Die Concordantiae Caritatis als Experimentierfeld eines Distant Viewings zur Materialdarstellung im 14. Jahrhundert
Abstract
Wie können dargestellte Materialien mit Methoden der Digital Humanities untersucht werden? Diese Frage steht am Beginn einer Auswertung von Annotationen zu marmoriertem Stein bzw. trockenen Erdschollen/zerklüfteten Felsen auf Bildern aus der Datenbank REALonline. Untersuchungsgegenstand ist die zum UNESCO-Dokumentenerbe zählende Handschrift der Concordantiae Caritatis in der Stiftsbibliothek Lilienfeld (um 1355, cod. 151). Ausgangspunkt ist ein Distant Viewing, d. h. durch Visualisierungen greifbar gemachte Vergleiche von Komponenten vieler Miniaturen. Darauf aufbauende qualitative Analysen zeigen, inwiefern Aspektivierungen von Material für die bildlichen Erzählstrategien dieser Handschrift von Bedeutung sind.
Zu diesem Artikel existiert eine Episode des begleitenden Podcasts “Sonic Trinkets”:
Abstract (englisch)
How can represented materials be studied using Digital Humanities methods? This is the question of a case study on the analysis of annotations to marbled stone or dry earth clods/craggy rocks on images from the REALonline database. The subject is the manuscript of the Concordantiae Caritatis in the Abbey Library of Lilienfeld (c. 1355, cod. 151), a UNESCO document heritage. A distant viewing approach, i.e. comparisons of components of many miniatures made intelligible through visualisations, is the starting point. Qualitative analyses derived from these comparisons show the importance of material aspectivation for the narrative strategies in the visual media of this manuscript.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Die Bedeutung, Bewertung und Wahrnehmung von Materialien stehen und standen zu allen Zeiten in einem produktiven Wechselverhältnis mit den soziokulturellen Praktiken und Prozessen, deren integraler Bestandteil Materialien und Materialitäten sind. Das gilt auch für dargestellte Materialien in visuellen Medien,
Die mitteleuropäische Malerei des 14. Jahrhunderts ist in dieser Hinsicht ein besonders interessantes Forschungsfeld, weil hier erstmals seit der Antike wieder vermehrt mimetischere Darstellungen von Materialien eingesetzt werden. Diese Entwicklung kulminiert im 15. Jahrhundert in einem neuen Realismus, bei dem die Imitation von Materialien und Stofflichkeiten neben anderen Innovationen – etwa auf der Ebene der Vermittlung von Räumlichkeit im Bild – einen wichtigen Bestandteil der Bildgestaltung ausmacht. Obwohl die Forschung viele Meilensteine und die angewendeten Techniken dieser weitgreifenden künstlerischen Prozesse herausgearbeitet hat, wurde vor allem die frühe Phase im 14. und frühen 15. Jahrhundert der österreichischen Kunst ob und unter der Enns und in angrenzenden Regionen kaum untersucht, weder hinsichtlich der Frage, wie die Entwicklung konkret verläuft – also etwa welche Materialien in Darstellungen (zuerst) wiedergegeben werden, ob hier gattungs- oder kontextspezifische Unterschiede erkennbar sind etc. –, noch bezüglich der möglichen narrativen Funktionen dieser Materialdarstellung. Für beide Desiderate können Vergleiche von in vielen Bildern dargestellten Materialien mittels einer Applikation von Methoden aus den Digital Humanities, also zum Beispiel mit einem Distant-Viewing-Ansatz, helfen aufzuzeigen, welche Muster und spezifischen Lösungen in bestimmten geografischen Bereichen, Gattungen oder Nutzungskontexten bestehen, deren Hintergründe dann in Detailstudien untersucht werden können.
Die Grundlage dafür, nämlich detaillierte und strukturierte Annotationsdaten zu den dargestellten Komponenten historischer Bilder, sind jedoch nur in sehr seltenen Fällen vorhanden, und hinsichtlich des dargestellten Materials ist die Ausgangslage noch dürftiger. Bis dato gibt es auch nur wenige Projekte, in denen Anwendungen aus dem Bereich der sog. Künstlichen Intelligenz für die Erforschung von Materialdarstellung in den visuellen Medien vergangener Epochen eingesetzt werden. Auch hier ist die Kunst des 14. und frühen 15. Jahrhunderts generell und die österreichischen Kunst im Speziellen bisher noch nicht in den Fokus gerückt. Auswertungen zu in vielen Bildern dargestellten Materialien sind folglich, lange bevor wir von Big Data (selbst in einem auf die Geisteswissenschaften skalierten Sinn) sprechen könnten, in erster Linie mit einer aufwendigen Datenerstellung verbunden.
Im vorliegenden Beitrag werden deshalb zwei Fragen zentral sein, die an dem Beispiel einer reich illuminierten Handschrift, den Concordantiae Caritatis des Ulrich von Lilienfeld, erörtert werden: Einerseits wird evaluiert, inwiefern Annotationsdaten – wie sie in REALonline, der Bilddatenbank am IMAREAL, erfasst sind – eine Basis für Untersuchungen von dargestellten Materialien in den visuellen Medien des 14. Jahrhunderts bieten. Andererseits wird danach gefragt, welche darüberhinausgehenden Anforderungen als Desiderate abgeleitet werden können, die eine Grundlage für künftige Entwicklungen von Methoden oder Anwendungen im Bereich der Digital Humanities für diesen Forschungsgegenstand bilden können. Um die Ausgangsdaten in REALonline reflektieren zu können, habe ich Darstellungen von marmoriertem Stein und Erde/Fels in den Bildern der Concordantiae Caritatis ausgewählt. Eingenommener Raum und Funktionen dieser Materialien in der Erzählstrategie der visuellen Ausstattung der Handschrift im Stift Lilienfeld unterscheiden sich wesentlich, wodurch verschiedene Anforderungen, die sich im Rahmen des Forschungsprozesses ergeben, thematisiert werden können.
Die Concordantiae Caritatis
Der im Jahr 2018 ins Weltdokumentenerbe aufgenommene Codex 151 in der Bibliothek des Zisterzienserstifts Lilienfeld mit seinen zahlreichen kolorierten Federzeichnungen ist in vielfacher Hinsicht ein bemerkenswertes Zeugnis klösterlicher Kultur im Mittelalter. Einerseits lässt sich die Bedeutung dieses in Lilienfeld entstanden Werks anhand der 40 heute erhaltenen Abschriften des Textes (bzw. von Textteilen) ablesen, die in sieben Fällen ebenfalls bebildert sind und allesamt in das 15. Jahrhundert datieren.ererseits ist seine Breite an typologischen ‚Tableaus‘ beeindruckend, von denen ursprünglich 156 (aufgrund von Blattverlusten heute 153) zu Begebenheiten des Jahreskreises, 73 zu Heiligenfesten und 19 zu gemischten Themen zusammengestellt sind. And
Der Autor des Werks, Ulrich von Lilienfeld, der 1308 in Klosterneuburg oder Wien als Sohn eines von Nürnberg zugezogenen Kaufmanns geboren wurde und von 1345 bis 1351 Abt des Stifts Lilienfelds war, hält zu Beginn der Handschrift fest, wie sein Buch aufgebaut ist (vgl. Abb. 1):
Im obersten Kreis der jeweils linken Seite werden stets das Evangeliumbeziehen. Auch steht immer über einer jeden Darstellung ein Vers zur Erklärung und Auslegung des zugehörigen Bildes. Und auf der gegenüberliegenden Seite ist die Auslegung eines jeden Bildes mit seinem moralischen Sinngehalt ausführlicher im Text enthalten, inwiefern nämlich die Einzelheiten mit dem Evangelium übereinstimmend zusammenhängen.
und daneben vier von den Propheten als Gewährsleute […] bildlich dargestellt. Unter diesem obersten Kreis folgen zwei geschichtliche Begebenheiten aus dem Alten Testament und unter diesen zwei Darstellungen von Dingen aus der Natur, die sich in irgendeiner Ähnlichkeit auf das betreffende EvangeliumDas zugrunde gelegte Konzept der Typologie geht von einem allumfassenden Heilswirken Gottes in der Geschichte aus, das in den alttestamentlichen Vorbildern (Typen) bereits auf die Erfüllung in den neutestamentlichen oder aus den Heiligenleben stammenden Gegenbildern (Antitypen) vorausweist. Auch die gesamte tierische und pflanzliche Schöpfung ist in diesem Sinn auf den Antitypus hin ausgelegt.
Seit 2010 liegt eine Edition inklusive Faksimiles aller illuminierten Seiten der Concordantiae Caritatis vor, die im Wesentlichen von Herbert Douteil erarbeitet wurde und Transkripte der Texte im lateinischenOriginal sowie in einer deutschen Übersetzung wiedergibt: Neben einem umfangreichen Registerteil zu Namen, Begriffen, Bedeutungen und zitierten Bibelstellen sowie einem Quellenverzeichnis umfasst sie auch eine Statistik zu den verwendeten Worten. Damit ist auch für intermediale Vergleiche eine geeignete Grundlage gegeben. Neben den annotierten Digitalisaten der Bildseiten in REALonline (siehe unten, Kapitel „Dargestelltes Material in REALonline“) liegt seit 2017 ein Digitalisat aller Folios der Handschrift im Stift Lilienfeld auf manuscriptorium.com vor.
Kunsthistorische Forschungen hatten bis dato neben der Gliederung der Bildthematik und – relativ allgemein gehaltenen – Untersuchungen zu Text-Bild-Beziehungenm die Frage der Händescheidung im Blick. Dabei wurden entweder drei oder vier Illustrierende angenommen, aber einhellig der Ausführende (sog. „Hauptmeister“) der meisten Bildseiten bestimmt, der sich stilistisch sehr deutlich gegen einen nur für die Gestaltung von drei Folios (fol. 80v, 81v und 96v) greifbaren „fortschrittlicheren Me vor alleister“ abgrenzen lässt.ierung der Handschrift und ihrer Ausstattung wird gemäß der Aussage Ulrichs von Lilienfeld, der sich selbst im Prolog als vormaliger Abt des Stifts bezeichnet, nach seiner Amtszeit und damit um 1355 angenommen. Die Dat Der sog. „Hauptmeister“ wird anhand von Übereinstimmungen zur österreichischen Buchmalerei der 1330er als konservativ bewertet, während der sog. „fortschrittliche Meister“ nach Martin Roland in der Kunst der Region nach 1355 „völlig isoliert“ dasteht, wofür dessen Schulung in einem anderen Gebiet ins Treffen geführt wird. Für den vorliegenden Beitrag ist hinsichtlich des Forschungsstands vor allem von Relevanz, dass es einen stilistisch relativ homogenen Anteil an bildlicher Ausstattung gibt, der auch eine Vergleichbarkeit der Repräsentation von Oberflächen und Stofflichkeiten erwarten lässt, und dass in den bisherigen Untersuchungen zu den Federzeichnungen der Concordantiae Caritatis die Materialdarstellung nicht untersucht wurde.
Letzteres gilt auch für kunsthistorische Forschungen zur österreichischen Malerei in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts: Obwohl die – punktuell eingesetzte – mimetischere Wiedergabe von Material hier eine bedeutende Innovation darstellt, ist dieses Thema, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt. Lediglich vereinzelt finden sich Aussagen über die Repräsentation von Material in den visuellen Medien der Zeit im Zusammenhang mit stilgeschichtlichen Untersuchungen.
So hält etwa Gabriele Fritzsche in einem Vergleich des Noli me tangere der gemalten Rückseiten des Sierndorf-Retabels (Abb. 2) mit Giottos Darstellung desselben Sujets in der Arenakapelle in Padua (Abb. 3) fest:Einen weiteren Unterschied sehen wir darin, daß dem Wiener Meister die Details weit mehr am Herzen lagen als Giotto. […] Auch Giotto berücksichtigt die Stofflichkeit seiner Materialien, charakterisiert den Sarkophag mit Marmoräderungen […]; unser Meister hat jedoch eine weit größere Freude als Giotto an diesen Einzelheiten. Bezeichnend dafür ist auch das Aussehen des Sarkophages: bei Giotto aus glatten Marmorplatten zusammengefügt; in unserer Darstellung sehr dekorativ mit Konsolen, tiefen Arkadenöffnungen und einer Fülle von Schmuckmotiven gegliedert.
Margit Stadlober sieht im Vergleich ebendieser Bilder mehr „Naturnähe“ im Klosterneuburger Werk; letzteres zeigt ihrer Meinung nach „sehr intensive Detailbeobachtung“, wofür sie die antiken Motive wie Palmettenfries oder Rosetten des Sarkophags ins Treffen führt.
In diesem Beitrag werden Muster und Besonderheiten der Materialdarstellung in den Concordantiae Caritatis anhand von zwei Fallbeispielen herausgearbeitet. Damit einhergehend werden Anforderungen an die Datenbasis und für die Anwendungsmethoden der Digital Humanities diskutiert.
Aspektivierung
Das hier verwendet Konzept der Aspektivierung (vgl. die Einleitung in dieser Ausgabe) macht greifbar, dass Material nie aufgrund aller seiner inhärenten und verknüpften Aspekte in Vorgängen präsent ist oder in diese eingebunden wird, sondern immer bestimmte aktiviert werden.
Dieser Umstand ist auch bei der Darstellung von Material in der Kunst, Literatur etc. von Bedeutung, wobei nachstehend auf einige bildmedienspezifische Faktoren eingegangen wird.
Hier gilt es zunächst auf die Reduktion auf darstellbare Eigenschaften (vgl. Abb. 4) aufmerksam zu machen. Diese können unmittelbar (z. B. Holzmaserung) oder mittelbar (z. B. Sprödigkeit einer Glasflasche in Form von Bruchstücken derselben, die am Boden liegend wiedergegebenen sind) visuell repräsentierbare Qualitäten von Material betreffen (gelbe Pfeile im Diagramm) und sind je nach verwendeten Werkstoffen und angewandten Techniken, aber auch entsprechend der jeweiligen Potenziale oder Einschränkungen in der Rezeptionssituation unterschiedlich (z. B. hinsichtlich der Beleuchtung).
Für weitere Prozesse von Aspektivierung, die bei einer bildlichen Darstellung von Material relevant sind, ist die Dialektik von Kunst und Wirklichkeit von Bedeutung. Andreas Kablitz hat in einem anderen Kontext zusammengefasst, was auch für unsere Betrachtungen sinnvoll ist, zu berücksichtigen:Kunst, so sei hier thesenhaft behauptet, ist das Reich des Möglichen: Sie ist die Verwandlung des Wirklichen in seine Möglichkeiten – und diese Möglichkeiten schließen Imagination, Perfektionierung, Verfremdung und manches mehr ein. Doch solche Möglichkeiten bleiben stets verwiesen auf ein Wirkliches, in Relation zu dem sie sich konstituieren wie definieren.
Die Praktiken in den unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen sind dafür verantwortlich, dass nicht zu allen Zeiten und in allen Kontexten alle darstellbaren Eigenschaften von Materialien realisiert wurden. Damit geht auch einher, dass der Anteil der repräsentierten Stofflichkeiten und Oberflächen an der Kommunikationsleistung variiert. (Abb. 4) Zudem gibt es eine Bandbreite an Möglichkeiten, um die Grauzone zwischen einer Entscheidung für oder wider Materialdarstellung zu nutzen (z. B. bei der bloßen Andeutung einer Textur, die das Material nur zu einer allgemeinen Kategorie zuordenbar, aber nicht konkret identifizierbar macht). Selbst in Zeiten, in denen der mimetischen Wiedergabe von Materialien eine signifikante Bedeutung zugeschrieben wird, muss die Konfiguriertheit von Kunst bedacht werden; es geht also auch in diesen Fällen um eine gewissermaßen strategische Verwendung von Materialdarstellung, bewusst oder auf einer unbewussteren Ebene – im Rahmen von denk- und darstellbaren Mustern in einem zeitlichen und soziokulturellen Umfeld.
Es ist auch der Konfiguriertheit von Bildern (Abb. 4) geschuldet, dass Mischformen zwischen einer Orientierung an der physischen Welt und dem Verwenden von Elementen existieren, die nur indirekt von Naturvorbildern oder realen Gegebenheiten beeinflusst sind (z. B. Bildbestandteile, die im Rahmen einer Bildtradition entwickelt und weiterverarbeitet werden). Es ist also auch danach zu fragen, ob wir eine solche Mischform vor uns haben, wenn wir wissen möchten, welche Aspekte von Material im Bild thematisiert werden. Letztlich ist in diesem Zusammenhang auch eine Offenheit in der Forschung vonnöten, die Funktionalisierungen von stofflichen Entitäten im Bild abseits der Themen von mimetischen oder ästhetischen Kategorien untersuchen möchte. Ein weiterer bedeutender Einfluss auf die Material-Aspektivierung ist der fiktionale Rahmen an sich: Eigenschaften, die für in der Natur vorkommende oder verarbeitete Materialien in einem konkreten Nutzungskontext essenziell sind, müssen im Bild nicht gezeigt oder können außer Kraft gesetzt werden, sofern das für den Repräsentationskontext als sinnvoll erachtet wird. Auch neue Eigenschaften können erfunden und eingebracht werden, die dann nur in dieser fiktionalen Welt existieren. Hierfür gibt es auch Beispiele in den Naturallegoreseabschnitten der Concordantiae Caritatis: Der Text über einen fern gelegenen See, in dem alles untergeht, das hineingeworfen wird, verweist auf kein spezifisches Objekt oder Material (fol. 205r). Im dazugehörigen Bild (fol. 204v, REALonline 004084D) sehen wir einen am Ufer stehenden Mann, der ein Stück Rundling mit Astansatz in der Hand hält und auf dasselbe (oder ein sehr ähnliches) Stück Holz auf dem Grund des Gewässers vor ihm zeigt. Auch die Wirkungen, die von bestimmten Materialien ausgehen, können in Texten oder Bildern andere sein, als man erwartet. So wird in Ulrichs von Lilienfeld Handschrift in beiden medialen Ausdrucksformen (fol. 223v und 224r, REALonline 004103D) vermittelt, wie das Blut des Thamur-Wurms Steine spalten kann.
Sowohl bei der Verwendung von Materialien als auch bei ihrer Darstellung können durch Aspektivierungen in bestimmten Zeiten und Kontexten stärkere oder schwächere Links zwischen Materialien und Objekten entstehen, worin einer der Gründe für die oft fließende Grenze zwischen diesen beiden Kategorien liegt.
Für die Frage, welche Aspekte von Material dargestellt werden (können), ist auch relevant, ob ‚naturbelassene‘ Gegenstände oder hergestellte Objekte im Bild thematisiert werden. So rücken etwa bei der Repräsentation von Rohmaterial nur bestimmte Eigenschaften dieser Stoffe in den Blick (z. B. die Aufschüttbarkeit von Sand). Und erneut ist auch das Spannungsfeld von Kunst und Wirklichkeit zu berücksichtigenden: Es kann um die (mehr oder weniger) mimetische Wiedergabe von hergestellten oder natürlichen physischen Objekten im Bild gehen. Dabei können Materialien auch derart künstlerisch prozessiert werden, dass bestimmte handwerkliche oder ressourcenspezifische Bedingungen ausgeklammert oder adaptiert werden, z. B. bei ‚erfundenen‘ Farben oder Mustern von Steinen oder bei einem Bettrahmen, dessen Zusammensetzung aus mehreren Teilen im Bild nicht thematisiert wird, sondern der wie aus einem Stück gearbeitet erscheint. Es können aber auch tradierte Bildformeln weiterverarbeitet und (neu) funktionalisiert werden, mittels derer sowohl das Objekt als auch dessen Material nur indirekt mit einem physischen Vorbild verbunden sind (vgl. Kap. „Common Ground“). Zudem können diese Strategien auch parallel eingesetzt werden.
Alle diese vorgenannten Aspektivierungen von Material fließen in einen gedachten, unendlichen Pool ein, aus dem im Zuge eines Projekts, wie der Ausstattung der Concordantiae Caritatis mit lavierten Federzeichnungen, geschöpft werden kann. Die je nach Zeit, Ort, soziokulturellem Kontext und Zielsetzung selektiv herausgegriffenen Elemente bilden dann eine neue Grundlage für weitere Aspektivierungen von Material, die eingespeist werden.
Dargestelltes Material in REALonline
Die Bilddatenbank des IMAREAL unterscheidet sich vor allem in zweierlei Hinsicht von anderen digitalen Projekten zu historischen visuellen Medien von Forschungsinstitutionen, Universitäten, Kulturerbe-Institutionen und ‑Vereinigungen: Um Objekte im Bilddiskurs des Mittelalters und der Frühen Neuzeit erforschen zu können, wurde ein Datenmodell entwickelt, das neben den allgemeinen Daten zum Werk – wie Datierung, Standort etc. – systematisch und strukturiert semantische Informationen auf Bildern der Zeit erhebt. Es sind also nicht nur die wichtigsten oder ein paar beliebige Schlagworte zum Dargestellten enthalten (z. B. Christus, Kreuz, Landschaft), sondern es werden nach Möglichkeit alle semantischen Elemente erhoben. Strukturiert ist diese Erfassung insofern, als dass die Daten nicht als Schlagwörter (wahllos) nacheinander aufgenommen werden, sondern für jede Szene entsprechend den verwendeten Bildelementen ein Netzwerk
aus Knoten von verschiedenen Datenkategorien (Handlung, Person, Objekt, Ort etc.) erstellt wird, die in Visualisierungen wie jener im REALonline-Frontend durch unterschiedliche Farben symbolisiert werden können. (Abb. 7) Im Mittelpunkt des Netzwerks steht die Szene (blauer Knoten), an die weitere Kategorien von Bildinformationen geknüpft werden, z. B. eine Szene enthält eine Person (oranger Knoten), und die Person trägt ein Kleidungstück (lila Knoten). Das semantische Grundgerüst (Abb. 7) der beiden Kreuzigungsdarstellungen am Sierndorf-Retabel (Abb. 5) bzw. am Hochaltarretabel in Gampern (Abb. 6) macht auf einen Blick deutlich, wo die Unterschiede auf der Ebene der Konfigurationen von Bildelementen liegen, etwa die größere Anzahl an dargestellten Personen links (orange Knoten) oder an wiedergegebenen Objekten rechts (grüne Knoten), die sich vor allem auf die detaillierte Stadtansicht im Hintergrund der Kreuzigung am Gamperner Retabel beziehen.Für jeden dieser Knoten werden zudem neben der Bezeichnung der Entität (z. B. ‚Kreuz‘ oder ‚Christus‘) weitere Datenarten erhoben. Für dargestellte Objekte sind das die Farbe, das Material und die Form. 1980 hielt Manfred Thaller, der die Bilddatenbank gemeinsam mit den Mitarbeiter*innen des IMAREAL entwickelt hat, fest, dass mit den Daten untersucht werden könnte, „ob bestimmte Materialien – Edelmetalle, italienische Stoffe – zu bestimmten Zeiten auf Bildquellen aller Teile des vom Institut bearbeiteten Raumes gleich häufig sind; ob sich ein Vordringen derartiger Materialien oder von Kleider- und Gegenstandstypen in bestimmte Gebiete zeigen läßt usw.“
Die systematische und strukturierte Modellierung von Bildinhalten in REALonline und die fortdauernde Erfassung und Überarbeitung von Daten seit den späten 1970er Jahren macht die Bilddatenbank heute zu einem nahezu einzigartigen Datenpool für Analysen von historischen Bildinhalten mit einem Distant Viewing Ansatz. Wurde mit dem Zugriff des Distant Readings eine Analysemöglichkeit für große Textkorpora entwickelt, werden beim Distant Viewing Muster und Besonderheiten anhand des Vergleichs von vielen Bildern herausgestellt. Nachdem aber gerade für Bildinhalte historischer visueller Medien kaum annotierte Datensets bestehen und die Methoden aus dem Bereich der Computer Vision erst in den letzten Jahren für kunsthistorische Fragen dieser Art entwickelt werden, sind Beispiele dafür rar, wie diese Ansätze für die Kunstproduktion früherer Jahrhunderte eingesetzt werden können. In diesem Beitrag wird geprüft, für welche Forschungsfragen manuelle semantische Annotationen von Bildern in Form des Datenmodells in REALonline eine gute Ausgangslage bieten und in welchen Untersuchungskontexten darüberhinausgehende Analysemethoden benötigt werden.
Für Materialdarstellungen ist die Kunst des 14. Jahrhunderts in Österreich ob und unter der Enns ein gutes Experimentierfeld, weil einerseits nicht für alle dargestellten Objekte angestrebt wurde, die Stofflichkeiten mimetisch wiederzugeben, und andererseits sowohl sehr explizite Materialrepräsentationen zu finden sind (wie etwa von marmoriertem Stein), als auch in der Technik der Lavierung angedeutete Materialeigenschaften vorkommen, die meist nur aus dem Zusammenhang als solche interpretiert werden können (entweder über die bereits bestehenden Material-Objekt-Links oder über das Narrativ, das im Bild realisiert wird). In REALonline kann Unschärfe durch ein Fragezeichen hinter einem Begriff ausgezeichnet werden. Damit können auch solche Nennungen in Auswertungen einbezogen oder bewusst ausgeschlossen werden.
Material in den Concordantiae Caritatis
Nach den allgemeinen Bemerkungen zur Aspektivierung von Material generell und von jenem in den Künsten im Speziellen soll nun der Frage nachgegangen werden, wie Stofflichkeiten in den visuellen und textuellen Erzählstrategien bei Ulrich von Lilienfeld prozessiert und eingesetzt wurden und welche Potenziale die Annotationen in REALonline dafür bieten. Auch wenn der Fokus auf den Bildern liegen wird, sollen die Texte in die Untersuchungen einbezogen werden. Anstelle der bei Munscheck propagierten Kategorien von „den Texten entsprechenden“, „die Texte konkretisierenden“ und von „textunabhängigen“ Federzeichnungen
möchte ich von medienspezifischen Erzählstrategien ausgehen, die verglichen werden können. Dabei ist es wesentlich, die jeweiligen Anforderungen und Funktionsweisen jedes Mediums ernst zu nehmen und nicht gegeneinander auszuspielen. Dass etwa das Setting einer Handlung oder die Kleidung einer Figur in einem Text nicht angegeben wird, ist ebenso wenig als Versäumnis zu werten, wie der Umstand, dass in einem Bild nur ein bestimmter Handlungsmoment und nicht mehrere Sequenzen wiedergegeben werden. Sinnvoller ist es, die Schwerpunktsetzungen zu vergleichen. Wenn ein solches Vorgehen meiner Ansicht nach allen Text-Bild-Relationen gelten sollte, trifft das umso mehr auf die Concordantiae Caritatis zu, deren titelgebende Übereinstimmungen eines Antitypus mit allen typologischen und naturallegorischen Beispielen Thema des Werks sind und die – um möglichst einleuchtend zu sein – die medienspezifischen Strategien auf unterschiedliche Weise nutzen. Ob Materialien in diesen visuellen oder textuellen Argumentationen eine Rolle spielen und welche Funktionen sie einnehmen, ist – wie ich in den nachstehenden Beispielen verdeutlichen möchte – nicht regelhaft, sondern wird flexibel gehandhabt; je nach den Erfordernissen der jeweiligen Konkordanzen.Ein erstes Beispiel ist die Doppelseite der Heimsuchung Mariens (fol. 8v, 9r, Abb. 8, REALonline 003890). Für diese wurde als einer der beiden alttestamentarischen Typen die Beschreibung der Bundeslade in Ex 25,10−22 gewählt.
Der Herr ließ zwei Cherubim aus reinstem Feingold machen und auf jeder Seite über der Deckplatte der Bundeslade aufstellen, so daß sie sich mit zwei Flügeln berührten, und sie schauten einander mit umgewandtem Gesicht an […]. Diese [die Liebe zu Gott und die Nächstenliebe, für die die Cherubim stehen, Anm. IN] müssen aus reinstem Feingold, d. h. aus den allerbesten Kräften, die nur aus dem Schatz des Herzens hervorgeholt werden können, und [aus dem Gold], das auf dem Amboß des Herzens gehämmert ist, gebildet sein […].
Im Text wird das Material der Cherubim betont, weil es als Anknüpfungspunkt der Argumentation fungiert. Zwei Aspekte des Goldes werden darin beschrieben: der ‚Abbau‘ von Gold im Herzen und seine Formung am Herzen. Über die Herzmetapher wird die Verbindung zur Barmherzigkeit Gottes und zur Bundeslade hergestellt, die jenen zuteilwird, die sich sowohl um das eigene Heil als auch das ihres Nächsten bemühen.
In der lavierten Federzeichnung treten uns die Cherubim (Abb. 8, rechte Spalte oben) jedoch nicht als monochrome ‚Skulpturen‘ aus Gold entgegen. Sie sind – sieht man von ihren Flügeln ab – ebenso wie die anderen Figuren auf dieser Seite gestaltet. Die vor dem Körper angewinkelten Arme unterstreichen das Dialogische (vgl. dazu auch die Figuren in Abb. 9) der sich zueinander wendenden Engel und vermitteln einen animierten Eindruck. Dieser wäre mit einer monochromen Gestaltung der Figuren in Gold weitaus schwieriger zu realisieren. Die Textbeischrift zu diesem Typus aus dem Alten Testament lautet: „Im Herrn sehen die Cherubim einander“, womit das sich gegenseitige Wahrnehmen betont wird. Die gesamte visuelle Argumentation von Antitypus, Typen und naturallegorischen Beispielen dieser Seite legt den Fokus auf das Zueinanderneigen von je zwei Menschen, Tieren oder Pflanzen. Auch dort, wo diesem Umstand in der textuellen Strategie keine vordergründige Bedeutung beigemessen wird, nämlich bei den Tauben („Die keuschen Tauben fliegen nur gemeinsam und stets zu zweit einher“ ), sind die Protagonisten einander berührend – in diesem Fall nur an den beiden Schnäbeln – gegenüberstehend angeordnet. Die Konkordanz im Bild ist gerade durch den Verzicht auf goldene Cherubim sowohl besonders einfach verständlich als auch einprägsam und damit gut geeignet, um die komplexen Inhalte memorieren zu können. Die dargestellte alttestamentliche Szene integriert die viel schwieriger im Bild umzusetzenden Vergleichsbilder für Gottes- und Nächstenliebe nicht, weshalb auch keine materiale Konkordanz auf dieser Ebene erforderlich ist.Als nächstes Beispiel für die Materialdarstellung im Lilienfelder Codex möchte ich die Fußwaschung Christi (fol. 75v, 76r, Abb. 9, REALonline 003957) mit ihren Konkordanzen heranziehen. Beide Vermittlungsformen nutzen als Klammer für ihre Inhalte das Material Wasser. Im Text werden unterschiedliche Aspekte dieses Materials genannt und gedeutet: das Eingießen des Wassers in die Schüssel als Zeichen von Christi Demut, die hohe Reinigungskraft des Wassers als Sinnbild der göttlichen Gnade, mit der selbst jene, die in fernen Sündengegenden unterwegs waren, behandelt werden können, die Eigenschaft, dass man etwas (in diesem Fall die Nüstern eines Pferdes) in Wasser eintauchen kann, und zuträgliche oder schädliche Eigenschaften von Quellwasser. Im Medaillon mit der Fußwaschung Christi (Abb. 9, oben Mitte) wird die explizite Nennung des Eingießens von Wasser in die Schüssel als Zeichen der Demut nicht aufgegriffen, sondern der Vorgang des Fußwaschens dargestellt. Grund dafür ist die visuelle Verbindbarkeit mit den beiden Typen aus dem Alten Testament, die in der grundsätzlichen Anlage mit dem Antitypus übereinstimmen: Immer kniet eine männliche Figur am Boden und eine Gruppe von Menschen sitzt auf einer Bank mit Fußpodest. Die kniende Figur wäscht der je am weitesten links befindlichen Person die Füße. Auch der gewählte Moment ist hier immer derselbe: Der Waschende greift mit beiden Händen nach dem linken Fuß der Person, deren Füße bereits in das Wasser eingetaucht sind und von der Flüssigkeit in Form gelber Streifen ‚umspielt‘ werden, die meist bis oberhalb der Knöchel zu sehen sind. Wenngleich hier Wasser strenggenommen nur an den Füßen, aber nicht in der Schüssel erkennbar ist, kann es in Relation zu den beiden Wasserdarstellungen in den Naturallegorien auf dieser Seite, aber auch im Kontrast zu den nicht ins Wasser getauchten Füßen in den anderen Darstellungen auf Folio 75v als solches identifiziert werden. Damit wird der Aspekt der Transparenz von Wasser, aber auch sein flüssiger Aggregatzustand gezeigt, der es im Gegensatz zu Körpern fester Aggregatzustände Menschen und Tieren ermöglicht, in das Wasser einzutauchen.
Beide Aspekte (Transparenz und Durchdringbarkeit) sind auch für die visuelle Argumentation in der Szene mit dem guten Pferd (als Sinnbild für den wahren Büßer) bedeutend, weil definiert ist, dass es sich um ein umso besseres Pferd handelt, je weiter es seine Nüstern in das Wasser taucht. Entsprechend neigt sich auch das Tier im Bild so weit hinunter, dass das Wasser bis über seine Nüstern fließt. Nur in der Szene rechts unten spielt der Aspekt der Transparenz von Wasser keine Rolle und seine Durchdringbarkeit ist nur dahingehend relevant, als damit das Schöpfen von Wasser möglich wird, das im Bild nur noch implizit durch die beiden zum Mund geführten Schöpfgefäße symbolisiert wird, aber nicht mehr dezidiert sichtbar ist. Hierzu berichtet die Textstelle, dass es zwei verschiedene Quellen gebe, von denen eine unfruchtbare Personen fruchtbar macht, eine andere die genau umgekehrte Wirkung hat. Fruchtbarkeit ist mit einem Zugewinn an Stärke im Glauben, Unfruchtbarkeit mit der Verschwendung von Potenzialen für Gutes, wie im Fall von Judas, verbunden. Im Bild haben wir es mit einer mittelbaren Darstellung der Eigenschaften dieser beiden Quellen zu tun. Nicht sie selbst sind in dieser Szene verschieden dargestellt, sondern die unterschiedlichen Folgen können an den beiden Frauen und ihrer jeweiligen Ausrichtung abgelesen werden. Die Linke wendet sich etwas vorgebeugt zur linken Quelle hin und zeigt auch schon den Effekt ihres Trinkens: Ihr Bauch deutet auf eine Schwangerschaft hin. Die rechte Frau steht aufrecht und sieht zur rechten Quelle hin. Auch wenn sie nicht im eigentlichen Sinn negativ charakterisiert ist, wird durch ihre Position und Ausrichtung deutlich, dass sie sich von allen positiv besetzten Protagonisten (Christus, der Hausverwalter Joseph, Abraham, das Pferd, die fruchtbar gemachte Frau), die sich nach links neigen, unterscheidet.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, welche potenziellen Aspekte von Material nicht verwendet werden. Im Vergleich zum oben genannten Beispiel mit dem Material Gold, das für die Engel im Text der Concordantiae Caritatis genannt, im Bild aber nicht eingesetzt wird, ist bei den beiden Quellen abgesehen von ihrer Wirkung weder im Text noch im Bild eine Unterscheidung hinsichtlich eines Material-Aspekts verwendet worden. Hier wäre es durchaus möglich gewesen, die Wasser der beiden Quellen in zwei verschiedenen Farben darzustellen, wie beispielsweise in der Szene zum Teste (einem Fabeltier, fol. 142v, REALonline 004024C) das Salzwasser in Gelb-Blau und das Süßwasser in Grün gehalten ist.
Nobilitas marmoris
Für eine Verdeutlichung des Distant Viewing-Verfahrens habe ich zwei Materialien ausgesucht, deren Darstellungen näher beleuchtet werden sollen und die sich auf den ersten Blick vor allem darin unterscheiden, wie oft sie in den Concordantiae Caritatis repräsentiert sind. Während bearbeiteter Stein mit Marmorierung auf 18 Bildseiten (das sind etwa in acht Prozent der hier in Betracht kommenden Ausstattung) ein- oder mehrmals dargestellt wird, gibt es keine einzige Bildseite, die nicht mehrere Repräsentationen von zerklüftetem Fels bzw. Erdschollen enthält. Diese Unterschiede werden besonders deutlich in einer Visualisierung (Abb. 10 und 11).
In den Diagrammen sind die Verso-Folioseiten (jeweils beginnend bei der ersten illuminierten Seite auf fol. 2v) auf der x-Achse aufsteigend von links nach rechts angegeben. Die einzelnen Bildfelder einer Seite werden auf der y-Achse ausgewiesen, beginnend unten mit dem großen Medaillon (a) und den beiden alttestamentlichen Typen (b, c); gefolgt von den beiden Bildfeldern zur Naturallegorie (d, e).Ein weiteres Kriterium für die Auswahl der hier untersuchten Materialdarstellungen war, neben einem in der kunsthistorischen Forschung – vor allem bezogen auf die vergangenen Jahre – sehr präsenten Material (Marmor)
In historischen Zusammenhängen wurde unter Marmor – im Unterschied zu heute in der Geologie verwendeten differenzierteren Bezeichnungen – alle polierfähigen Gesteine gefasst, die nicht zu den gemmae oder lapides pretiosi gehörten. In diesem Sinne wird ‚Marmor‘ auch im Folgenden verwendet. In der Bilddatenbank wurde in den Daten zu den Concordantiae Caritatis die Bezeichnung ‚Stein‘ mit der weiteren Bestimmung ‚marmoriert‘ im Form-Feld verwendet.
Dargestellter Marmor ist in der Lilienfelder Handschrift meist eindeutig zu erkennen: Er kommt in den Farben rot, blau, grün und gelb vor und ist zumeist durch Adern oder Bänder, manchmal auch noch durch die Wiedergabe von Einschlüssen oder Flecken charakterisiert. Nur in einem Beispiel, beim Steinquader mit dem brennenden Phönix (fol. 93v, Abb. 12, REALonline 003975C), ist mit zarten Lavierungen eine Mehrfarbigkeit angedeutet.
Eine Abfrage der Daten in REALonline hinsichtlich der Verteilung über den Codex (Abb. 10) macht deutlich, dass die höchste Dichte an Darstellungen von marmoriertem Stein zwischen fol. 93v und 108v zu finden ist: Auf sechs Seiten finden sich hier Repräsentationen dieser Gesteinsart. Inhaltlich geht es in diesem Abschnitt der Handschrift direkt oder indirekt um Themen rund um den Tod, die Grablegung und Auferstehung Christi. Auch die über die gesamte Handschrift hinweg gesehen größte Anzahl an Objekten oder Objektteilen aus Marmor, die in diesem Fall auf vier von fünf Bildfeldern vorkommen, befindet sich fast genau in der Mitte dieses Clusters auf Folio 100v (Abb. 13, REALonline 003982). Es handelt sich dabei um die Grablegung Christi, bei der Ulrich von Lilienfeld im Text, unter anderem bezugnehmend auf Jesaja 11 („Und sein Grab wird ruhmvoll sein“), das „dem Herrscher zur Ehre gereichende Grab“ in den Mittelpunkt seiner Argumentationen stellt. Dabei sind unterschiedliche Materialien und deren Aspekte von Bedeutung: die Reinheit von Leinen (als Sinnbild eines reinen Gewissens und der Hoffnung auf Auferstehung), der Geruch der beigemengten Myrrhe in der Salbe (als erhoffter Schutz vor Verwesung) und das Grab aus Stein (Marmor als Sinnbild der Lauterkeit des Geistes).
Die Verwendung von Marmor findet in der textuellen Argumentation einer Naturallegorese zur Grablegung statt, in der es um die Bestattung des Bienenkönigs [sic!] geht, der so wie ein König der Menschen in monumento lapideo (fol. 101r) beigesetzt wird. „Der Adel des Marmors bezeichnet nämlich die Lauterkeit des Geistes“, ist als letzter Satz zu lesen und es kann nur angenommen werden, dass damit Bezug auf das steinerne Grabmal genommen wird. Es handelt sich hierbei um die einzige Nennung von Marmor im gesamten Text der Concordantiae Caritatis; dahingehend ist also bereits eine deutliche Differenz zwischen den beiden medialen Strategien zu erkennen. Die Quelle für die Naturallegorie aus der Welt der Bienen, die Ulrich benutzt hat, konnte – im Unterschied zu vielen anderen Beispielen – noch nicht eruiert werden. Mit dieser expliziten Gesteinsnennung und der Angabe des Brauchs, den König in einem Grabmal aus Stein zu bestatten, hätte man vielleicht erwarten können, dass auch im zugehörigen Bild ein Marmorgrab für den Bienenkönig verwendet wird. Interessanterweise ist aber gerade hier – im Unterschied zu allen anderen Szenen auf dieser Seite – kein Marmor zu sehen. Der Fokus in der narrativen Strategie des Bildes wird in Übereinstimmung mit dem Text (fol. 101r) auf das Begraben des Königs außerhalb des Bienenstocks gelegt. Von diesem weg fliegen gerade einige Bienen in Richtung einer Aufwölbung auf der rechten Seite des zerklüfteten Erd- bzw. Felsbodens. Bei der Biene, von der nur noch der Kopf aus dem Hohlraum im Boden ragt, könnte es sich um den König handeln. Wenngleich die Naturbeispiele in den Concordantiae Caritatis freilich in vielen Belangen nicht dem heutigen Kenntnisstand zur Tier- und Pflanzenwelt entsprechen bzw. auch Fabelwesen und Wunderbegebenheiten eingeflochten sind, wird doch in keiner der textlichen oder bildlichen Darstellungen vermittelt, dass Tiere menschengleich handwerklich agieren können. Ein Miniatursarg aus Marmor für den Bienenkönig hätte dahingehend einen Bruch dargestellt. Bei der auf der gleichen Seite dargestellte Hyäne, die gemäß dem Text (fol. 101r) gerne in Gräbern lebt (libens in sepulchris habitauit), womit auch leerstehende, menschengemachte Monumente gemeint sind, irritiert der nur geringfügig kleiner dargestellte Sarkophag nicht.
Auch wenn im Fall des Bienenkönigs gewissermaßen eine unerwartete visuelle Strategie verwendet wurde, sind ansonsten Sarkophage überall dort, wo sie im Bildteil zum Jahreskreis und zu den Heiligenfesten vorkommen, aus Marmor. Es gibt also diesbezüglich eine eindeutige Objekt-Material-Korrelation in den Concordantiae Caritatis. Auch wenn systematische Untersuchungen der Materialdarstellung des Grabes Christi in der Kunstproduktion des 14. Jahrhunderts ein Desiderat darstellen und damit eine Einordnung der Umsetzung in der Lilienfelder Handschrift erschwert ist, sind vor allem hinsichtlich der Repräsentation der Grabsituation Christi zwei Elemente anzumerken: Zum einen ist – vermutlich ebenfalls in Übereinstimmung mit dem Anspruch einer ruhmvollen und angemessenen Ruhestätte, wie sie bei Jesaja 11,10 gefordert wird – in der mittelalterlichen Kunst die weit gängigere Darstellung ein Sarkophag − gegenüber dem in den Evangelien geschilderten in den Felsen gehauenen Grab Christi. Zum anderen wurden auch in Zeiten, in denen Materialdarstellungen eher punktuell auftreten, häufig kostbare Steine, wie Porphyr oder lakedämonischer Stein, als Material des Sarkophages Christi im Bild eingesetzt. Eine weitere Bildtradition, deren Verlauf und Reichweite zu untersuchen ein Forschungsdesiderat wäre, nützt vor allem rot geäderten Marmor für das Grabmonument Christi, um so den Zusammenhang mit der Passion herzustellen. Beispiele für Sarkophage aus rotem Marmor finden sich z. B. am Altarretabel aus Vyšší Brod (Hohenfurth, um 1350) und auch in der Glasmalerei des späten 14. Jahrhunderts. In den Concordantiae Caritatis sind die Grabmonumente in der Grablegung (fol. 100v, Abb. 13) und Auferstehung Christi (fol. 101v, siehe unten, Abb. 16, REALonline 003983) aus einem rot marmorierten Stein, während der bereits leere Sarg in der Szene mit den Frauen (fol. 102v, REALonline 003984) bzw. mit Petrus und Johannes (fol. 108v, REALonline 003990) hauptsächlich aus gelbem Marmor besteht. Die rote Steinfarbe ist nicht an sich der Grabesstätte von Christus vorbehalten, sondern findet sich in der Lilienfelder Handschrift auch in anderen Bildkontexten. Es zeigt sich also, dass die Aspektivierung der Farbigkeit des Materials Marmor nicht genutzt wird, um ein spezifisches Objekt greifbar zu machen, sondern um über die Farbe inhaltliche Dimensionen zu vermitteln, wie im Fall des Sarkophags Christi die Zugehörigkeit zu Themen vor und nach der Auferstehung.
Bei den AltärenREALonline 004038A). In den meisten anderen Fällen, bei denen ein Altar in den lavierten Federzeichnungen eingesetzt wird, handelt es sich zwar um von der Form her ähnliche Block- oder Kastenaltäre ohne dezidiert abgesetzte Mensa (vgl. Abb. 15), aber das Material, aus dem sie bestehen, wird im Bild nicht eindeutig festgelegt. Die Stipesfronten dieser Altäre (also die Mantelflächen der Quader) sind in unterschiedlichen, meist mehrfärbigen Mustern gehalten, ohne dass dargestelltes Material oder ein bestimmtes Material implizierende Bearbeitungstechniken oder -vorgänge (z. B. Reliefierungen) ablesbar sind. Damit bleibt offen, ob Antependien aus Stoff oder Frontalien aus festen Materialien gemeint sind. Im Unterschied dazu sind die nahezu durchgehend vorzufindenden Altartücher und -behänge durch am unteren Saum abschließende Fransen explizit als textile Elemente ausgewiesen. In den Altar-Darstellungen, in denen die nicht verhangenen oder verzierten Seitenflächen aufgrund der Positionierung des Altars im Raum greifbar werden, sind sie entweder unbemalt, rötlich oder blau laviert, ohne eine eindeutig einem Material zuzuordnende Textur aufzuweisen. Anders ist das im Fall des Altars, der im ersten Typus-Beispiel zum Heiligen Nikolaus genannt wird. Der inhaltliche Kontext ist eine Stelle aus der Geschichte Mose im Alten Testament (Ex 20,24): Gott befiehlt darin, ihm einen Altar aus Erde zu errichten. Diese Aufforderung findet sich sowohl in der Bildüberschrift (De terra construat aram), im Spruchband Altare de terra facietis michi und auch in letzterem Wortlaut im zughörigen Text auf Folio 159r. Nicht in die Argumentation der Concordantiae Caritatis eingebunden ist, wie die Bibelstelle im nächsten Vers (Ex 20,25) weitergeht: Wenn man einen Altar aus Steinen errichtet, heißt es dort, muss er aus unbehauenen Steinen gebaut werden (non aedificabis illud de sectis lapidibus), da die Bearbeitung mit eisernen Werkzeugen die Steine entweihe. Überraschend ist demnach sowohl für Kenner*innen des biblischen Kontexts als auch für jene, die die Ausführungen auf Folio 159r, die Bildbeischrift und das Spruchband rezipieren, wie das Bild zu diesem Typus aussieht: Hier ist ein würfelförmiger Altar dargestellt, vor dem Mose steht und Gottes Anweisung in Empfang nimmt. Der Altar ist eindeutig aus bearbeitetem Marmor und nicht aus Erde gestaltet. Auch von der ansonsten üblichen Form, wie Altäre in den Bildern der Handschrift gestaltet werden, wurde Abstand genommen: Es gibt keine Altartücher oder -behänge und die Vorderseite ist nicht in einem geometrischen Musterdekor gehalten, sondern aus blauem Marmor gebildet, wodurch sie gegen den ansonsten aus gelbem Marmor gefertigten Quader abgesetzt ist. Die Realisierung in der Lilienfelder Handschrift geht hier – soweit man das bei einem sehr selten bildlich umgesetzten Thema sagen kann – einen eigenen Weg, den es lohnt, sich genauer anzusehen.
Die Text/Bild-Strategie zum Fest des Hl. Nikolaus generiert die Konkordanz sowohl zwischen Antitypus und dem zweiten Typus (Samuel salbt Saul), als auch in den Beispielen aus der Naturallegorie durch den Aspekt des Fließens von Öl. In der Textstelle mit dem zu erbauenden Altar findet sich dagegen überhaupt kein direkter Verweis auf Öl. Sie bezieht sich aber explizit auf die Verknüpfung von dem Altar, den Nikolaus in seinem Herzen Gott geweiht hat (und der der Ort für seine fromme Fürbitte und Darbringung seiner Opfer wurde) und dem Altar, der mit dem frommen Gedächtnis des heiligen Nikolaus gleichgesetzt wird (hoc altare, id est beati Nicolai deuotum memo/riale). Wie bereits festgestellt, sind im gesamten Bildteil zum Jahreskreis und zu den Heiligenfesten Sarkophage aus Marmor dargestellt. Im Fall des Medaillons mit dem Hl. Nikolaus ist aber diese Gesteinsart besonders fokussiert, weil gleich drei Bildelemente aus diesem Material sind (vgl. Abb. 10): Beim Hochgrab sind neben der Tumba auch die Säulen aus Marmor und das Gefäß, in dem das heilwirkende Öl aufgefangen wird, ist in einem kleineren Sarkophag stehend wiedergegeben, der ebenfalls aus Marmor ist. Hierfür kann einerseits ins Treffen geführt werden, dass in der Legenda Aurea das Grab des heiligen Nikolaus explizit als marmorn bezeichnet wird (in tumba marmorea). Andererseits ist auch durch den Gesang Ex ejus tumba marmorea sacrum, der sich in unterschiedlichen Responsorien findet, der Konnex zwischen Marmor und dem Grab des heiligen Nikolaus in verschiedenen Kontexten präsent. Diese gefestigte Objekt/Material-Verbindung könnte ein Anlass dafür gewesen sein, eine Konkordanz zwischen dem Typus aus dem Buch Mose und dem Antitypus über die Verwendung desselben Materials in den beiden Bildfeldern herzustellen, und so auch die Gleichsetzung zwischen dem Gedenken an Nikolaus (visualisiert in Form seiner Grabesstätte) und dem Altar, die im Text der Concordantiae Caritatis genannt wird, visuell zu realisieren.
Diese Form der materialen Übereinstimmung, die inhaltliche Bezüge zwischen ansonsten visuell schwer zu verbindenden Themen umsetzt, wurde auch in zwei Phönix-Darstellungen fruchtbar gemacht (fol. 93v, Abb. 12; fol. 101v, Abb. 16). Ähnlich wie in den überlieferten Texten zum Phönix der Altar eine unterschiedliche Stellung einnimmt,
ist er auch in der Bildtradition zur Legende des Vogels kein Must-have: Oft sitzt der Phönix auf einem Erd- oder Felshügel bzw. in einem am Boden gemachten Nest, aber es gibt auch Darstellungen der Selbstverbrennung, die den Vogel auf einem Altar wiedergeben, wie etwa in einer Handschrift aus dem 10. Jahrhundert, die heute in Bibliothèque Royale de Belgique in Brüssel aufbewahrt wird. Ist letzteres der Fall, sind Ausgangstexte relevant, bei denen der Phönix auf einem Altar in Heliopolis verbrennt und aus der Asche wieder zum Leben ersteht. Diese gewissermaßen ‚sakralisiertere‘ Form macht bei einer Auslegung des Phönix auf Christus hin durch die Verwendung des Altars auch den Opfergedanken deutlicher fokussierbar. Das wird in Text und bildlicher Ausstattung eines Bestiariums von Guillaume de Le Clerc (Paris, Bibliothèque Nationale de France, Ms. fr. 14969) besonders augenscheinlich:Die zwei Miniaturen auf der Seite (fol. 14v, Abb. 17), die den Phönix-Text in dieser Handschrift einleiten, zeigen einerseits den am Altar brennenden Vogel und einen davor knienden Mönch (unten) und andererseits betende Kleriker mit einer Vision (?) des gekreuzigten Christus auf einem Altar, daneben die Darstellung von Auferstehung sowie Höllen- und Himmelfahrt Jesu (oben). Im Text wird auf Folio 15v der Phönix mit „Nostre Seignor“ gleichgesetzt und am Altar des Heiligen Kreuzes geopfert, um nach drei Tagen wieder aufzuerstehen.
In den Federzeichnungen der Concordantiae Caritatis wird die Verwendung desselben Materials für Grab und Altar genutzt, um diesen Konnex zwischen Opfer und Auferstehung Christi sichtbar zu machen. Die Farben des Marmors sind dabei essenziell an der Sinngebung beteiligt. Der Sarkophag Christi ist bei der Grablegung und der Auferstehung in rotem Marmor wiedergegeben; in den zwei Szenen, in denen der Sarkophag bereits leer ist, wird gelber Marmor für den Korpus des Grabes verwendet. Über den roten Marmoraltar in der Phönix-Naturallegorie wird dessen Verbrennung mit dem Marmor-Cluster der Grablegungs- und Auferstehungsszenarien verknüpfbar. Die Aspektivierung über die Farbe des Materials ist bei den zwei Phönixdarstellungen auf einem Altar in den Concordantiae Caritatis so gewählt, dass der rote Marmor zum Passionsthema, der gelbe zur Auferstehung gehört – das ist eine inhaltliche Dimension, die nur über das Blättern und Wahrnehmen des Marmor-Clusters verfügbar ist, aber nicht durch das Ansehen der einzelnen Folioseite.
Das heutigen Rezipient*innen vermutlich näherstehende Konzept von Identität und Wiedererkennbarkeit eines Objekts durch übereinstimmende Aspekte des Materials (Farbe, Art der Bearbeitung) ist hier nicht verwendet worden. In der bildlichen Ausstattung der Lilienfelder Handschrift werden die Aspekte von Material flexibel in den Dienst von narrativen Strategien des Bildes gestellt; gegebenenfalls auch trotz dadurch entstehender Widersprüche zu expliziten Material-Vorgaben im Medium des Texts. Derselbe Aspekt kann Material/Objekt-Kombinationen (etwa die Farbe Rot für einen Marmorsarkophag) mit anderen Objekten verbinden (z. B. das Rot des Marmorblocks in der Phönixdarstellung) und dennoch in andere Szenarien eingebunden werden (der rote Marmorsarkophag wird nicht Christus vorbehalten).
Common Ground
In den Concordantiae Caritatis wird mit dem Arrangement von großem Medaillon für den Antitypus (bzw. der Szene aus dem Heiligenleben) und je zwei kleinen Medaillons links und rechts für die Gewährsleute (Propheten) vermutlich ein Konzept aufgegriffen, das schon in einer Biblia Pauperum der sog. Weimarer Gruppe entwickelt wurde.
Das nahezu ubiquitäre Vorhandensein von Bodenstücken in den Bildfeldern wird bereits anhand der Visualisierung (Abb. 11) nachvollziehbar: Es gibt keine Versoseite ohne ein solches Bildelement und zieht man noch die Szenen ab, die gänzlich in einem Gewässer verortet sind (ohne die Darstellung eines Ufers), so bleiben von den 1188 Einzelszenen nur 28, also rund 2,4 Prozent, übrig. Meist handelt es sich bei diesem kleinen Anteil an Bildfeldern um Szenen, bei denen gänzlich auf die Darstellung eines Untergrunds verzichtet wurde, wie etwa bei der Phönixdarstellung auf Folio 93v (Abb. 12). Von den dargestellten Bodenstücken sind wiederum ca. 97,5 Prozent als zerklüfteter Fels bzw. trockene Erdschollen (vgl. z. B. Abb. 8) umgesetzt. Sie kommen in unterschiedlichen Farben vor (hauptsächlich sind es Grau-, Rotbraun- und Ockertöne) und weisen dunklere, in den meisten Fällen fast schwarze, annähernd trapezförmige Flächen sowie Linien auf, die Risse, Furchen oder ausgebrochene Stellen im Material andeuten. Die wenigen Ausnahmen, die anders gestaltet sind, wie etwa das Bodenstück in einer Naturallegorie mit arbeitendem Pferd (fol. 146v, REALonline 004028C), verweisen auf bestellte Felder. In anderen Fällen sind die Bodenstücke so schmal gehalten, dass die Binnenstruktur der Risse und Furchen in dunklen Farben nicht mehr eingesetzt wurden.
Das Gros dieser Motive folgt damit einem Bildformular, wie es bereits aus der Antike überliefert ist und noch bis ins 15. Jahrhundert weitertradiert wurde. Eine besondere Bedeutung erlangten diese zerklüfteten Felsen bzw. trockenen Erdschollen auch in den frühen Werken der österreichischen Tafelmalerei um 1330, wie in den gemalten Seiten des Sierndorf-Retabels (vor allem im Noli me tangere), die Teil der Umarbeitung des Klosterneuburger Goldschmiedewerks (sog. Verduner Altar) waren. Noch raumgreifender sind sie in dem ebenfalls in Klosterneuburg aufbewahrten Passionsretabel, das wiederum mit der böhmischen Kunst der Jahrhundertmitte, konkret mit dem Retabel aus Hohenfurth, in Verbindung gebracht wird. Wilfried Franzen nennt in einem Katalogbeitrag die „eigentümlich zerklüftete Passionslandschaft“ der Klosterneuburger Passionstafel, die in Hohenfurth „auf den gesamten Zyklus übertragen und dabei weiter stilisiert und ins Befremdliche gesteigert“ würde. Johannes Jahn hält für das letztgenannte Retabel fest: „[E]s gibt unter diesen Tafeln selbst da, wo es sich um Innenräume handelt, keine einzige[,] die auf dieses Motiv verzichtet hätte.“ Während die Übernahme dieses Motivs aus der byzantinisch beeinflussten Kunst Italiens im beginnenden 14. Jahrhundert angenommen werden kann, weichen dessen Weiterverarbeitungen im Hohenfurther Retabel und in der Lilienfelder Handschrift davon ab. Bei letzterer ist vor allem die Farbgebung eine wesentlich verschiedene. Wo die Trecento-Malerei diese kahlen Gebilde langsam auch zur Vermittlung unterschiedlicher Lichtphänomene und damit verbunden von Tagzeiten verwendet und sie außenräumlichen Szenen vorbehält, sind die zerklüfteten Felsen bzw. trockenen Erdschollen in den Concordantiae Caritatis vor allem Bühnen, die sowohl für innenräumliche Settings (z. B. fol. 242v, Abb. 18, REALonline 004122A) als auch für Wiesen (mit Begrünung), Wälder, Hügel und Berge als Basis-Motiv verwendet werden können.
Die verschiedenen Farben dieser Bodenstücke folgen keinem konkreten Muster für einzelne inhaltliche Abschnitte wie etwa der Passion Christi. Auch ein durchgängiges Schema (also z. B. Grau für das Medaillon, Braun für die Typen und Grau für die Bildfelder zu den Naturallegorien) ist, wie die Visualisierung (Abb. 19) zeigt, nicht über mehrere Seiten hinweg feststellbar. Ablesbar sind dagegen anhand dieses Schaubildes offenkundig werdende Brüche im Prozess der bildlichen Ausstattung. Auf den Folios 80v (Abb. 20, REALonline 003962) und 81v (REALonline 003963), die dem sog. fortschrittlichen Meister zugeordnet werden, tauchen neben dem Rotbraun und Grau erstmals auch Grün-, Blau- und Ockertöne für die Bodenstücke auf. Die Ockertöne bei diesen Motiven ab dieser Einführung gehäuft vor, während Blau anschließend gar nicht mehr verwendet und Grün nur noch dreimal innerhalb der restlichen 167 bebilderten Seiten eingesetzt wird. Auch die Umsetzung der Bodenstücke auf den drei Folios des sog. fortschrittlichen Meisters ist erhellend für die andere Art der Auffassung, die in diesen Gestaltungen greifbar wird: Die Risse, Furchen und ausgebrochenen Stellen, die in den übrigen Bildfeldern zum Jahreskreis und zu den Heiligenfesten essenzielle Charakteristika sind, fehlen hier in vielen Fällen. Sie werden durch eine meist durchgehende gewellte Bodenlinie ersetzt, welche die unebenen und nur zart lavierten Terrains nach oben hin abgrenzt; in den Innenraumszenen (fol. 96v, REALonline 003978) entfallen auch diese gänzlich. Offenbar war hier eine mehr oder minder durchgängige Gestaltung der Bodenstücke mit Furchen und Rissen nicht passend und wurde – allerdings in einer sehr deutlich anderen Ausformung – eher für Hügel-, Berg- oder Höhlenlandschaften verwendet. Wie auch immer die Integration dieser drei Folioseiten in die ansonsten vergleichsweise einheitlich gestalte Ausstattung zu denken sein mag, die abweichende Auffassung und Funktion von Boden im Bild wird hier offenkundig.
In den visuellen Erzählstrategien der Lilienfelder Concordantiae Caritatis steht der Bezug zur physischen Welt durch die Farbe oder die Art der Gestaltung der Bodenstücke in den seltensten Fällen im Vordergrund. Auf die wenigen Beispiele eines gepflügten Bodens habe ich bereits hingewiesen. Auf zwei Bildfeldern wird auch das Material ‚Sand‘ im Bild realisiert und dafür von den üblichen zerklüfteten Felsen bzw. trockenen Erdschollen abgewichen. So etwa auf Folio 12v (REALonline 003894) mit einer Naturallegorie zum Vogel Strauß, bei der auch im Text (fol. 13r) das Eierlegen in den Sand in der Nähe eines Meers (in sabulo iuxta mare) genannt ist. Für die Kapernpflanze im benachbarten Bildfeld, die gemäß einer zitierten Platearius-Stelle nur auf durch den Pflug unaufgebrochener, unbebauter Erde wächst, ist das Motiv der trockenen Erdschollen besonders geeignet und nimmt hier auch mehr Platz ein als in den meisten anderen Bildfeldern. Für Getreidefelder, wie etwa im Rahmen der Typendarstellung zum Gleichnis vom Sämann (fol. 26v, Abb. 21, REALonline 003908), wird dennoch der in den Concordantiae Caritatis gängige Boden mit den Rissen und Furchen eingesetzt. Für den Antitypus wird die textuelle Angabe petrosa – also ‚steinerner Boden‘ oder ‚felsige Gegend‘ – durch zusätzliche Steine auf diesem braunen Terrain realisiert. Ähnlich verhält es sich mit der Differenzierung zwischen Stein bzw. Felsen und Erde. Im Naturbeispiel, bei dem der gealterte Adler seinen verkrümmten Schnabel an einen Stein schlägt, wird dieser in der bildlichen Umsetzung (fol. 69v, REALonline 003951C) durch einen grauen, sich konisch verjüngenden Steinblock mit Rissen dargestellt, der direkt auf einem Bodenstück aus braunem zerklüftetem Felsen bzw. trockenen Erdschollen liegt. Die im Text genannten Erdschollen (glebis), unter denen sich die Rebhühner auf Folio 63v (REALonline 003945D) verstecken, sind im selben Rotbraun gehalten wie ihr Untergrund.
Dennoch ist aus all diesen Beispielen nicht für den Rest der Bildfelder abzuleiten, dass die rotbraunen Bodenstücke mit Rissen und Furchen ‚Erde‘, die grauen ‚Stein‘ oder ‚Felsen‘ meinen. Mehr herausgewachsene Pflanzen sind auf braunen als auf grauen Bodenstücken dargestellt, bei Baummotiven verhält es sich jedoch genau umgekehrt: eine Zuordnung des Szenengrundes zu einem Material ist nicht möglich. Aus diesem Grund habe ich bisher so vage von ‚zerklüfteten Felsen‘ bzw. ‚trockenen Erdschollen‘ geschrieben. Was haben wir also vor uns, wenn wir diese Bodenstücke betrachten?
Die Frage wird nochmals um einiges komplexer, wenn wir neben der Farbe weitere Aspekte von Material in Betracht ziehen. Hier ist zum Beispiel die Bearbeitbarkeit des Bodens zu nennen, die auf den ersten Blick vielleicht am deutlichsten im Antitypus mit der Auffindung der Gebeine des Hl. Stephanus ins Bild (fol. 199v, Abb. 22, REALonline 004079) gerückt wird. In der Relevatio Sancti Stephani wird dazu berichtet, dass der Priester Lukianus drei Visionen hatte. Nach dem Bestattungsort der Gebeine wird ihm anhand von vier Gefäßen mit unterschiedlichen Blumen erklärt, welche Überreste in dem gemeinsamen Grab zu welchem Verstorbenen gehören. In einer Umsetzung dieses Themas, die Bernardo Daddi zugeschrieben wird, sind die drei Behältnisse aus Gold und Silber als Symbole in der Vision des Priesters Lukianus zu sehen und dann nochmals in einer weiteren Szene – als Kennzeichnung der aufgefundenen Leichname im Bild. Im Medaillon in den Concordantiae Caritatis, das nur eine Handlung zeigt, werden dagegen nur die Gefäße mit Blüten gezeigt, die ausgegraben werden bzw. wurden. Gewissermaßen ist also die Erscheinung, die Lukianus zuteilwird, mit der Geschichte des Aufbrechens des Bodens und dem Entdecken der sterblichen Überreste verschränkt. Darin steht die Darstellung dem zugehörigen Text (fol. 200r) nahe: Dort wird nur die Vision mit den Blütenbehältnissen und der durch sie gefundene, verehrungswürdige Schatz (sic iste venerandus thesaurus […] est repertus) genannt, die gesamten Umstände der Gebeinauffindung aber gar nicht weiter geschildert. Greifbar wird durch die Art der Darstellung im Medaillon auch, dass die Bodenstücke weniger einen Bezug zu einem konkreten Handlungsort herstellen sollen, als vielmehr eine Kontinuität schaffende Gestaltungselemente für die Konkordanzen sind, die ohne große Veränderungen dennoch so sehr form- und bearbeitbar sind, dass sie für die fast 1200 Szenen eine geeignete Grundlage bieten. Diese also auch für symbolische Darstellungen offene Form erklärt, weshalb es auch möglich (aber für heutige Betrachter*innen vermutlich eigentümlich anmutend) ist, im Medaillon zum Fest der Dornenkrone Christi (fol. 207v, Abb. 23, REALonline 004087) den Schmerzensmann in dieses – nur leicht ins Ornamentale hin aufgelöste – Bodenstück zu ‚stecken‘.
Aber auch in anderer Weise sind diese Bodenstücke besonders flexibel: In einer gewissen Bandbreite agieren sie als ‚Metamorphe‘. Auch wenn sie dabei nicht – wie in Film- oder Serienwelten, in denen dieser Begriff häufiger verwendet wird – wie die Protagonist*innen aus der Serie Barbapapa zwischen Objekt- und Lebewesenstatus oder wie in Terminator II zwischen unterschiedlichen Aggregatszuständen wechseln, bilden sie Höhlen, formen Sitze oder Liegen (in weiterer Folge unter dem Schlagwort ‚Mobiliar‘ subsummiert), Ufer, Hügel und Berge.
Berge und Hügel, Untergründe, die dem Bildpersonal als Sitze oder Liegen dienen (vgl. Abb. 8, 16, 24, 25, 26, 28), sind dabei nicht völlig von den Bodenstücken unterschiedene Gebilde, oder richtiger: nur hinsichtlich ihrer äußeren Form. Das Innere dieser Gebilde birgt die bereits bekannte Gestaltungsart: Hier wird das Muster der Risse und Furchen in einen anderen Umriss eingepasst – seltener durch eine Art Dehnen, in den meisten Fällen durch rapportartiges Übereinandersetzen in zwei oder mehreren Reihen – und nicht etwa versucht, von den Bodenstücken abweichende und visuell dezidiert abgrenzbare Gestaltungselemente oder aber Terrassenberge bzw. derart abgetreppte Naturformen wiederzugeben. Der neutrale Untergrund scheint die benötigten Landschaftselemente oder das Mobiliar einfach aus sich hervorzubringen.
Ein weiterer Fall dieser modalen Verwendungsweise sind die Add-ons von einfachen, Gras andeutenden, kurzen, parallelen oder gekreuzten Strichen an der Oberkannte der trockenen Erdschollen bzw. zerklüfteten Felsen, welche die Bodenstücke zu Wiesen machen (vgl. fol. 129v, Abb. 26, REALonline 004011). Wie bei den felsigen Böden, die durch zusätzliche Steine auf den ansonsten in ihren Charakteristika relativ konstant bleibenden Bodenstücken realisiert werden, wird hier mit additiven Mitteln gearbeitet. Das gilt auch grundsätzlich für alle pflanzlichen Elemente, die aus diesen trockenen Bodenstücken in den Bildern der Lilienfelder Handschrift erwachsen: Auch ein vegetabiles Element kann hier hinzugefügt werden, obwohl sich in Relation zur physischen Welt damit ein gewisser Widerspruch auftut. Allerdings sind die mit kurzen grünen Strichen angedeuteten Wiesen vergleichsweise anders ausgeführt: Sie sind – wie anhand ihrer Setzung bzw. den Überschneidungen mit anderen Bildelementen deutlich wird – als letzte Elemente im Prozess der Federzeichnungen eingefügt und damit in den meisten Fällen nicht bei der Konzeption oder Vorzeichnung bereits mitgedacht worden.
In einer weiteren Spielart dieser Umgestaltungen (z. B. fol. 15v, zur Muschel, REALonline 003897C) – und auch darin zeigt sich, wie sehr die Bodenfläche als künstlerisch formbare Masse zu verstehen ist – wird die (mit Ausnahme der konstitutionellen Risse, Furchen und Aussparungen) eher zweidimensional gehaltene Standfläche vergrößert. Auf diese Art wird für bestimmte Anforderungen an die visuelle Umsetzung ausreichend Platz geschaffen, um Objekte, Figuren oder Tiere auf dieser Fläche anordnen zu können. Die Bodenfläche wird so zu einer Art von ‚Schauboden‘. Mit dieser Vergrößerung erhöht sich auch der räumliche Eindruck der Szene.
Die Beobachtungen zum modalen Einsatz der Bodenstücke hat mich veranlasst, neue Daten zu erheben, um zu sehen, ob damit die ‚Formbarkeit‘ dieser zerklüfteten Felsen bzw. trockenen Erdböden besser untersuchbar wird. Dafür habe ich folgende Kategorien gebildet: Anhöhe (für alle Hügel, Berge etc.), Wiese (für die bereits genannten ‚begrünten‘ Bodenstücke), Ufer, Weg, Höhle, ‚Mobiliar‘ und ‚Schauboden‘.
Die Verteilung dieser besonderen Ausformungen oder Add-ons zu den Bodenstücken zeigt (Abb. 27), dass diese in den Medaillons (Bildfeld a) über viele Folios hinweg nicht eingesetzt werden. In den Naturallegorien (Bildfelder d und e) sind diese Varianten der Bodenstücke dagegen häufiger zu finden und sie scheinen folglich vor allem für diese Bereiche eine besondere Relevanz zu haben. Aus diesen beiden Umständen ist schon zu schließen, dass die Ausformungen der Bodenstücke nicht an die Bildung von Konkordanzen über alle fünf Bildfelder geknüpft sind.REALonline 003886), womit das Römerbriefzitat „Hora est jam nos de somno surgere“ („Es ist an der Stunde, dass wir vom Schlafe erwachen“, Rom 13,11) umgesetzt wird, ein Bett zentral für die Darstellung. In den beiden Bildfeldern zu den Typen, der Ermordung Isobeths (= Isch-Boschet) und Siseras (Abb. 25), sind die Liegestätten, auf denen die beiden Personen im Schlaf getötet werden, aus trockenem Erdboden bzw. zerklüfteten Felsen gebildet. Die beiden letztgenannten Begebenheiten tragen sich laut Text (fol. 5r) in einem Haus (domus) bzw. Zelt (tentorium) zu. Bei der Ermordung Isobeths (Abb. 25 links) wird zusätzlich auch sein Bett (lectus) genannt. Im Bild jedoch wird nur ein turmartiges architektonisches Element mit der davorsitzenden Hüterin dargestellt, die eingeschlafen ist und damit den Aggressoren den Zutritt ermöglicht hat. Sieht man sich die anderen Beispiele für aus Bodenstücken geformte Liegestätten in der Lilienfelder Handschrift an, zeigt sich, dass diese häufig für getötet am Boden liegende Personen verwendet werden – auch wenn sie der Tod nicht im ‚Bett‘ ereilt.
So ist etwa im Medaillon mit Paulus, der einen Schlafenden anrührt (fol. 4v,Die zu mobiliarähnlichen Ausstattungsstücken umgeformten Bodenstücke sind auch bei der Geburt Christi und der Anbetung der Hirten interessant. In den Medaillons der aufeinanderfolgenden Folios 12v (REALonline 003894) und 13v (Abb. 28, REALonline 003895) ist Maria einmal in einem Bett platziert (das auf einem mit Rissen und Furchen gestalteten Grund steht), einmal auf einem hellen Textil, das scheinbar direkt auf dem quasi zur Liege umgeformten braunen Bodenstück aufgelegt ist. Beide Varianten sind in der verfügbaren Bildtradition zur Geburt Christi in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu finden. Sie in so knapper Abfolge – nach nur einmal umblättern – für Geburt bzw. Anbetung der Hirten zu verwenden, ist dagegen meines Wissens eine spezifische Umsetzung in den Concordantiae Caritatis. Ob in diesem einen Fall tatsächlich die Kargheit des Bodens, der damit mehr in den Blick gerät und in der Kunst der Antike mit einer eremitischen Lebensweise in Verbindung gebracht wurde, oder der ephemerere Charakter der Liegestatt am Boden den Ausschlag dafür gegeben haben, muss offen bleiben. Für erstere Lesart kann der Verweis im zugehörigen Text (fol. 14r) ins Treffen gebracht werden, der Maria als wahrhaft Büßende (id est vere penitentem) bezeichnet. Das hieße aber auch, dass Rezipierende punktuell Material-Aspekte wahrnehmen und in einer bestimmten Lesart deuten können müssen, obwohl sich aufgrund der ubiquitären Verfügbarkeit der so dargestellten Bodenstücke in der Lilienfelder Handschrift eine Verbindung mit dieser Thematik nicht aufdrängt.
Aus der Verteilung (Abb. 27) wird auch deutlich, dass es immer wieder Cluster der Wiesen-Add-ons gibt – vor allem bis Folio 35v treten sie gehäuft auf. Gerade im letztgenannten Bereich sind sie aber nur selten direkt inhaltlich motiviert. Beispiele dafür sind die Szene mit Nebukadnezar (fol. 40v, REALonline 003922A), der nach der Zeit des Verstoßenseins aus der Gesellschaft, in der er laut Bibel wie die Rinder Gras fraß (Dan 4, 30), wieder auf den Thron zurückkehrt, oder andere Folios, auf denen weidende Tiere eine wichtige Rolle spielen. Ansonsten lassen sich für mich keine Beweggründe für die Setzung dieser Motive eruieren. Nachdem in manchen Fällen innerhalb der Cluster von Wiesen-Add-ons bei Szenen wie Gastmählern dieses Gestaltungselement nicht zum Einsatz kommt (z. B. auf fol. 128v, REALonline 004011 und 129v, Abb. 28) und in wenigen Fällen die grünen Schraffuren in (statt auf) die Bodenstücke gesetzt sind (fol. 35v, REALonline 003917, 129v, Abb. 28), könnten wir vielleicht auch die Ergebnisse eines Redaktionsprozesses vor uns haben. Sollte das der Fall sein, sind bei der Adaption die zerklüfteten Felsen bzw. trockenen Erdschollen im Zusammenhang mit weidenden Tieren und wegen ihrer einheitlichen Verwendung für innen- und außenräumlichen Darstellungen als verbesserungswürdig aufgefallen. Dass es grundsätzlich zu Überarbeitungen kam, zeigen die Stellen, an denen im Hauptteil der Concordantiae Caritatis Szenen oder einzelne Elemente in einer anderen Technik und Darstellungsweise eingefügt sind.
Fazit und Ausblick
Grundsätzlich bieten textuelle Annotationen zu dargestellten Materialien eine gute Grundlage für den Vergleich von vielen Bildquellen, aber auch für medienübergreifende Untersuchungen. Wenn etwa hinsichtlich der Cherubim (fol. 8v, 9r, Abb. 8) sowohl die Materialien im Text als auch in den Darstellungen erfasst und abfragbar sind, können gleiche, aber auch variante Erzählstrategien auf dieser Ebene festgemacht werden.
Aspektivierungen von Material sind (wie etwa im Beispiel von fruchtbar bzw. unfruchtbar machender Quelle, fol. 75v, Abb. 9 rechts unten) mitunter aber nur an anderen Faktoren der Darstellung (in diesem Fall daran, welche Körperhaltung und Blickrichtung die beiden Frauen einnehmen, sowie anhand ihrer Physiognomien), jedoch nicht am Material selbst ablesbar (in diesem Fall anhand der dargestellten Quelle). Solche komplexen Zusammenhänge zu modellieren, um sie über viele Bilder hinweg für ein Distant Viewing analysierbar zu machen, scheint einerseits in weiter Ferne. Andererseits könnten bei diesem konkreten Beispiel zu den Wirkungen der beiden Quellen die in den Digital Humanities bereits entwickelten Methoden hilfreich sein, Körperhaltungen und Blickrichtungen von Bildpersonal als Muster erkennbar und so in einem zweiten Schritt für solche indirekt umgesetzten Materialaspektivierungen deutbar zu machen.Marmor
Die Eigenschaften von Marmor (u. a. Adern oder Flecken) ermöglichen es Bearbeiter*innen, relativ zweifelsfrei eine manuelle Annotation zu machen – zumindest sofern man der viel breiteren Auffassung dieses Gesteins folgt, die der im Mittelalter geläufigen nahekommt. In REALonline wurde durch die Annotation Material ‚Stein‘ und Form bzw. Eigenschaft ‚marmoriert‘ die konkrete Gesteinsart offengelassen, aber mit diesen Daten konnten alle relevanten Objekte für die vorliegende Untersuchung abgefragt und ihre Verteilung über alle Bildfelder und Folioseiten (Abb. 10) der Concordantiae Caritatis visualisiert werden. Bei den Annotationen wurden abgesehen von der Farbe keine weiteren Eigenschaften des Materials erfasst (z. B. Vorhandensein von Einschlüssen, Flecken, Adern). Hinweise auf den Verarbeitungsgrad oder Zustand des Marmors geben in manchen Fällen zugeordnete Annotationen wie ‚Relief‘ oder die Form bzw. Eigenschaft ‚gebrochen‘. Im Fall der Lilienfelder Handschrift konnte anhand der Daten gezeigt werden, dass die größte Häufung von Marmordarstellung mit dem Thema ‚Grablegung und Auferstehung‘ korreliert. Noch interessanter aber war zu sehen, wie materiale Konkordanzen für einen Anschluss zu diesen Sujets eingesetzt werden. Bei den Marmoraltären mit den Phönixdarstellungen (Abb. 12 und 16) zeigt sich, dass hier keine bestehenden Bildtraditionen und vermutlich auch keine Bezugnahmen zu realen Sakralobjekten den Ausschlag für die Wahl (und generell das Explizit-Machen) des Materials und seiner Farbe gegeben haben. Hier wurden die Freiräume in der bildlichen Umsetzung dafür verwendet, für die Rezipient*innen anhand von Material (und seinen Aspekten wie Farbe) inhaltliche Verlinkungsangebote bereitzustellen. Ergebnisse wie diese können den Ausgangspunkt für den Vergleich von unterschiedlichen Erzählstrategien bilden, die sowohl Gegenstand disziplinärer, aber auch interdisziplinärer Untersuchungen sein können – wofür etwa das Beispiel von nur einer Marmornennung im Text der Concordantiae Caritatis Anlass gibt.
Zerklüftete Felsen / trockene Erdschollen
In vielerlei Hinsicht anders ist die Lage in Bezug auf die dargestellten Bodenstücke aus zerklüfteten Felsen bzw. trockenen Erdschollen. Hier kann in den allermeisten Fällen nicht geklärt werden, welches der genannten Materialien gemeint ist oder ob gegebenenfalls auch noch auf ein anderes angespielt wird. Mit ein Grund dafür ist die – im Vergleich zu den Marmorobjekten – über weite geografische Gebiete und eine lange zeitliche Dauer hinweg bestehende Bildtradition, in der diese Gestaltungselemente zu verorten sind. Sie kommen in den unterschiedlichen Kontexten vor, erfahren aber gleichzeitig immer wieder neue stilistische und inhaltliche Funktionalisierungen. Dieses Phänomen ist auch in den Concordantiae Caritatis zu beobachten, bei denen die zerklüfteten Felsen bzw. trockenen Erdschollen auf (fast) allen Bildseiten vorkommen und auch für innenräumliche Sujets oder symbolische Themen eine geeignete Basis bilden. Dieser Artifizialität gegenläufig sind Materialmarker (Risse, ausgebrochenes Material) angegeben, sodass es sich nicht um rein ornamentale Darstellungsformen handelt und ein – wenn auch sehr allgemeiner und unkonkreter – Bezug zur physischen Welt erhalten bleibt. Materialdarstellung, so führt das Beispiel eindrücklich vor Augen, ist in den seltensten Fällen eine weniger oder mehr gelungene Nachahmung von bereits existenten und ggf. geformten Stoffen. Vielmehr ist sie ein künstlerisches Durcharbeiten, Gestalten, Adaptieren, Verfremden von Materialien im Dienst der Erzählstrategien oder des Bildkontexts, wobei die physische Welt einen losen Rahmen vorgibt. Im Fall der variabel einsetzbaren Bodenstücke geht es sogar noch einen Schritt darüber hinaus: eigentlich muss man sie – in allen ihren Erscheinungsformen (Berg, Ufer, Wiese etc.) – als ein künstlerisches Material sehen, das unterschiedliche Gestalten annehmen kann.
Textuelle Annotationen in REALonline konnten nur sehr bedingt eine Grundlage für die Untersuchung dieser Materialdarstellungen bilden: Weder sicher zutreffende Zuordnungen zu einem Material noch eine einheitliche, adäquate Bezeichnung des Objekts ist möglich; auch der Begriff ‚Bodenstück‘ ist letztlich kein zufriedenstellendes Behelfsmittel, etwa wenn es sich um dargestellte Berge handelt (z. B. fol. 163v, REALonline 004043D). Und dennoch ist die Zusammengehörigkeit dieser Darstellungselemente augenscheinlich und ihre Bedeutung für die Handschrift nicht zuletzt an ihrem fast durchgängigen Vorkommen (vgl. Abb. 11) abzulesen; zudem werden – wie die Visualisierung ihrer Farben zeigt (Abb. 19) – auch Hinweise auf den Arbeitsprozess der visuellen Ausstattung in diesen Bildbereichen greifbar. Die Material-Aspektivierung der Bodenstücke in Bezug auf unterschiedliche Ausformungen und Add-ons führte bei den qualitativen Betrachtungen zu einem besseren Verständnis für die breite Palette von Einsatzmöglichkeiten dieser Untergründe. Das Distant Viewing über die zusätzlich erhobenen Kategorien zu ihren Ausformungen (Visualisierung: Abb. 27) macht deutlich, dass die metamorphen oder additiven Erscheinungsweisen dieser Darstellungselemente nicht in allen Bildfeldern gleich häufig vorkommen und etwa Cluster der Wiesen-Add-ons auf einen Redaktionsvorgang hinweisen könnten.
Aufgrund der beschriebenen Herausforderungen wären Ansätze aus der bildverarbeitenden Informatik zielführend, um basierend auf visuellen Mustern etwa für die Mitte des 14. Jahrhunderts Verbreitung, Funktionalisierung und Spielarten von zerklüfteten Felsen bzw. trockenen Erdschollen in Mitteleuropa analysieren zu können. Diese könnten hinsichtlich des Marmors auch helfen, Cluster von ähnlichen Gesteinsdarstellungen zu bilden und auf dieser Ebene Vergleiche von vielen Bildern zu ermöglichen. Damit einhergehend, aber auch in Bezug auf bereits existierende oder künftig zu erstellende Daten zur Materialdarstellung spielen Visualisierungsmethoden, die auf die historischen Bildmedien zugeschnitten sind, eine bedeutende Rolle: Erst durch sie wird ein Distant Viewing auch für Wissenschafter*innen verarbeit- und interpretierbar und eine adäquate Grundlage für die Diskussion der Forschungsergebnisse geschaffen.
Mit dem Denkmodell der Material-Aspektivierung wird in den Mittelpunkt gerückt, dass in den visuellen Medien nur bestimmte Aspekte (in einer bestimmten Technik) von Stoffen mittelbar oder unmittelbar wiedergegeben werden können. Die mittelbaren Verfahren können dabei – wie beim Beispiel von den Wirkungen der zwei Quellen – sehr viele Faktoren beinhalten, die außerhalb des über die Materialdarstellung in den Blickpunkt gerückten Objekts liegen. Ein bedeutender Faktor für ein dezidiertes Zeigen eines Materials (im Unterschied zu einem Offenlassen, aus welchem Material ein Objekt sein könnte) sind neben bestehenden Objekt/Material-Links, die entweder in der Erfahrungswelt der Zeit existieren oder über Bildtraditionen etabliert sind, auch materiale Konkordanzen, die Rezipient*innen den Zugang zum Bildinhalt erleichtern.
Untersuchungen zur Materialdarstellung in dem in diesem Beitrag vorgestellten Sinn rücken die Frage von ‚realistischer‘ Wiedergabe von Stoffen in den Hintergrund und erheben zunächst, wie Material in den Bildern prozessiert und funktionalisiert wird. Ergebnisse können spezifische Schwerpunktsetzungen von Materialdarstellungen in visuellen Medien sein, die eine Grundlage für interdisziplinäre Fragestellungen schaffen. Darunter könnten auch Bezüge oder Abgrenzungen zwischen Materialdarstellung und -verwendung fallen, etwa hinsichtlich der in einem Nutzungskontext einer Bildquelle verfügbaren Materialien.
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