Anmerkungen zum Inventarium (1628) der Reißkammer Landgraf Philipps III. von Hessen-Butzbach
![Abb. 9: Johannes Faulhaber (invenit), Hauß- oder Handmühlin, aus: Johannes Faulhaber: Ein mathematische newe Invention einer sehr nutzlichen und geschmeidigen Hauß- oder Handmühlin […]. Augsburg 1616.](https://memo.imareal.sbg.ac.at/wp-content/uploads/2022/05/MEMO_SB02_Fitzner_Abb_09-1140x660.jpg)
Abstract
Einen spannenden und aufschlussreichen Einblick in das Sammeln und Zirkulieren von Objekten gibt das handschriftliche Inventarium der Reißkammer von Landgraf Philipp III. von Hessen-Butzbach (1581–1643). Nicht nur werden in dem schmalen Bändchen Bücher, Modelle, Grafiken und Instrumente gelistet, sondern diese vielfach annotiert. Anhand der Beischriften lassen sich Ein- und Ausgänge von Objekten aus der Sammlung erschließen und wird eine vielfältige fürstliche Gabenkultur greifbar. Zudem lässt sich ein bislang nur wenig beachteter wie bekannter Sammlungs- und Studierraum – die Reißkammer – weiter erschließen. Vor allem aber das sich im Inventarium abbildende Gelehrtennetzwerk um den Mathematiker und Ingenieur Johannes Faulhaber lohnt es abschließend in den Blick zu nehmen.
Abstract (englisch)
Reverting to the handwritten Inventarium of the so-called Reiß-Cam[m]er of landgrave Philipp III of Hesse-Butzbach allows us to reveal the practice of recording, collecting and circulating of objects in the 17th century. The small brochure rather lists several books, manuscripts, prints, models, as well as drawing and measuring instruments of Philipps collection, than also contained most tellingly annotations, which allow us to retrace incoming and outcoming objects, as well as to explore the vividly culture of noble gift-givings. This paper seeks to focus on circulating objects and knowledge in a rather unknown architectural type of study (a so-called drawing and measuring chamber). Therefore, it outlines the landgrave’s network and republic of letters such as the one of the most famous mathematician and engineer Johannes Faulhaber.
Inhaltsverzeichnis
Inventare fürstlicher Sammlungsräume sind besonders dann aufschlussreich, wenn die listenartige Verzeichnung von Büchern, Grafiken, Modellen oder Mess- und Zeicheninstrumenten um Annotationen zum Ankauf oder dem Ausgang der Objekte ergänzt sind.
Annotationen können nicht nur Aufschluss über den Gebrauch und die Geschichte der gesammelten Objekte geben, sondern bieten auch Einsichten in die persönlichen Netzwerke ihrer Sammlerinnen und Sammler. In besonderer Weise trifft das auf das bislang nur wenig rezipierte und erst in Ansätzen bearbeitete Inventarium der Reiß-Cam[m]er von Landgraf Philipp III. von Hessen-Butzbach (1581–1643) zu. Landgraf Philipp von Hessen-Butzbach zählte zu einem überaus gebildeten Fürsten seiner Zeit. Philipp beherrschte mehrere Sprachen, ging astronomischen Studien nach und korrespondierte mit bedeutenden Gelehrten seiner Zeit, darunter Galileo Galilei und Johannes Kepler. Philipps Inventarium listet den Bestand der Sammlung und enthält zugleich zahlreiche Vermerke, die über Geschenke von Fürsten und Bürgerlichen an ihn berichten oder den Ausgang von Objekten aus der Sammlung dokumentieren. Darüber hinaus erlaubt uns das Inventar sogar die Sammlung in einem besonderen Studierzimmer zu rekonstruieren: einer sogenannten Reißkammer.Dieser Beitrag möchte am Beispiel eines Gebrauchsinventars,
dem Inventarium der Reißkammer, das zwischen den Jahren 1628 und 1643 rege genutzt wurde, zwei Fragen nachgehen: Auf welche Art und Weise wurden Objekte aus der Reißkammer verzeichnet und annotiert und was können wir über das Zirkulieren von Objekten in Erfahrung bringen. Es geht also um Aspekte der materiellen Kultur sowie der Ordnung und Systematisierung von Wissen, genauer: von wissenschaftlichen Instrumenten, Büchern, Manuskripten und Modellen in einem fürstlichen ‚Wissensraum‘ und ihrer listenartigen Verzeichnung.Hervorzuheben ist, dass annotierte Gebrauchsinventare von Reiß- respektive Kunstkammern aus der Hand von Fürstinnen und Fürsten bislang wohl kaum bekannt sind. Ob es sich beim hier vorgestellten Beispiel allerdings um ein singuläres Phänomen handelt, muss an dieser Stelle noch offenbleiben. Nichtsdestotrotz ermöglicht das Inventarium unter anderem einen wohl seltenen Einblick in die Wissenserschließung und -ordnung einer Reißkammer eines gebildeten Fürsten im Alten Reich. Das Inventarium von Landgraf Philipp macht nicht nur die Dokumentation und Inventarisation von Objekten evident, sondern erlaubt darüber hinaus auch Rückschlüsse auf die Wahrnehmung und den Gebrauch von Objekten innerhalb höfisch-gelehrter Wissenskulturen und dynastischer Memoria.
Verortung – die Reißkammer
Landgraf Philipp baute ab 1609 seine Residenzstadt mit Schloss und Lustgarten, in dem sogar ein astronomisch-mechanischer Planetenbrunnen stand, nach und nach aus. Einen Raum also, der qua Funktionsbezeichnung das Zeichnen in den Fokus rückt. In diesem ‚studiolo‘ befanden sich neben ausgewählten Büchern und Manuskripten auch Grafiken, Modelle sowie Zeichen- und Messinstrumente. Die Reißkammer samt einer zugehörigen Vorkammer lag im obersten Stockwerk des alten Schlossflügels. Eine genaue Lokalisierung steht aber noch aus (Abb. 1).
Das alte Butzbacher Schloss wurde umgebaut und um einen neuen Flügel erweitern. In dem L-förmigen Schlosskomplex richtete sich Philipp nicht nur ein Altan für astronomische Beobachtungen samt einer hierfür benötigte Instrumentenkammer ein, sondern auch eine Reiß-Cam[m]er.- Abb. 1: Eberhard Kieser (?), Ansicht auf Butzbach mit dem Residenzschloss. Rechterhand lässt sich der Altan für astronomische Beobachtungen ausmachen, aus: Daniel Meißner: Sciagraphia Cosmica […], Bd. 6. Nürnberg 1678. BSB München Mapp. 26 a-5/8.
Eine wortwörtliche Reißkammer ist bislang noch im 16. Jahrhundert für das Dresdner Residenzschloss nachgewiesen. Dort richtete sich Kurfürst August von Sachsen (1526–1586) im vierten Obergeschoss innerhalb der Kunstkammer sein Reißgemach ein,
in dem nicht nur Zeichen- und Messinstrumente und zahlreiche Bücher verwahrt wurden, sondern in dem er auch seinen ‚mechanisch-technischen‘ und ‚künstlerischen‘ Studien nachging. Das kurfürstliche Reißgemach wird ein Jahr nach dem Tod Augusts im ersten Inventar der Dresdner Kunstkammer von 1587 als Reiß Cammer und kleines Gemach genannt. Das Kompositum Reiß-Cam[m]er hebt in beiden Fällen (Dresden und Butzbach) auf eine spezifische Funktion ab, rückt die raumfunktionale Bezeichnung doch das Reißen, sprich das Zeichnen und damit wohl auch das Messen und Rechnen (Geometrie und Arithmetik) in den Vordergrund. Allerdings dienten beide Reißkammern vor allem der theoretischen und praktischen Beschäftigung mit den Disziplinen der praktischen Mathematik im weitesten Sinne. Warum jeweils die Bezeichnung Reißkammer gewählt wurde, lässt sich noch nicht genau sagen – allerdings dürfte eine Reiß-Cammer wohl in dem raumfunktionalen Bedeutungsspektrum des studiolo, also einer Studierstube oder estude, verortet werden.Verzeichnen und Verschenken
Das Inventarium der Reißkammer umfasst inklusive Titelblatt 17 Folios (ich folge der zeitgenössischen Paginierung in Graphit), die in der Regel auf den Vorder- und Rückseiten beschrieben sind (Abb. 2). Gebunden ist es – so die anonyme Notiz auf dem Vorsatzblatt – in einem Pappeinband des 19. Jahrhunderts: Neu eingebunden im Juli 1886. Aus dem Titel des Inventars geht meines Erachtens jedoch nicht eindeutig hervor, wann es geschrieben wurde und wer es verfasst hat, sondern lediglich, dass dieses im November des endenden Jahres 1628 erneuert wurde:
INVENTARIUM // aller Mathematischer Bücher, // Kupffer= // Stuckh. Modellen, vnnd Instrumenten, etc. // Ihr F.G. Reiß-Cam[m]er befindlich. // Ernewert // Im Monat Novemb: des ablauf= // 1628 // Jahrs.
- Abb. 2: Inventarium der Reißkammer, Titelblatt, [1628–1643]. ULB Darmstadt Hs-3020.
Was genau nun en detail ergänzt wurde, vermag ich an dieser Stelle noch nicht zu sagen – prinzipiell denkbar ist auch, dass ein neu erstelltes Inventar gemeint sein könnte, was Struktur und Aufbau der Einträge durchaus nahelegen könnten. Offenbleiben muss auch noch, aus welchem Anlass das Inventar erstellt wurde.
Auf dem Vorsatzpapier findet sich eine weitere, aber nicht näher belegte Angabe anonymer Hand, vermutlich des frühen 20. Jahrhunderts, die dennoch einen Verfasser eindeutig zu bestimmen vermag: Inventar über die Reißkammer Landgraf Philipps von Butzbach, geschrieben von Daniel Mögling im November 1628 mit Nachträgen von diesem und anderen bis in die vierziger Jahre. Der November des ablaufenden Jahres 1628 war für Mögling, Arzt, Mathematiker und Astronom am Hof Philipps, wohl recht arbeits- und ereignisreich, denn nicht nur erneuerte er das Inventarium, sondern er stellte auch seine Mechanische Kunst-Kammer, die Übersetzung des bedeutenden Liber Mechanicorum von Guidobaldo del Monte, fertig (Abb. 3). Die Dedikation des Traktats endet mit: Geben Putzbach / den letzten Nouembr. deß zu End lauffenden 1628. Jahrs.
- Abb. 3: Daniel Mögling, Mechanische Kunst-Kammer, Titelblatt, 1628. SLUB Dresden, Mechan.24.
Die Ein- und Nachträge sowie Annotationen im Inventarium stammen allerdings nicht nur von Daniel Mögling, sondern vermutlich sogar von Landgraf Philipp selbst sowie vielleicht noch von anderen bislang nicht näher bekannten Schreibern,
was die deutlich voneinander abweichenden Schriftbilder, mal in schwarzer oder brauner Tinte, nahelegen. Zudem wurden einige Annotationen auch erst nach dem Tod Möglings, der am 19. August 1635 verstarb, ergänzt. Meines Erachtens ist für die Einträge Möglings das gut lesbare Schriftbild unter Verwendung einer braunen Tinte charakteristisch, so wie es beispielsweise auf Folio 2 recto zu sehen ist (Abb. 4). Diese Überlegung dürfte vor allem ein Vergleich mit zwei Mögling nachgewiesenen Handschriften stützen. Die Cyclometria seu Quadratura Circuli (Die Quadratur des Kreises) hat ein repräsentativ gestaltetes Titelblatt, das in der Schreibweise des Haupttitels deutliche Ähnlichkeiten mit derjenigen im Inventarium erkennen lässt (Abb. 5). Und auch im Schriftbild der Observationes macularum Solis (Beobachtungen zur Sonnenfinsternis), ist das charakteristische Schriftbild zu beobachten.- Abb. 4: Inventarium der Reißkammer, folio 2 r, [1628–1643]. ULB Darmstadt Hs-3020.
- Abb. 5: Daniel Mögling, Cyclometria seu Quadratura Circuli, Titelblatt, vor 1627. ULB Darmstadt Hs-1651.
Das Inventarium der Reißkammer ist in 12 Rubriken untergliedert:
LIBRI ARITHMETICI,
LIBRI GEOMETRICI et ad Perspectiv: ad Musicam,
LIBRI ASTRONOMICI et Chronologici,
LIBRI ASTROLOGICI,
LIBRI GEOGRAPHICI,
LIBRI ARCHITECTONICI,
LIBRI de Arte MILITARI,
LIBRI CHYMICO-MEDICI, Item Von Berg=Schmeltz= vnd probirsach[en],
Bücher von der Reüttereij,
LIBRI MISCELLANEI,
Allerleij Modelle,
Allerleij INSTRUMENTA.
Die Rubriken decken nicht nur die Disziplinen des klassischen quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie/Astrologie) ab, sondern umfassen auch die Architektur, den Festungsbau (Arte MILITARI) oder die Geographie. Nach den Bücher von Reüttereÿ und LIBRI MISCELLANEI folgen sogar Objekte: Modelle und Instrumente. Die übergeordnete Disziplin, der alle im Inventar genannten Wissensbereiche und zugehörigen Medien untergeordnet sind, ist allerdings die, modern gesprochen, praktische Mathematik, was auch aus dem Titel des Gebrauchsinventars hervorgeht: INVENTARIUM // aller Mathematischer Bücher, // Kupffer= // Stuckh. Modellen, vnnd Instrumenten, etc.
Innerhalb der jeweiligen Rubrik/Disziplin, sind die Bücher nach ihrem Format geordnet und in der Regel mit Kurztitel, Bandangabe und Autorenname katalogisiert. Ein Erscheinungsjahr oder ob es sich um gebundene oder nicht gebundene Exemplare handelt, ist eher seltener vermerkt.
Wir haben es also mit einer ‚kleineren‘, aber immerhin mehrere hundert Bücher zählenden (Hand-)Bibliothek innerhalb der Reiß-Cam[m]er zu tun, was ein Vergleich mit der fürstlichen Bibliothek Philipps bestätigt, die gemäß einem Inventar aus dem Jahr 1636 immerhin 2.795 Bücher umfasste.Bereits die listenartige Struktur des Inventariums deutet auf seinen dynamischen Gebrauchscharakter hin. So konnten etwa spätere Hinzufügungen bei den LIBRI ASTRONOMICI et Chronologici in Folio problemlos vorgenommen werden: Zwischen die feinsäuberlich geschriebenen und abstandsgleich gehaltenen Einträge sind wohl zu einem anderen Zeitpunkt in zügig ausgeführter Schreibschrift Angaben ergänzt worden (Abb. 6). Es handelt sich dabei immerhin um den Vermerk eines Manuskripts astronomischer Beobachtungen Landgraf Wilhelms IV. von Hessen-Kassel (1532–1592), einem in der Astronomie brillierenden Vorfahren Philipps, sowie Miscellanea Astronomica von Daniel Mögling.
Auch unter den LIBRI ASTRONOMICI et Chronologici kam es zu Nachträgen oder Streichungen: Mal in dünnerer oder dickerer Strichstärke wurden Bücher und Manuskripte eingetragen, kommentiert oder gar mittels Streichungen aus dem Inventar gelöscht, da sie aus der Sammlung herausgenommen wurden. So gelangten unter anderem verschiedene Objekte in das heute abgegangene befestigte Schloss Philippseck nahe Münster (Wetterau), welches der Landgraf zwischen 1625 und 1628 errichten ließ. Auf dem Verso von Folio 6 der Libri geographici finden sich zwei etwas lieblos und grob gesetzte Streichungskreuze über verschiedenen Posten von Gepapte[n] Landcharten samt dem hinzugefügten Vermerk: ist alles nach Philipseck // komen d[en] ii. Aug. 1631 (Abb. 7). Folglich gelangten unter anderem Karten von Italien, England, Österreich und Palästina sowie Pläne von Paris, Zürich und Jerusalem nach Philippseck. Für die Ausstattung wurde auch auf Taffeln, die unter den Libri Miscellanei gelistet sind, zurückgegriffen. So ging etwa ein Bildnis vom Abt zu Fulda am 2. August 1631 nach Philippseck, wie auf dem sehr dicht ‚verschriebenen‘ und annotierten Verso von Folio 11 zu lesen ist. Auch wurden, dies geht aus einer weiteren Streichung samt Vermerk hervor, von den vngebundenen // Kupfferstückh unter anderem ein Porträtstich König Gustav Adolphs von Schweden und Ein Kupferstück des bössen Hundts wie er sich zu Meÿlandt gezeigt am 2. August 1631 nach Philipseck geführt. Und unter dem Eintrag zu einem Porträt Ludwigs XIII. liest man den kurz gehaltenen Ausgangsvermerk: Ist ins Ballhauß kommen. Folglich wurde der Stich mit dem Bildnis des französischen Königs wohl nach 1633 in das neu errichtete fürstliche Butzbacher Haus für das Ballspiel abgegeben. Alle die in diesem Absatz genannten Annotationen zu den Ausgängen von Objekten dürften wohl von Philipp selbst stammen.- Abb. 6: Inventarium der Reißkammer, folio 4 r, [1628–1643]. ULB Darmstadt Hs-3020.
- Abb. 7: Inventarium der Reißkammer, folio 6 v, [1628–1643]. ULB Darmstadt Hs-3020.
Der Ausgang von Objekten aus der Reiß-Cam[m]er ist immer wieder durch Streichungen dokumentiert. Dabei handelte es sich mal um Bücher, Instrumente oder gar Modelle, die meist als Geschenke die Sammlung verlassen mussten. So schenkte Landgraf Philipp dem Herrn von Stolberg am 18. August 1631 ein Buch von Romanisch Antiqteten, in ein neuen band.Kunstbuch Balth: Schnur: Ifg Gemahlin // bekom[m]en.
Der einstmals zu einem unbekannten Tag vorgenommene Ersteintrag im Inventar wurde wohl im Sommer 1631 durchgestrichen und eine gepunktete Linie führt uns zu dem erläuternden Eintrag des Vorgangs am oberen rechten Blattrand hin: haben Ihro Fl. G. dem Herren von stolberg geschenkt // graff heinrich volhard, den 18. 8t: 1631 (Abb. 8). Das nicht näher spezifizierte Buch über römische Antiken war zudem doppelt vorhanden und so verblieb in der Reiß-Cam[m]er das Exemplar mit dem alten band (sprich Einband). Nicht immer werden jedoch die Beschenkten, wie Graf Heinrich Vollhardt zu Stollberg, namentlich genannt und so liest man etwa auch eine kurze Notiz, die schlicht anmerkt, dass ein Buch weg geschenkt wurde. Gleiches gilt für das unter Nummer 29 verzeichnete Modell eines Hebzeügs das lediglich kurz und knapp annotiert ist: ist verschenkt. Die Verehrungen von Landgraf Philipp wurden also häufiger mitvermerkt – ob systematisch oder nicht, lässt sich allerdings noch nicht genau sagen, wenngleich mehrere solcher Angaben zu finden sind: Ein aus Messing gefertigter Zirkel wurde H. Georg v. Lüneb. (möglicherweise ist Herzog Georg von Braunschweig und Lüneburg (1582–1641) geschenkt. Philipps Frau, wohl die in zweiter Ehe 1632 geheiratete Gräfin Christine Sophie von Ostfriesland (1600–1658), erhielt, so Annotation und Streichung in schwarzer Tinte, von den Libri Miscellanei Balthasar Schnurrs Kunst= und Wunderbüchlein= Darinnen allerhand nützliche/ und zu einer wolbestelleten Haußhaltung/ Wie auch andere zu Schimpff unnd Kurtzweil gehörige Sachen/ und Kunststücke/ verfasset/ und begriffen (um 1618). Im Inventarium steht kurz und knapp:- Abb. 8: Inventarium der Reißkammer, folio 7 r, [1628–1643]. ULB Darmstadt Hs-3020.
Ein weiteres aufschlussreiches Beispiel für das Zirkulieren von Objekten aus Philipps Reiß-Cam[m]er ist eine unter Nummer 26 gelistete Uhr unter Allerleÿ Instrumenta. Die silberne Uhr wurde Philipp zunächst von Landgraf Friedrich von Hessen-Darmstadt (1616–1682) verehrt. Eine spätere, jedoch nicht datierte, Annotation in schwarzer Tinte erläutert, dass diese Uhr nunmehr Juliane von Hessen-Darmstadt (1606–1659), Frau des Grafen Ulrich II. von Ostfriesland, verehrt wurde und folglich die Sammlung verlassen musste.
Graf Christian von Waldeck (1585–1637) erhielt schließlich ein hölzernes Instrument zum Grundlegen nach der Erfindung des bedeutenden Ingenieurs Daniel Specklin (1536–1589). Ferner erhielt auch ein Hofbeamter eine Verehrung aus der Butzbacher Reiß-Cam[m]er, was der folgende vermutlich spätere Zusatz zum Inventareintrag einer goldenen Waage mit Gewichten belegt: Ein anderer Goldwag sampt zugehörigen Gewicht. welches der Cammerschreiber bekommen hatt. Was allerdings die jeweiligen Anlässe für die Verehrungen waren, ist noch zu eruieren.Wenngleich also immer wieder ausgewählte Objekte die Sammlung verlassen mussten, so erhielt Philipp aber auch selbst Geschenke, die dann Eingang in seine Reißkammer finden sollten. Der bereits genannte Graf Christian von Waldeck, der von Philipp mit einem Instrument bedacht wurde, schenkte dem Landgrafen Ein Kästlein mit allerlei kleinen Inst[rumenten]
und Landgraf Friedrich, wohl Friedrich von Hessen-Darmstadt (1616–1682), verehrte Philipp ein hölzernes Messinstrument. Graf Christoph von Waserburg schenkte Philipp ein Vitrum triangulare optig und der Stallmeister Löscher gab einen kurtzen Racketen Mörser in die Reißkammer. Des Weiteren erhielt Philipp ein versilbertes Instrument von einem Herrn aus der italienischen Familie Papafava: 16. Ein Geomet: Inst[rument] übersilbert, so il Sign. Conte Papa Fava, Italiano p[er] Ih[ro] F. G. v[er]ehrt. Unter Nummer 129 wird ein Vhrwerckh. von marggraff Fridrich[en] [etc.] vermerkt und unter Nummer 139 ist ein Calendar: spectum vff pergam. Von Junckh: Röden[?] [etc.] gelistet. Über eine testamentarische Verfügung gelangte schließlich auch ein Instrument samt Futteral aus dem Besitz der Gräfin von Waserburg in die Reißkammer. Philipp erhielt aber auch Bücher und Modelle als Geschenke, was zwei weitere Beispiele deutlich machen. So ist der Eintrag Hessische Chronic annotiert mit: Noch einmahl in Roth Led[er], von doct: Spanngern Ihro F. G. verehrt. Auf Folio 11 verso ist hingegen vermerkt, dass der Polygraph: Tritham: dem Landgrafen von einem Philipp Müller verehrt wurde; von diesem stammte wohl auch ein Holzmodell einer sogenannten doppelten Türe sowie ein Schlauch – die zuletzt genannten Objekte sind aber nicht explizit als Verehrungen ausgewiesen.Dem Inventarium ist teilweise auch zu entnehmen, dass Ankäufe und Erwerbungen von Büchern oder Instrumenten erfolgten:
So ein niederländisches Messinstrument zum Grundlegen, welches der dechant v[on] Lich Ih[ro] F. G. verkaufft hatte. Von diesem stammte auch ein Neperi virgular Arithm: sowie ein Triens vign. pro repari secundis. Vom Baumeister zu Giess[en] kaufte man Ein rund, Mössin, Geometrisch Instr[ument]. Ein weiteres, wohl ähnliches Instrument hatte der Landgraf wiederum von dem Obristen Lucan bekom[m]en. Von diesem stammte dann auch ein Geschützaufsatz, der unter Nummer 43 gelistet ist. Und ein namentlich nicht genannter Schlosser arbeitete an einem Nocturnal: 132. Ein new Mössin Nocturnal sampt seiner zugehör, vom schlosser verfertiget.Die Einträge und Annotationen im Inventarium geben, das sollte deutlich geworden sein, nicht nur einen Einblick in die fürstliche Gabenkultur, dem Status wissenschaftlicher Objekte, sondern auch Aufschluss darüber, dass die Sammlung durch einen recht regen Ein- und Ausgang von Objekten bestimmt war. Demzufolge dürfte es vielversprechend sein, das Butzbacher Beispiel einmal mit höherrangigen fürstlichen Reiß- und Kunstkammern vergleichend in den Blick zu nehmen. Allen voran das an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz angesiedelte laufende DFG-Forschungsprojekt „Ordnung und Aura höfischer Dinge: die Dresdner Kunstkammer des 16. und 17. Jahrhunderts als Ort politischer Interaktion, dynastischer Memoria und fürstlicher Wissenspraxis“ könnte hier wichtige Bezugspunkte bieten.
Gelehrten-Netzwerke, Objekte und Kunstkammern
In dem Inventarium bildet sich zugleich auch Philipps Gelehrtennetzwerk ab, was im Folgenden zumindest kurz und knapp angedeutet werden soll. Von Johannes Faulhaber, einem führenden Mathematiker und Ingenieur seiner Zeit, befanden sich zahlreiche Schriften und zwei Modelle in der Butzbacher Reißkammer. Dies lässt sich in Teilen wohl damit erklären, dass Faulhaber und Philipp im Austausch über Inventa und Secreta miteinander standen, wofür Faulhaber zwischen dem 13. August 1618 und dem 12. April 1619 für kurze Zeit auch eine Anstellung in Höhe von 50 Gulden durch Philipp erhielt, um sich mit diesem schriftlich über mathematisch: arithmetisch: und mechanischen Inventionen auszutauschen.
Zudem vermittelte Faulhaber dann wenige Jahre später, 1621, Daniel Mögling an den Hof von Landgraf Philipp und damit standen der Ulmer Rechenmeister und der Arzt, Astronom und Mathematiker Mögling wiederum selbst wohl im engen Austausch miteinander. Die wissenschaftliche Betätigung beider Gelehrter dokumentiert auch ein Eintrag im Inventarium unter den Libri Miscellanei: Allerhandt Verborgene Enigmata vnd schrifften D Möglings vnd Faulhabers.Von Faulhaber besaß der Landgraf immerhin folgende Manuskripte/Bücher sowie Grafiken und Modelle:
Faulhaber geschrieben Rechenbuch,
Newer Arithmet: Wegweißer Faulhab.,
Item Cubicossischer Lustgarten,
ingenieurs schul Faulhabers,
Academia Algebra Faulhabers in Quart // vnd noch .3. vngebundene exemplaria,
Geometr: vnd Perspectivische Inventiones // Faulhaberj,
Faulhab. von Geometr: Instr[umenten],
Faulhabers continuatio des Marhematisch[en] // Kunstpiegels. vngeb. ist im Geometrischen // band.,
10000 Logarithmus Faulhaber,
Faulhab: vom Kreiß vmb den D. ungeb.,
Faulhb. geheime Kunstkam[m]er // in 4.,
Faulhab: Roßmühl.,
2. 3 vnd 4te theil von Faulhabers ingenieur // schul darbeÿ die Kupferstück im [?] folio ge[bunden],
Kupferstück von Faulhabers // prognostico,
Zweÿ modell zweier Faulhabersch[en] // mühlen.
Landgraf Philipp und Daniel Mögling machten sich wohl einige Gedanken, welcher Rubrik sie die Werke Johannes Faulhabers im Inventarium zuordneten. Faulhabers bedeutende vierbändige Ingenieurs Schul sollte besser nicht unter der Rubrik Architektur gesucht werden, denn der erste Band ist unter den Büchern zur Arithmetik gelistet und die Bände zwei bis vier sind schließlich unter den LIBRI del Arte MILITARIA eingetragen. Das ist insofern schlüssig, als Faulhaber im ersten Band die ARITHMETICA LOGARITHMICA abhandelt – mathematische Grundlagen, die eben auch für Architektur, Mechanik und Festungsbau relevant sind. Die anderen drei Bände haben wiederum den ‚praktischen‘ Festungsbau zum Thema und sind deshalb bei den LIBRI del Arte MILITARIA zu finden (zum Beispiel Band Nummer vier: Fortificatione Practica offensiva, & defensiva).
Hingegen ist Johannes Faulhabers Geheime Kunstkammer, die das Themenfeld von Mechanik, Architektur und Festungsbau stichwortartig anreißt, unter den geographischen Büchern verzeichnet. Die Geheime Kunstkammer bewarb Faulhabers tatsächlich zu besichtigende Kunstkammer und das darin enthaltene architektonisch-mechanische Wissen in Ulm. Ob das aber die Rubrizierung unter Geographie hinreichend begründet, sei offen gelassen.Dass zwischen Landgraf Philipp und Johannes Faulhaber getroffene Arrangement über die Unterrichtung in Fragen von mathematisch: arithmetisch: und mechanischen Inventionen macht auch deutlich, auf welche Art und Weise Faulhaber sein Wissen überregional an Interessenten vermarktete. In Faulhabers Kunstkammer waren eben jene zu lehrenden Inventionen als materielle und immaterielle Wissensobjekte vorhanden, die dann auch Eingang in andere Sammlungen finden konnten. So erhielt Landgraf Philipp von Faulhaber wohl im September 1618 zwei Modelle von Mühlen, die über die Messe in Frankfurt am Main nach Butzbach geschickt wurden.
Im Inventarium sind diese unter den Nummern 19 und 20 verzeichnet. Vielleicht handelte es sich bei einem der beiden Modelle um dasjenige der bereits 1616 im Druck publizierten Hauß- oder Handmühlin Faulhabers (Abb. 9).- Abb. 9: Johannes Faulhaber (invenit), Hauß- oder Handmühlin, aus: Johannes Faulhaber: Ein mathematische newe Invention einer sehr nutzlichen und geschmeidigen Hauß- oder Handmühlin […]. Augsburg 1616. BSB München 4 Math.a. 96.
So unscheinbar das Verschicken von Modellen oder Büchern zunächst ist, um so interessanter ist das dahinterstehende Konzept. Denn nicht nur im persönlichen Austausch ließ Faulhaber sein ‚Wissen‘ zirkulieren. Mittels gedruckter, günstig zu erwerbenden Listen in Heftformat bewarb Faulhaber kontinuierlich die Inventionen und Secreta seiner Kunstkammer,
die er gegen eine entsprechende Entlohnung mitteilen und lehren wollte. Das Vorgehen Faulhabers dürfte den Tätigkeiten des „professore de’ secreti“ entsprechen, wie es William Eamon für einen Akteurtypus frühneuzeitlicher Wissensgeschichte beschreibt. Gelehrte vermarkteten demzufolge ihr meist ‚geheimes‘ Wissen in professioneller Weise und bestritten davon auch ihren Lebensunterhalt, was Daniel Jütte treffend als „Ökonomie des Geheimen“ beschreibt.Faulhabers listenartigen Publikationen dienten also nicht nur zur Dokumentation und überblicksartigen Konsultation seiner Sammlung, sondern zirkulierten auch als Werbeschriften technisch-mechanischen Wissens. Sie sollten neugierig auf den Besuch der Sammlung machen oder aber den brieflichen Austausch befördern. Vor allem die 1628 als schmale Broschüre gedruckte Geheime Kunstkammer von Johannes Faulhaber zeichnet diese doppelte Funktion aus (Abb. 10): Sie verzeichnet und vermarktet Objekte und Wissen aus seiner Ulmer Kunstkammer gleichermaßen. Die Publikationspraxis Faulhabers macht so einerseits auf die in der konkreten Sammlung enthaltenen Objekte und Gegenstände aufmerksam, andererseits kommuniziert diese das in den Objekten und Gegenständen enthaltene Wissen, das es jedoch in der Regel vor Ort zu studieren galt oder aber über den brieflichen und materiellen Austausch von Traktaten und Modellen über räumliche ‚Grenzen‘ hinweg zu bewerkstelligen war – so wie die im Inventarium gelisteten Schriften und Modelle Faulhabers.
- Abb. 10: Johannes Faulhaber, Geheime Kunstkammer, Titelblatt, 1628. Zentralbibliothek Zürich, 18.15,38.
Schließlich konnte auch die Butzbacher Reißkammer Landgraf Philipps mit ihren mathematischen, astronomischen oder architektonischen Schriften, Modellen sowie Mess- und Zeicheninstrumenten, zu einem besuchenswerten Ausgangsort des Studiums und des Wissenserwerbs werden. Das macht Faulhaber in seiner Academia Algebrae (1631) mehr als deutlich. Er preist die wissenschaftliche Expertise Philipps, der, was allgemein bekannt sei, in allen mathematischen vnd mechanischen künste[n] besondere wissenschafft vnd experientz habe, die mehr zu verwundern als zu imitiren ist. Im Anschluss bringt Faulhaber ein längers Zitat aus der Widmung der Mechanischen Kunst-Kammer von Daniel Mögling an Landgraf Philipp. Der Hofmathematiker und Hofastronom nennt folgende Disziplinen, die in Butzbach studiert werden konnten und die, das ist zu betonen, wiederum in Teilen mit den Rubriken des Inventarium übereinstimmen: Wann man wolte per species Matheseos, Arithmeticam, Geometria[m], Musicam, Opticam, eius præcipuè partem Scenographica[m], Architectonicam, sonderlich Militarem, oder fortificatoriam, Machinatoriam, Astronomiam Astrologiam (Rationalem & Modestam, non temerariam & superstitiosam intelligo.) vnd andere hie her gehörige wissenschafften / ordentlich hindurch gehen / sehr weitläuffig / mit anwendung geraumer zeit / zu deduciren were / etc. Demzufolge war die Reißkammer ein veritabler Ort der Wissensaneingung und an das Inventarium belegt mehr als eindrücklich, die hierfür benötigten Grundlagen: Bücher, Manuskripte, Druckgraphiken bis hin zu Instrumenten und Modellen. Johannes Faulhaber beschließt das Zitat von seinem Freund Daniel Mögling schließlich mit dem Wunsch, selbst vor Ort ein besonderes Objekt in Augenschein nehmen zu können, das allerdings nicht in der Reißkammer stand: Vnd wolte ich [Johannes Faulhaber, S. F.] nichts liebers wünsche[n] / als daß ich einmal die vnderschiedliche grosse / von Johann Kepplero vnd andern mir gerümbte / ansehnliche / vnd von Metall künstlich elaborierte organa Astronomica, bey dero Fürstl: Hoffstatt zu Putzbach sehen köndte.
Doch Faulhabers Wunsch, den sicherlich spektakulären Brunnen im Lustgarten Philipps eingehender zu studieren, dürfte sich wohl nicht erfüllt haben.Fazit
Ungeachtet dessen, ob Faulhaber den Brunnen zu Gesicht bekam oder nicht, lässt sich abschließend festhalten, dass die Reißkammer Landgraf Philipps offenbar dem Studium der species Matheseos, ausgewählten Disziplinen der praktischen Mathematik, diente. Den Manuskripten, Büchern, papiernen oder vergoldeten Zeichen- und Messinstrumenten und den Modellen dürfte wohl eine besondere Bedeutung in der jeweiligen Auseinandersetzung mit den Disziplinen zugekommen sein. Ihr ideeller wie materieller Wert artikuliert sich auch in ihrem Nachleben als verehrungswürdige Objekte, die zwischen Fürstinnen und Fürsten, Gelehrten und Hofbeamten zirkulieren konnten und so Teil einer Gabenkultur, dynastischer Memoria und auch „Wissensdiffusion“
Das zwischen 1628 und 1643 immer wieder annotierte Inventarium gibt uns folglich nicht nur Aufschluss über Art und Umfang der Sammlung und ihrer Ordnungskriterien in einer fürstlichen Reißkammer, sondern vor allem auch die Wahrnehmung und den Umgang mit den Objekten. Immerhin erfahren wir zum Teil etwas über die Herkunft einzelner Objekte, ihre Materialität und ihren symbolischen Wert. Darüber hinaus fällt auf, dass die Objekte aus Philipps Reißkammer wohl vorrangig im engeren dynastischen und höfischen Netzwerk zirkulierten und zudem auch als Ausstattungsstücke für verschiedene fürstliche Gebäude in der Landgrafschaft Verwendung fanden. Das Inventarium unterscheidet sich somit in seiner dynamischen Gebrauchsform von statisch gehaltenen Inventaren. Nicht zuletzt deutet der stark variierende Duktus der Schrift genauso wie die mal dicht und eng gesetzten sowie zum Teil schwer leserlichen Annotationen des Inventarium wohl auf einen weitgehend persönlichen Gebrauch seines Besitzers hin.