archivalien. Die Transportbehältnisse wie Kisten und Fässer spielten dabei eine wichtige Rolle, was in den Verzeichnissen anhand von Titeln wie Acten […] die in einem weißen mit Brettern zusammen geschlagenen Kasten befunden oder Ein Einschlag Kasten von Rauen Brettern anschaulich wird. Konnten Kisten bereits bei der ersten Sichtung erbeuteter Archive zur Orientierung dienen, indem sie etwa auf besonders wertvolle Archivgüter schließen ließen, so wurden sie besonders beim Transport und der späteren Verzeichnung zu entscheidenden Ordnungselementen. Während des Transports bildete das Archiv keine Einheit mehr, sondern war in Wagenladungen, Kisten und Fässer geteilt, die unterwegs, wie im Prager Fall, zerstreut werden konnten oder bei gelungenen Transporten in den Zielarchiven als Einheiten verblieben.
Erbeutung, Verzeichnung und Transport von Archivgütern zeigen so, dass diese keineswegs körperlose Informationsträger waren, sondern dass ihre Ordnung und damit auch ihre langfristige Wahrnehmung gerade in der Kriegssituation ebenso stark von den materiell-räumlichen Bedingungen von Transport und Lagerung wie von den situativen Entscheidungen der Kanzlisten und deren kulturellen Ordnungsvorstellungen geprägt waren. Mit der Veränderung archivalischer Ordnungen ging dabei jeweils auch eine Transition der Urkunden und Akten selbst einher: Diese wurden etwa vom Verwaltungsschriftgut zum politischen Beweismittel im Dreißigjährigen Krieg und weiter zur „Aktenbeute“ im späteren Archivprozess oder, wie im Prager Beispiel, von herrschaftsbegründenden Urkunden zum enttäuschenden Beutestück aus Siegelwachs, Papier und seiden-goldenen Schnüren bis hin zu antiquarischen Sammlerstücken.