Ordnen und Inventarisieren in den anhaltischen Fürstentümern

Abstract
Als vergleichsweise kleines Fürstentum war Anhalt stets darauf angewiesen, seine Rechte auch mit der Feder verteidigen zu können, und ein funktionierendes Archivwesen hatte für diese Kämpfe die Waffen bereitzustellen. Die Landesteilung von 1603 brachte das Dilemma hervor, eine umfangreiche und für alle vier Linien relevante Überlieferung zwar zentral verwahren, eine dezentrale Nutzung aber ermöglichen zu müssen. Der Beitrag analysiert die eingeschlagenen Lösungswege und zeigt dabei Möglichkeiten und Grenzen der vormodernen Inventarisierungspraxis angesichts der territorialen Zersplitterung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.
Abstract (englisch)
As a relatively small principality, Anhalt always depended on the ability to defend its rights by pen. The weapons for these battles had to be provided by an efficient archive system. The division of the country in 1603 brought about the dilemma of having to store comprehensive records relevant to all four lines centrally, while still having to enable decentralized access. The article analyses the proposed solutions and shows the possibilities and discusses the limits of the early modern inventory practice in view of the territorial fragmentation in the Holy Roman Empire.
Inhaltsverzeichnis
Es dürfte ein Gemeinplatz sein, dass Ordnen und Inventarisieren nicht einfach anthropologische Konstanten sind, sondern sich nach Ort und Zeit unterschiedlich ausprägten und gerade im Zeitalter der Datenbanken und Onlinefindmittel weiterhin ausprägen. Unstrittig dürfte damit ebenso sein, dass die Prinzipien und Praktiken des Ordnens als eigener kultureller Technik ein ebenso legitimer wie aussagekräftiger Gegenstand historisch-kulturwissenschaftlicher Analyse sind. Dabei fällt den Ordnungen des Wissens, wie sie sich nicht zuletzt in Archiven manifestieren, eine vor allem aus Sicht der Herrschaftsträger entscheidende Rolle zu.
Dass die folgenden Ausführungen ihren Blick auf das frühneuzeitliche Anhalt richten, verdankt sich der dynastischen Konstellation eines in mehrere Linien geteilten Gesamthauses und somit auch Gesamtarchivs. Sie erlaubt Blicke darauf, wie ein gemeinsamer Besitz an einem Ort gelagert und an mehreren Orten genutzt werden konnte, ohne in Gänze reproduziert oder immer wieder hin und her transportiert zu werden. Die Heranziehung des landesherrlichen Gedächtnisses über die Distanzen zwischen Bernburg, Dessau, Köthen und Zerbst hinweg sollte über die Ordnung und Inventarisierung der Archivalien sichergestellt werden. Es blieb nicht bei bloßen Mehrfertigungen der Inventare. Ob und wie diese Überwindung der Entfernungen auf die Praktiken des Inventarisierens selbst zurückwirkte, ist Gegenstand dieses Beitrags. Er ruht – neben dem Inventar selbst – auf einem erhaltenen Bearbeitungsbericht des damaligen Archivars und weiteren Akten zu seiner dienstlichen Tätigkeit. Am Beispiel der anhaltischen Archivgeschichte soll aufgezeigt werden, wie sich archivische Arbeitstechniken in Auseinandersetzung mit den politisch-dynastischen Anforderungen entwickelten und dabei zu bemerkenswerten Lösungen gelangten.
Zwischen geschichtlicher Einheit und faktischer Zersplitterung. Anhalts Archivwesen bis 1704
Als kleineres Territorium betrachtete Anhalt das ius archivi – das Recht, ein Archiv zu führen – als ein Indiz für die eigene Reichsstandschaft
und damit als wichtiges Argument in möglichen Rangstreitigkeiten. Hinzu kam, und dies soll einen Schwerpunkt der Betrachtung bilden, dass das Haus Anhalt sich immer wieder in einzelne Linien aufsplitterte, die einen grundsätzlich gleichberechtigten Zugriff auf die Überlieferung des Gesamthauses einforderten. Es lagerte zwar in Dessau, hatte aber zugleich in Bernburg, Köthen und Zerbst zu ‚funktionieren‘. Distanzen zu überbrücken, war ihm sozusagen in die Wiege gelegt. Weder räumlich noch organisatorisch kam das Anhaltische Gesamtarchiv jemals zu der Ruhe, die in der Archivgeschichte gemeinhin angeblich herrscht. 1274 scheint es erstmals in den Quellen auf, als in der fürstlichen Kanzlei Abschriften zum dauernden Verbleib angefertigt werden. Ausdrücklich erwähnt wird ein Archivwesen im Jahr 1339, als ein Verkauf mit Bezug auf eine frühere Urkunde in Cerwist cum aliis litteris dictorum principum untermauert wird. Schon früh regelte man das Problem, dass die verschiedenen Linien auf Urkunden zugreifen mussten, die für das gesamte Haus Anhalt Relevanz besaßen, und schlug damit den Generalbass der anhaltischen Archivgeschichte an. Ein Schiedsspruch aus dem Jahr 1452 legte einen Ort für die Urkunden fest, an dem jede Linie Abschriften fertigen könne. Die Originale aber seien unverzüglich an die vorgenannte Stätte zu bringen, diese letztere mit vier angehängten Schlössern und Schlüsseln so gesichert werden, dass ein Teil ohne des anderen Wissen und Genehmigung darin nicht zu thun habe. Bereits hier also klingt das eingangs angesprochene Grundproblem der anhaltischen Archiv- und gesamten Territorialgeschichte an. Die häufigen Teilungen und Wiedervereinigungen warfen stets von neuem die Frage auf, wie die Interessen des Gesamthauses gegen diejenigen der einzelnen Linien abzuwägen seien. Diese Spannung schien sich im Laufe des 16. Jahrhunderts in Wohlgefallen aufzulösen. Um 1570 war ganz Anhalt in der Hand des in Dessau residierenden Fürsten Joachim Ernst vereinigt. Sein im dortigen Schloss vereinigtes Archiv erfuhr durch die Dokumente der erledigten Linien und säkularisierten Klöster erhebliche Zuwächse.- Abb. 1: Anonym, Zeichnung des Dessauer Schlosses, vor 1700, aus: Ludwig Würdig, Bernhard Heese: Das Residenzschloß. In: Die Dessauer Chronik, Walter Schwalbe (Ed. H. de Roth), Dessau 1926/29, S. 446-461. Foto: wikimedia commons.
Konsequent hat er die in Dessau in dem gewölbten Untergeschosse unter den Zimmern des Herzogs
vereinigten Dokumentenmassen als Gelegenheit gesehen, das Vereinigte historiographisch zu begründen. Sollte eine Geschichte des Hauses jedoch Bestand haben, musste sie auf einer soliden Quellenbasis ruhen, die zwar vorhanden, aber nicht hinreichend geordnet war. Eine Katalogisierung war erforderlich, die die neugewonnene Einheit des Fürstentums ebenso als Quellengrundlage begründen wie als Gesamtcorpus verkörpern sollte. Joachim Ernst gab dem aus Frankfurt an der Oder gebürtigen Juristen Bartholomaeus Schwaneberger den Auftrag, alle die Briefe und Sachen, so in den fürstlichen anhaltischen Archiven und Clausuren vorhanden, fleißig zu revidiren und zu Register zu bringen, was 1589 beendet war. Noch im Jahr zuvor war die sogenannte Georgsbibliothek, die bereits in den Jahren zuvor in das Dessauer Schloss überführt worden war, in das Gesamtarchiv inkorporiert worden. Im Erdgeschoß von dessen Ostflügel war damit ein für die Verhältnisse eines kleinen Fürstentums sehr großer Wissensspeicher angelegt worden, aus dem Schwaneberger eine Chronik erarbeiten sollte. Als er sie vollendet hatte, kam sie nicht zum Druck. Als Hauptgrund ist der Tod des Auftraggebers Joachim Ernst und die vorläufige Übernahme der Regierungsgeschäfte durch seinen ältesten Sohn Johann Georg anzusehen. War zuvor noch die Einheit des Fürstentums unhinterfragtes Ziel gewesen, war Anhalt gefordert, eine Teilung auszuhandeln. Die Verhandlungen stellten die soeben gewonnene Vollständigkeit und Integrität des Gesamtarchivs in Frage und ließen dessen Zerstückelung in Linienarchive befürchten. Dem stand die Unmöglichkeit entgegen, die Nachfolger ohne ein funktionierendes Gedächtnis ihrer Verwaltung ihr Erbe antreten zu lassen, so dass Kompromisse erforderlich waren. Die Lösung lehnte sich an andere Regelungen zu diesem Problem an. Unter Leitung des ältesten regierenden Fürsten als Senior verblieb eine Reihe gesamtanhaltischer Besitzungen und Aufgaben als Gesamtung eine Angelegenheit des Gesamthauses, so auch das Archiv. Um den Ansprüchen der neuen Linien gerecht zu werden, wählte man den Weg der Ausreichung von Kopien. Was als politischer Kompromiss taugte, erwies sich angesichts der zur Disposition stehenden Schriftgutmassen schnell als Illusion. Sehr früh nach der Vereinbarung kam es folgerichtig zu den ersten Durchbrechungen des Prinzips. Ein 1611 in Dessau getroffener Abschied bestimmte, dass diejenigen Acta, so zu jedes fürstlichen Antheils gehörig, zu separieren, damit sie bey denselben Antheilen in originali verbleiben und forderlichst ohne Verzug gefolget werden mögen. Bereits im Folgejahr wurden in diesem Sinne die Gernroder Urkunden nach Bernburg verbracht, ab 1616 ging Archivgut nach Zerbst, 1617 verlagerte man die Nienburger Urkunden nach Köthen. Immer wieder wurden für aktuelle Fragen Urkunden und Akten angefordert und ausgeliefert, während unmittelbare Rückläufe nicht bezeugt sind. Von dieser Praxis unangefochten, wiederholte die Erbeinigung von 1635 die Bestimmungen des Erbteilungsvertrags von 1603. Versuche der jeweiligen Senioren, Teile des Gesamtarchivs zurück zu bekommen, blieben in der Regel ohne Erfolg und zogen sich bis zum Zusammenfall der anhaltischen Linien und der Gründung eines Anhaltischen Staatsarchivs 1872 hin. Resultat war eine Überlieferung, deren Systematik und Kohärenz durch tagespolitisch motivierte Entfremdungen schwer gestört, allerdings nicht zerstört war. Ungeachtet all dieser Gebrechen blieb das Gesamtarchiv Gegenstand der Aufmerksamkeit der anhaltischen Fürsten und der von ihnen bestallten Archivare. Diese wurden vom jeweiligen Senior gemeinsam mit vier anderen Beamten der Gesamtung ernannt und erhielten 150 Taler Besoldung. Als erster Gesamtarchivar wurde noch vor der Landesteilung Bernhardt Busch 1602 bestallt. Personalunionen mit dem Dessauer Linienarchiv bzw. mit Registratorenstellen sind für Wilhelm Heinrich Herrmann bezeugt und können für seine Vorgänger angenommen werden. Nach dem Tod des Gesamtarchivars Simon Wolff ergriff Fürst Johann Casimir von Anhalt-Dessau die Initiative und schlug den aus Frankreich zurückgekehrten studierten Juristen August Milagius als neuen Gesamtarchivar vor. Sein 1660 ausgefertigter Bestallungsbrief malte ein düsteres Bild des Archivs, das in ziembliche Unrichtigkeit gekommen, unnd die Registraturen nicht vollkömmlich, auch in keiner rechten Ordnung verfasset seyn. Es befindet sich auch daß unterschiedene documenta daraus abgefordert, theils auch wohl gar von abhanden mögen gebracht worden seyn. Welche Rolle dabei der Unfleiß von Milagius´ Amtsvorgänger spielte, muss offenbleiben, die schwierige Doppelstruktur als Gesamtarchiv und Altarchiv der vier Linien dürfte allerdings maßgeblich zur Unordnung beigetragen haben. Milagius oblag es, daß gedachtes unser gesambtes Archivum in eine besondere Ordnung gebracht, redintegriret undt hinkünftig treulig und fleißig beobachtet werde […]. Dass er überdies das Problem der offenen Entleihungen angehen sollte, vervollständigte nicht nur den Aufgabenkatalog. Es konfrontierte ihn auch mit den Folgen, die der im politischen Raum ausgehandelte und wenig praxistaugliche Kompromiss von 1603 für den Zustand des Archivs hatte.Versuch eines Neuanfangs. Die Neuinventarisierung Wilhelm Friedrich Herrmanns
Obwohl Milagius bereits 1663 eine neue Klassifikation vorlegen konnte, gelang es ihm offenkundig nicht, eine dauerhaft tragfähige Ordnung zu schaffen. Anders ist nicht erklärbar, dass sein Nachfolger Wilhelm Friedrich Herrmann erneut mit einem Repertorium beauftragt wurde. Über dessen Erstellung gibt seine Widmung an Fürst Viktor Amadeus von Anhalt-Bernburg Auskunft, die Herrmann seinem fünfbändigen Repertorium vorangestellt hat.
Wie bei Schwaneberger, waren auch hier Archivarbeit, Rechtssicherung und dynastische Repräsentation eng miteinander verwoben. Herrmann selbst erwähnt in seinem Vorwort, dass er zu Fertigung des neuen operis Historico-genealogici Anhaltini was das Archiv vermag bey- und angetragen. Gemeint war mit diesem neuen Opus die siebenteilige Historie des Fürstenthums Anhalt aus der Feder des gebürtigen Zerbsters und Frankfurter Professors Johann Christoph Beckmann. Vermutlich war es Fürst Johann Georg II. von Anhalt, der diesen mit der Anfertigung einer großen Landesgeschichte beauftragte. Dabei hat es sicher eine Rolle gespielt, dass Anhalt dabei war, seine Ansprüche auf die ausgestorbene Lauenburger Linie geltend zu machen. Weiterreichendes Ziel war aber, zu anderen Territorien mit einer Landesgeschichte nach den neueren Standards, wie sie etwa Brandenburg mit dem Werk Samuel Pufendorfs hatte, aufzuschließen. Die Arbeiten machten gründliche Archivstudien notwendig, die der 1687 bestallte Herrmann zu unterstützen hatte. Dieser hatte sechs Jahre nach seinem Amtsantritt einen Bericht vorgelegt, in dem er auf die Unzulänglichkeit des überkommenen Findmittels hinwies und die durch ihn getroffenen Einzelmaßnahmen wie ein Register und genauere Auflistungen verwies. Eine vollständige Neuverzeichnung hatte er freilich nicht in Aussicht gestellt. 1704 aber erteilte Fürst Viktor Amadeus als Senior des Hauses Anhalt Herrmann den Auftrag, ein neues Repertorium anzufertigen. Dass er viele Ursachen gehabt, die Übernehmung dergleichen ansehnlichen Wercks in Unterthänigkeit zu depreciren, zuforderst, da nebst meiner hiesigen Ordinar-Verrichtung eine gewisse Expedition mir annoch in etwas obgelegen […] hinderte seinen Fürsten nicht, auf der Erfüllung dieser Aufgabe zu bestehen und ihm einen Kopisten zur Seite zu stellen, über dessen mannigfaltigen errorum Herrmann aber ebenfalls Klage führte. Über den Verlauf der Arbeit berichtete er in seinem Widmungsschreiben,daß ich manchen Tag im Winter, da in dem Archiv zu schreiben und lange zu verweilen die Kälte verbietet, vielfaltig müssen hin und wieder gehen, zumahln bey öfterer Interpellation meiner anderen Berichts-Arbeit, und alsdann zur Elucubration des Geforscheten manche Nacht zu Hülffe nehmen.
Dem hohen Zeitdruck schrieb er es zu, dass das Werk vielleicht bey mehrerer undt längerer Muße noch wohl etwas zu poliren gewesen währe.
Nach längeren Verhandlungen erhielt Herrmann von jeder fürstlichen Linie eine Entlohnung von 100 Talern.- Abb. 2: Titelblatt des Repertoriums des Gesamtarchivs, um 1706, LASA, Z 4 Registrande I.
In seiner Gesamtheit bildet das fünfbändige opus Herrmanns ein seit drei Jahrhunderten herangezogenes Arbeitsmittel, das in retrokonvertierter und vielfach veränderter Form noch heute Recherchen zugrunde liegt. Es erschließt aber nicht nur Quellen, sondern stellt selbst, gemeinsam mit der schon zitierten Widmung und anderen Dokumenten zu Herrmanns Amtsführung, eine aussagekräftige Quelle zu den Ordnungs- und Inventarisierungspraktiken in der Frühen Neuzeit dar. Leider hat sich Urmaterial wie die von ihm zu Beginn seiner Amtszeit gefertigten Listen und Register, die wahrscheinlich in das Repertorium eingeflossen sind, nicht erhalten.
Dass die vorhandenen Quellen in vier Einzelterritorien zu recherchieren sind, zeigt, dass die Fürsten in Bernburg, Dessau, Köthen und Zerbst die Arbeit nicht nur gemeinsam bezahlten. Das Anhaltische Gesamtarchiv erfuhr Zuwendung und Zugriff nicht nur von dem ein Stockwerk höher weilenden Fürsten von Anhalt-Dessau, sondern von gleich vier, durch zwischenzeitlich bestehende Nebenlinien noch mehr Fürsten. Der Geschichtsschreibung und anderen Disziplinen stand es, von der Benutzung Beckmanns abgesehen, bis weit in das 19. Jahrhundert hinein kaum zur Verfügung. Der Zugang war aber auch nicht exklusiv auf das Territorium beschränkt, in dem die Archivalien physisch gelagert wurden. Der vielbeschworenen Einheit Anhalts zum Trotz diente das Gesamtarchiv vier Herren, die oft genug eben nicht an einem Strang zogen. Welche Auswirkungen diese Konstellation auf die von Herrmann durchgeführten Verzeichnungsarbeiten hatte, soll anhand einer Darstellung dieser Arbeiten deutlich werden.Ein Zeughaus in Folio? Archivinhalte und Inventarisierungstechniken
Zunächst ist zu fragen, was eigentlich Gegenstand seiner Inventarisierungsarbeiten war. Unter dem Begriff Gesamtarchiv firmierten nicht allein Archivalien im heutigen Sinne. Dass die sogenannte Georgsbibliothek seit 1588 in dieses Corpus integriert war, wurde bereits erwähnt. Herrmann hat diese Zuordnung nicht in Frage gestellt, sondern die Buchtitel als eigenen Catalogus librorum in den fünften Band seines Repertoriums aufgenommen.
Genauer lässt sich anhand seiner Repertorieneinträge beschreiben, wie Herrmann die zu inventarisierenden Stücke erfasste. Neben dem – später zu behandelnden – Inhalt der Dokumente beschrieb er in Einzelfällen deren physischen Zustand, etwa wenn er ist aber so wohl als die Kopie sehr verweset und vermodert vermerkt. Um das Archiv ‚gangbar‘ zu machen, beschreibt das Repertorium teils ausführlich die Räumlichkeiten und deren Mobiliar, um das dort gelagerte Archivgut verortbar zu machen. Diesem Zweck dürfte auch die vereinzelt anzutreffende Hervorhebung auffälliger Verpackungen dienen. Dagegen ist kein durchgängiges System von Signaturen zu erkennen, die sich bei Herrmann auf Unternummern zu einem größeren Konvolut beschränken. Offenkundig mussten die häufig vagen verbalen Lagerungsangaben für eine Aushebung der Archivalien ausreichen.
- Abb. 3: Lagerungsangabe für die kaiserlichen Lehnbriefe im Repertorium des Gesamtarchivs, um 1706, mit späteren handschriftlichen Zusätzen, LASA, Z 4 Registrande I.
Schon bei einer oberflächlichen Betrachtung fällt auf, dass die Ausführlichkeit seiner Aktentitel äußerst stark voneinander abweichen. An Pauschalität kaum zu überbieten sind Titel wie Sind fürstliche Missiven befindlich, so wohl deutsche als auch lateinische, welche, weil sie von verschiedenen Inhalts sind und guten Teils einzeln, nicht füglich nacheinander registriert worden.
Als Wilhelm Friedrich Herrmann die Neuverzeichnung des Gesamtarchivs vornahm, tat er das als Diener eines in mehrere Linien zersplitterten Fürstenhauses, das über wenig politische oder militärische Druckmittel verfügte, seine Ansprüche gegen die der Nachbarn durchzusetzen. Noch die größte Hilfe waren in einem Staatsgebilde wie dem Heiligen Römischen Reich die überkommenen und verbrieften Rechte. Diese nachweisbar zu halten, fiel dem Archiv zu, und so erstaunt es nicht, dass in einem anderen Kleinstaat eines der ersten Werke der Archivtheorie entstand. Der brandenburg – kulmbachische Archivar Philipp Ernst Spieß pries den Nutzen der Archive so:
Die Ruhe eines Staats hanget sehr viel von diesem Kleinod, als der Brustwehr wider alle Ansprüche widrig gesinnter Nachbarn, ab. Ja es ist nur allzu gewiß, daß ein Land unglücklich zu schäzen ist, in welchem nicht auf beständige Ordnung der Archive und Registraturen gesehen wird. Die Gerechtsame des Landes leiden offenbar darunter, weil ohne Urkunden und Acten in Canzleyen nichts gearbeitet werden kann, und es hier nicht auf blossen Wiz und Erfindungs=Krafft, sondern auf den wörtlichen Inhalt schriftlich aufgezeichneter Handlungen ankommt. Der größte Theorist muß mit aller zu Hülf genommenen Sophisterey gegen ein einziges die Sache beweisendes ächtes Document doch endlich unterliegen, und diß ist es eigentlich, was die sorgfältige und ordentliche Verwahrung der Urkunden und Acten nöthig machet, weil sonst der minder wizige oder schwächere Theil gegen den wizigern oder stärkern oft in einer gerechten Sache zu kurz kommen würde.
Spiess breitete hier nur ausführlich einen Sachverhalt aus, den Abt Bernhard von Nienburg 1563 angesichts der Übergabe seines Archivs ebenso plastisch wie präzise als das schwerd, damit ehr sich weren solt
Dementsprechend stand die Sicherung der Waffen, nämlich der Rechte und Besitztitel, im Zentrum seiner Verzeichnung, wie sie sich in den teilweise ausführlichen Regesten niederschlug, die dem Findbuch teilweise den Charakter eines Kopiars verleihen und noch heute in vielen Fällen als Ersatzüberlieferung dienen. Diese Titel nehmen nicht nur den mit Abstand größten Raum in Herrmanns Repertorium ein, sondern übertreffen die anderen Materien auch in der Ausführlichkeit der Beschreibung. Dass sie zudem am Beginn seiner Inventarisierungsarbeiten und somit auch des späteren Findbuchs standen, unterstreicht dies noch: Herrmann hat sich früh dafür entschieden, bei der Anlage seines Repertoriums auf die Grundstrukturen zurückzugreifen, die sein Vorgänger Milagius und wohl auch schon Schwaneberger geschaffen hatten. Allen stand die Ordnung des Wissens, wie sie sich in den Inhaltsverzeichnissen von Enzyklopädien, in Bibliothekskatalogen und Schausammlungen manifestierte, vor Augen. Sie gingen jedoch von dieser Ordnung mit Universalanspruch ab und lehnten sich an eine andere Hierarchie des Wissens an, nämlich der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, wie es etwa der Jurist Theodor Reinkingk mit dem Projekt einer idealen Archivordnung verfolgte. Die Hierarchien begannen demzufolge mit Kaiser und Reich und reichten über die einzelnen Territorialherren bis hinunter zum in Anhalt ansässigen Adel und den aufgelösten Klöstern. Die theologischen Schriften, die die Bibliothekskataloge dieser Zeit anführten, fanden im letzten Band gemeinsam mit den Chroniken ihren Platz. Herrmann und seine Vorgänger ging es eben nicht darum, einen wie auch immer gearteten Kosmos des Wissens abzubilden; ihnen war es weit wichtiger, den Kosmos abzubilden, in dem sich ihre Dienstherren bewegten. Die Ordnung nach den Hierarchien des Ancien Regime verortete die Fürsten von Anhalt in dieser Welt. Zugleich benannte und strukturierte diese Klassifikation die Fälle von Lehensstreitigkeiten, Erbansprüchen und Rangfragen, in denen klassischerweise das Archiv als Arsenal der Rechte und Ansprüche gefordert war.
Als Waffen aber eigneten sich nicht alle im Gesamtarchiv verwahrten Dokumente in gleichem Maße, und Herrmann kategorisierte diese mit teils erfrischender Offenheit, so bei Bemerkungen wie Briefe, die Bergwerke zu Harzgerode belangend, die von keiner Importanz und zu nichts nütze sind oder Eine alte Registratur über Fürst Rudolf zu Anhalts Briefe, so aber wegen der vielen französischen und niederländischen unleserlich geschriebenen Briefen, unvollkommen und zu nichts dienbar ist. Aus unbekannten Gründen hat er von der Option, solche Schriftstücke einfach wegzuwerfen, keinen Gebrauch gemacht. Dagegen nutzte er die Möglichkeit, sie durch eine pauschale Beschreibung an den Rand seines Inventars zu drängen.
Dass die Eignung von Schriftstücken als Waffe historischem Wandel unterworfen war, dokumentiert sein Umgang mit den zahlreichen theologischen Manuskripten. Im 16. Jahrhundert, als sich das Gesamtarchiv formierte, waren Religion und Politik eng miteinander verbunden, und Theologica waren Gegenstand gezielten Sammelns. Fürst Georg III. von Anhalt sammelte nicht nur einschlägige Literatur, sondern war auch als theologischer Schriftsteller, Korrespondenzpartner von Theologen und Sammler von deren Autographen aktiv. Dem letztgenannten Umstand ist es zuzuschreiben, dass das Anhaltische Gesamtarchiv bis heute die weltweit größte Sammlung von Lutherautographen inkorporiert. Diese Stücke erfuhren zunächst große Aufmerksamkeit und sollten unter hohen Sicherheitsstandards mit einem eigenen Kustos verwahrt werden, verfügte man doch mit ihnen in den theologisch-politischen Debatten über authentische Zeugnisse des Reformators. Mit ihnen konnte man nicht nur eigene Positionen untermauern, sondern sich auch als eine Art Nachlassverwalter des Reformators profilieren. Dass diese Stücke allerdings schnell in Vergessenheit gerieten und erst im 19. Jahrhundert gleichsam wiederentdeckt werden mussten, hatte im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen wandte sich das Haus Anhalt gegen Ende des 16. Jahrhunderts dem reformierten Bekenntnis zu. Zum anderen verloren theologische Schriften zusehends an politischer Relevanz, so dass sich die Lutherana in Herrmanns Repertorium lediglich pauschal unter den Papieren des Fürsten Georg aufgeführt fanden. Ähnlich erging es anderen religiösen Schriften, die erst nach der Gründung des Anhaltischen Staatsarchivs einer detaillierteren Erfassung unterzogen wurden. Der Zeitdruck, dem Herrmann sich gegen Ende seiner Maßnahme ausgesetzt sah, mag die sehr pauschale Verzeichnung zusätzlich begünstigt haben, dass die Theologica zuletzt vorgenommen wurden, bezeugt aber ihre um 1700 stark gesunkene Wertschätzung.
Weniger dem Wandel unterworfen war eine archivische Funktion, die in der Erwähnung eines fürstlichen Archivs in Bernburg anklingt, die Klärung der Abstammungen und damit der Erb- und Nachfolgerechte. Über die erbrechtliche Dimension hinaus war sie aber auch Instrument herrscherlicher Selbstdarstellung, wie sie die Fürsten von Anhalt im 16. Jahrhundert gleich vielen anderen Dynastien ‚entdeckt‘ hatten. Dies gehörte auch zur Arbeit von Bartholomaeus Schwaneberger, der für seine Genealogia und Chronik des hochberühmten Königlichen und Fürstlichen Hauses, der Durchlauchten Hochgeborenen Fürsten zu Anhalt, Grafen zu Askanien, Herren zu Zerbst und Bernburg etc. umfangreiche und bis zu den antiken Herrschergeschlechtern zurückreichende Studien betrieb, in denen sich archivalische Forschungen mit aus heutiger Sicht abenteuerlichen Spekulationen in mythischem Halbdunkel vermischten. Sie wurden über das 16. Jahrhundert hinaus fortgeführt, dies geschah jedoch hauptsächlich in den Linienarchiven der vier Residenzstädte.
Eng verwandt waren die Rang- und Repräsentationsfragen, denen Herrmann selbst dann Aufmerksamkeit gewidmet hat, wenn sie in den Dokumenten häufig erst mühsam herausgesucht werden mussten. Manche seiner Aktentitel lassen sich so geradezu als Arsenal von Argumenten und Präzedenzfällen für laufende Rangstreitigkeiten, etwa mit den Magdeburger Bischöfen, lesen, wo in einer Instruktion die Fürsten zu Anhalt anführen, dass sie auf dem Landtag nicht als Stände, sondern als gute Freunde und Nachbarn erscheinen. Zu den Streitigkeiten mit den Grafen zu Stolberg sekundiert er mit dem Fund: Zwei Schreiben der Grafen zu Stolberg an die Fürsten Woldemar und Wolfgang zu Anhalt, darin sie sich der Worte Untertänige gebrauchen, ein Umstand, dessen Hervorhebung ihm wichtiger war als der Inhalt der Schreiben. Glorreiche Taten der Askanier strich Herrmann gebührend heraus, etwa wenn die Überlieferung zur Teilnahme Rudolfs IV. von Anhalt, ‘des Tapferen’, am Feldzug gegen die Republik Venedig detailliert unter Regestierung vermutlich aller 93 Schreiben verzeichnet wird. Kurioser anmutend, aber ebenfalls Teil von Rang und Repräsentation, ist das Schreiben des Kurfürsten, dass beim letzten Jagen in der neuen Mark ein Hirsch geschossen wurde, der sieben Zentner und 30 Pfund wog.
Einheit der Lagerung gegen Vielfalt der Landesherren
Die bisherigen Beobachtungen zeigen, dass das Archiv schwerlich als Einrichtung für historische Forschung oder andere Interessierte gelten kann. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, waren weder die Archivalien noch deren Verzeichnis für eine Verwendung außerhalb der Schlossmauern vorgesehen. Dieser Befund, der mutatis mutandis für viele andere v.a. kleinstaatliche Archive zutreffen dürfte, muss allerdings mit einer Einschränkung versehen werden, die bereits angesprochen wurde und die vielfältig auf die archivarischen Praktiken, so auch auf Herrmanns Repertorium, einwirkte. Die Akten, Urkunden und Karten des Gesamtarchivs blieben zwar stets hinter den Schlossmauern, deren Zahl hatte sich jedoch seit der Landesteilung von 1603 vervierfacht. Das Neben-, Mit- und Gegeneinander des Gesamtarchivs und der Linienarchive spiegelte die Gesamtsituation des Hauses Anhalt wider, in der zahlreiche Regelwerke und ausgefeilte, mitunter quälende Abstimmungsprozesse die häufig divergierenden Linieninteressen nur notdürftig überbrückten. Wenn Herrmann mit seinem Repertorium Ordnung über Distanzen hinweg schaffen wollte, so waren es keineswegs nur räumliche Distanzen, die es zu überwinden galt. Weit über pragmatische Aspekte der Lagerung und Inventarisierung hinaus hatten seine Arbeiten eine diplomatische Dimension. Das Gesamtarchiv stellte sich, wie gesagt, als Arsenal von Waffen dar, deren Spitzen allerdings nicht immer in eine Richtung wiesen, und ein Inventar ermöglichte oder erleichterte es, anderen Familienmitgliedern ‘in die Karten zu sehen’. Da von vornherein ein Verbleib des Gesamtarchivs in Dessau vorgesehen war, hätte die alleinige Verfügbarkeit des Repertoriums in dieser Residenz der dortigen Linie einen erheblichen Informationsvorsprung verschafft und alle anderen Linien über die Inhalte und Auswertungsmöglichkeiten der anhaltischen Altüberlieferung im Unklaren gelassen. Abschriften des Repertoriums sollten sicherstellen, dass in allen Linien ein vergleichbarer Kenntnisstand über die im Gesamtarchiv verwahrten Akten herrschte.
Fälle, in denen dies geschah, sind zwar nicht bezeugt, und auch ‘Verschleierungen’ Herrmanns durch bewusst unklare oder missverständliche Beschreibungen sind nicht nachzuweisen. Bemerkenswert ist aber, dass die Regenten der Teilfürstentümer so gut wie keinen Gebrauch von der Möglichkeit machten, das Gesamtarchiv als solches fortzuführen – Akten aus der Zeit nach der Landesteilung sind nur selten aufgeführt, in diesen Fällen zuweilen sogar mit einer Begründung für die Übergabe, und nicht immer wird klar, ob es sich nicht um weit spätere Bestandszuweisungen handelt. Die Akten jedenfalls, die die vier Linien zu den Gesamtangelegenheiten führten, gelangten – vermutlich aus Erwägungen der Geheimhaltung – nicht in das Gesamtarchiv, sondern verblieben in den Linienarchiven, wo sie nur dem Regenten des jeweiligen Teilfürstentums und dessen Verwaltung offenlagen.
Obwohl das Repertorium des Gesamtarchivs in allen Residenzen verfügbar war, bedeutete die Möglichkeit eines direkten Zugriffs auf die Archivalien immer noch eine erhebliche Erleichterung, so dass das Prinzip der geschlossenen Verwahrung in Dessau schon früh aufgebrochen wurde und viele Urkunden und Akten zu Nienburg nach Köthen sowie viele zu Gernrode nach Bernburg gelangten. Dass eine solche Trennung sich nicht sauber durchführen ließ, liegt auf der Hand, und einzelne Akten oder Konvolute stellten offensichtlich einen Zankapfel dar. Aus der Sicht Herrmanns war dies ein unbefriedigender Zustand, der sich kaum entscheidend verbessern ließ; erfolgreiche Rückforderungen waren allenfalls partiell zu erhoffen. Ihm blieb nur, die erfolgten Entleihungen zu rekonstruieren und deren – häufig nur vermuteten – Verwahrungsort für den Benutzungsfall transparent zu halten. Als Basis dieser Arbeiten diente ihm ein von 1543 bis 1726 geführtes Ausleihbuch, über dessen Anlage und Nutzen sich allerdings wegen seines Verlusts keine Aussagen treffen lassen. Das ursprünglich Vorhandene dürfte er anhand der älteren Repertorien nachvollzogen haben. Wo dies misslang, spekulierte er zuweilen über den Gang der Überlieferung oder führte den Verlust einzelner Stücke auf die herrschende Entleihungspraxis zurück. Die Ansprüche des Gesamthauses konnten so wenn schon nicht durchgesetzt werden, so doch gewahrt bleiben. Zu diesem Ziel griff er auch zu ungewöhnlichen Mitteln: Im Falle der nachweislich nach Köthen gegebenen Nienburger Urkunden bezog Herrmann die dort lagernden Urkunden neben den im Gesamtarchiv verbliebenen in seine Verzeichnung ein und bildete so geradezu ein ‘virtuelles Archiv’ avant la lettre.
Da durch häufige Ausleihen von Originalen und Fertigung von Abschriften viele Dokumente zwei- oder mehrfach im Gesamtarchiv und in den Linienarchiven vorhanden waren, fügte er fast durchgängig seinen Aktentiteln die Angaben zu ihrer Überlieferungsform bei. Häufig hat er darüber hinaus vermerkt, ob es sich um ein Original, ein besiegeltes Original, ein eigenhändiges Schreiben oder eine beglaubigte bzw. unbeglaubigte Kopie handelt. Dieses Herangehen war in erster Linie der Notwendigkeit geschuldet, die Dokumente hinsichtlich ihrer politisch-juristischen Tauglichkeit zu qualifizieren. Diese Angaben ermöglichten es ihm teilweise aber auch, die schon im Teilungsvertrag vorgesehene Praxis, Dokumente in Kopie auszureichen, nachzuvollziehen und auf das mögliche Vorhandensein der Originale andernorts hinzuweisen. Zu der inhaltlichen Klassifikation der Dokumente gesellte sich so ein weiteres Kriterium. Vor der Realität eines allen gegenteiligen Beteuerungen der Fürsten zum Trotz kaum heilbar zerfledderten Archivs versuchte er, die Integrität der Überlieferung zu wahren, indem er die Dokumente den Grad ihrer Verfügbarkeit als weiteres Merkmal zuwies. Dieser war verhältnismäßig tief gestaffelt:
- einmal vorhandene, aber nicht mehr auffindbare Dokumente
- nicht mehr auffindbare Dokumente, über deren Vorhandensein begründbare Vermutungen angestellt werden können
- Dokumente, die nachweislich andernorts lagern
- Dokumente, die nur in Kopie im Gesamtarchiv lagern
- Dokumente, die im Original im Gesamtarchiv lagern
Im Zeitalter von Aufstellungen der Kriegsverluste oder bestandsübergreifenden Datenbanken erscheint er so geradezu als Pionier eines virtuellen Archivwesens. Teleologie ist jedoch nicht angebracht; Wilhelm Friedrich Herrmann wandte vielmehr Verfahren an, die der faktischen Zersplitterung der Gesamtüberlieferung ebenso Rechnung trugen wie dem Anspruch auf die Unversehrtheit der Überlieferung, und darin glich sein Archivinventar eher einem Wappenschild, in dem auch die gerade nicht verfügbaren Gebiete noch zumindest als Forderung geführt wurden.
Resümee
Mit der Vereinigung der anhaltischen Fürstentümer 1863 endete das Nebeneinander von Gesamtarchiv und den Linienarchiven, die nun unter der Leitung des Staatsministers und Gesamtarchivars Karl Friedrich Ferdinand Sintenis standen.
Nach und nach verbrachte man Gesamtarchiv und Linienarchive in das 1872 gegründete Herzoglich Anhaltische Haus- und Staatsarchiv im Zerbster Schloss. Dies bedeutete den ersten Umzug des Gesamtarchivs, das trotz wechselnder Seniorate immer im Dessauer Schloss verblieben war. Inwiefern in diesem Zusammenhang Entleihungen aus den Linienarchiven in das Gesamtarchiv reintegriert wurden, muss offenbleiben. In Zerbst erfuhr der Bestand zahlreiche Neubearbeitungen, die aus heutiger und damaliger Sicht als problematisch, ja teilweise verheerend anzusehen sind. Hinzu kamen Kriegsverluste im zerstörten Zerbster Schloss und an den Auslagerungsorten. Dass manche anhaltische Archivalien infolge alliierter Beschlagnahmungen jahrzehntelang in den Archivlagern in Goslar und Göttingen lagerten, erscheint fast als Fortsetzung der Aufgabenstellung, mit der Wilhelm Friedrich Herrmann im Jahr 1706 konfrontiert war.- Abb. 4: Luftbildaufnahme von Schloss Zerbst vor der Zerstörung 1945. Foto: wikimedia commons.
Ihm oblag es, das weit zurückreichende Archiv der Askanier als unteilbaren Rest der anhaltischen Erbmasse zu inventarisieren. Der Zweck dieser Maßnahme unterschied sich nicht von dem anderer fürstlicher Archive; es diente nur mit erheblichen Einschränkungen der Geschichtsschreibung als Wegweiser zu den Quellen, sondern in allererster Linie den politischen Interessen des Hauses Anhalt. Mit den dort verwahrten Dokumenten konnte es seine überkommenen Rechte geltend machen und Dinge durchsetzen, die dem militärisch unbedeutenden und zersplitterten Kleinstaat ansonsten verwehrt geblieben wären. Als ein Zeughaus, dem die Regenten die geschriebenen Waffen im Kampf um Rang und Besitz entnehmen konnten, haben es die anhaltischen Fürsten auch angesehen. Seine Relevanz brachte es aber mit sich, dass es zum Diener von vier Herren wurde; was an einem Ort lagerte, musste an mehreren Orten herangezogen werden können. Auch und gerade im Vergleich zu anderen Territorien mit ähnlicher Konstellation verwundert es nicht, dass in Anhalt “die Sortierung und Aufteilung der Archivbestände ein oft konfliktgeladener, schwieriger und oft kontraproduktiver Prozess”
war. Die Archivalien auszuleihen oder Kopien auszureichen, führte zu einer offenkundig massiven Verunordnung des Archivs. Die projektierte Neuinventarisierung betrieb Herrmann jahrelang mit erheblichem Aufwand. Im Zuge dieser Arbeit berücksichtigte er selbstverständlich die hohe Priorität, die die Dokumentation und Sicherung der askanischen Besitztitel und Privilegien besaß. Wie seine Vorgänger, stand er vor der Aufgabe, eine über die Distanzen hinweg brauchbare Ordnung zu schaffen. Sein Repertorium versuchte, dem gewachsenen Mit-, Neben- und Durcheinander der Gesamthaus- und Linieninteressen gerecht zu werden. Unter den Augen der vier Teilfürstentümer versuchte er, Transparenz nicht nur durch Mehrfertigungen der Findbehelfe herzustellen. Angesichts zahlreicher Entfremdungen, Entleihungen und Unklarheiten über den Verbleib vieler Unterlagen sah er es als eine Lösung an, die in unterschiedlichem Grad verfügbaren Unterlagen auch als solche auszuweisen. Dass er dabei real vorhandenes, entliehenes und verlorenes Archivgut in ein Repertorium integrierte, bezeugt seine Sorgfalt ebenso wie seine Bereitschaft, unter den Augen rivalisierender Erben für ein hohes Maß an Transparenz zu sorgen. Seine Lösung kann in fachlicher Hinsicht noch heute Anerkennung finden; ihre Wurzeln aber lagen nicht im Feld des Archivischen, sondern im politisch-dynastischen Raum. Dessen Erfordernissen waren auch die anderen Inventarisierungsweisen wie die Voranstellung und vergleichsweise detaillierte Beschreibung der rechtlich und dynastisch relevanten Dokumente geschuldet. Dass Herrmann Kopien als solche auswies und so weit ging, gar nicht mehr Vorhandenes zu katalogisieren, lotete das Spannungsfeld aus, in dem sich die Askanier zwischen einer vielbeschworenen dynastischen Solidarität und den tatsächlichen partikularen Eigeninteressen bewegten. Wer den Anspruch auf Einheit des Archivs mit seiner tatsächlichen Zersplitterung vereinigen wollte, konnte wohl kaum umhin, seine Zuflucht gelegentlich im virtuellen Raum zu suchen.