Abstract
Die Analysen der Terrakotta-Elemente aus dem 1528/29 begonnenen Ausstattungsprogramm von Schloss Neuburg am Inn geben Aufschluss zum Transfer von Materialwissen anhand eines Werkstoffs, hier Terrakotta in der Bauplastik, und dessen Verlauf von Italien nach Bayern und entlang der Donau. Der Beitrag untersucht ausgehend von selbst erstellten 3D-Digitalisaten mehrerer Terrakotta-Elemente und Räumlichkeiten die Bedeutung des Neuburger Ausbauprojekts. Dabei ist die Terrakotta-Bauzier nicht nur in Art und Umfang außergewöhnlich, sondern auch in der Kombination mit Stuck und Marmor, die ebenfalls auf innovative Weise eingesetzt wurden, so dass das umfassende Programm zur Avantgarde der sog. ‚Renaissance nördlich der Alpen‘ zählt. Dies unterstreicht u. a. die Vergleichbarkeit mit Bauprojekten führender Adelsdynastien, darunter Habsburg, Valois und Tudor, von überregionaler Wirkmacht. Zugleich rückt dadurch, neben den in praktischer Hinsicht vorteilhaften spezifischen Materialeigenschaften, die inhaltliche, materialikonische Komponente von Terrakotta in den Fokus. Den Schlüssel liefert Kontextualisierung zeitgenössischer machtpolitischer sowie ideengeschichtlicher Entwicklungen. Für das Neuburger Projekt ergeben sich so durch die Inbezugsetzung mit Gedankenkonzepten humanistischer Prägung zwei neue Interpretationsansätze: zum einen vermag der gezielte Materialeinsatz in Zusammenhang mit einer Rezeption vitruvianischer Architekturtheorie und den drei darin konstitutiven Eigenschaften von firmitas, utilitas und venustas (Haltbarkeit, Zweckmäßigkeit und Schönheit) gesehen werden. Zum anderen entspricht die Umsetzung des Projekts insgesamt – durch Zusammenführung mit fremden Vorbildern wird Bestehendes zu Neuem, welches das Vorhergehende jeweils übertrifft – geradezu musterhaft dem Dreischritt von imitatio-aemulatio-superratio nach Lorenzo Valla.
Abstract (englisch)
The use of Terracotta in architectural décor is the game-changing element of the design-programme at castle Neuburg am Inn, begun 1528/29. Encompassing the interior as well as the exterior the project is highly innovative for its time and plays a hitherto insufficiently perceived role in the development of the ‘northern renaissance’. Initialized by 3D-models of Terracotta-Elements and containing Staterooms at Neuburg generated by the author, the article investigates on the transfer of knowledge by means of using a particular material, here Terracotta in architectural decor. This includes tracing the physical ways of transfer from Italy to Bavaria and along the Danube as well as the comparability with contemporary building projects of superregional influence by leading dynasties of the European nobility, e. g. the houses of Habsburg, Valois and Tudor. Thus, next to the practical advantages of terracotta, the material-immanent iconologic aspect comes into focus. In combination with political and intellectual currents of the time, eventually two new interpretation approaches of the Neuburg project are taken into consideration: the purposeful use of specific materials, including amongst terracotta also stucco and marble, might relate to a reception of Vitruvian architectural theory with its constitutive qualities of firmitas, utilitas, and venustas (strength, utility, and beauty). Furthermore, it corresponds suspiciously well with the triad of imitatio-aemulatio-superratio after Lorenzo Valla: by adapting the foreign and combining it with the existing innovation is created, which surpasses each of the former.
Inhaltsverzeichnis
Der Ausgangspunkt: Das Ausbauprojekt von Schloss Neuburg am Inn um 1530 unter Graf Niklas III. von Salm und Hofkünstler Wolf Huber
Die hier vorgestellten Objekte (vgl. Abb. 1) sind Teile der Terrakotta-Bauzier aus Schloss Neuburg am Inn in Südostbayern, ca. 10 km südlich von Passau auf einem Sporn oberhalb einer Engstelle am Westufer des Flusses gelegen (Abb. 2 a, b, c). Die Stücke erfuhren bereits im Vorfeld Bearbeitung durch die Autorin im Rahmen eines Vortrags auf dem International Medieval Congress in Leeds 2019
und eines Katalogbeitrags. Die dabei zu Tage gebrachten weiterführenden Zusammenhänge möchte nun der vorliegende Beitrag aufgreifen. Initialen Anlass zur eingehenderen Beschäftigung mit den Neuburger Terrakotten gab eine wissenschaftliche Übung zur Kulturgutdigitalisierung am Lehrstuhl für Digital Humanities der Universität Passau im Wintersemester 2017/2018 und Sommersemester 2018. In Zusammenarbeit mit den Studierenden entstanden in Anwendung der fotobasierten Aufnahmemethode der Photogrammetrie 3D-Digitalisate der Objekte. Die vollplastischen Modelle der Terrakotten sowie zweier Räume, in denen die Stücke ursprünglich integriert waren, können nun mittels Viewer interaktiv von allen Seiten bei variablem Maßstab am Bildschirm betrachtet werden. Zielsetzung war, neben der ‚Pflicht‘ der Dokumentation von Beschaffenheit und Materialität der Objekte als ‚Kür‘ durch Erschließung des kulturhistorischen Kontexts objekt- sowie methodenspezifische Fragen an die Digitalisate zu entwickeln und damit deren (wissenschaftlichen) Wert und Aussagekraft über die reine Dokumentation hinaus zu erhöhen.Daran soll im Folgenden angeknüpft werden. Die Digitalisate verstehen sich dabei als Ideengeber bzw. Ideenvermittler, die den Vorteil der virtuellen Wiedergabeform nutzen, den Blick verstärkt auf gestalterische Details, Plastizität und Materialität der Objekte zu lenken. In manchen Aspekten übertrifft diese Art der Betrachtung sogar die des Originals, wie etwa in den wortwörtlich neuen Blickwinkeln in Perspektive und Maßstab. Insofern handelt es sich also um ein Praxisbeispiel für den Einsatz von Objekt-Digitalisaten in kunst- bzw. kulturhistorischen Analysen. Zugleich offenbart sich darin eine zentrale Problematik, denn für sich genommen können die Digitalisate Mittel, aber nicht Ergebnis der Analysen sein. Um anhand der Formgebung und Materialität von Objekten Aussagen zu treffen, bedarf es, gleich ob virtuell oder real betrachtet, nach wie vor der Inbezugsetzung mit dem Entstehungskontext.
Dieser erweist sich im vorliegenden Fall als außerordentlich ergiebig: Die Terrakottaelemente wurden für das neuartige Ausstattungsprogramm angefertigt, das in Neuburg unter Graf Niklas III. von Salm (1503-1550)
im Rahmen eines groß angelegten Ausbauprojekts mit Hauptbauzeit von 1528 bis 1539 umgesetzt wurde. Beeinflusst von norditalienischen Vorbildern gehört es zur Avantgarde der ‚Renaissance nördlich der Alpen‘ und bedingt die kunsthistorische Sonderstellung von Schloss Neuburg.Progressivität lässt sich bis ins Kleinste nachvollziehen, über Details von Formensprache und Design bis hin zum Material der umfangreich eingesetzten plastischen Baukeramik, id est: Terrakotta. Doch auch im Großen zeichnet sich Programmatik ab: Das Gestaltungskonzept inkludierte den Außenbereich, Terrakottadekor zierte den heute verlorenen zweigeschossigen Arkadengang im ehemals geschlossenen Innenhof des Hauptbaues und kam in den angrenzenden weitläufigen Gartenanlagen zum Einsatz, beispielsweise am Badehaus (‚Wildbad‘), das auf den Grundmauern eines ehemaligen Befestigungsturmes errichtet wurde.
In dieser Gegenüberstellung sind bereits zwei Besonderheiten angedeutet, die das Neuburger Projekt neben den gestalterischen Details auszeichnen: die Art der Umsetzung als Innen- und Außenbereich übergreifendes Programm und die Übernahme bestehender Strukturen, aus denen dennoch Neues geschaffen wurde. Auf diesem Weg werden auch die Objekte auf zweierlei Art zu Bedeutungsträgern: zum einen anhand der Details von Material und Form im Einzelnen, zum anderen in ihrer Funktion als Bestandteil eines Gesamtkonzepts – eine Lesart, die neue Deutungsansätze ermöglicht.
Die kunsthistorische Bedeutung Neuburgs wurde erstmals 1924 thematisiert, und zwar in der Publikation
anlässlich des Abschlusses der Sanierungsarbeiten durch den Bayerischen Verein für Heimatschutz (heute Landesverein für Heimatpflege), der 1908 die dem Verfall preisgegebene Anlage gekauft hatte. Leitende Position und Hauptautorschaft lagen bei Architekt und Ministerialrat Julius Maria Groeschl, dessen persönliches Engagement über 14 Jahre Projektzeit entscheidend für Erhalt und Forschungsgeschichte Neuburgs war. Nachdem Neuburg 1998 in den Besitz des Landkreises Passau überging, befasste sich insbesondere Wilfried Hartleb, langjähriger Kreisheimatpfleger und Kulturreferent, in mehreren Werken umfassend mit verschiedenen Aspekten der (Bau)Geschichte bis in die Moderne. Die prägende Phase der Baugeschichte Neuburgs unter Niklas III. erfuhr 2014 profunde Bearbeitung von Nicole Riegel, die den Fokus dezidiert auf die kunsthistorische Bedeutung des Salmschen Projekts legte und es in internationalen Bezug setzte. Entsprechend ist dieser Aufsatz hier von besonderer Relevanz und bildet die Grundlage der Ausführungen.Im Rahmen der eng am Original bzw. der historischen Überlieferung orientierten Sanierung 1908-1924 erfolgte eine erste Katalogisierung von mehreren Hundert Objekten, die neben Ausstattungsfragmenten auch andere Fundstücke unterschiedlicher Art und Zeitstellung erfasste, etwa 150 Stücke gehören der Terrakotta- bzw. Keramikausstattung der Bauphase unter Niklas III. an.
Eine Reihe besonders qualitätvoller Stücke wird heute im Bayerischen Nationalmuseum in München aufbewahrt, ein Set figürlicher Reliefs wurde außerdem als Kaminaufbau in Schloss Büdesheim in Hessen sekundär verbaut. Der umfangreiche Neuburger Bestand befindet sich in den Räumlichkeiten der Landkreisgalerie vor Ort im Schloss, darunter einige ebenfalls besonders kunstvolle und aussagekräftige Stücke wie Wanddekorfragmente und figürliche Reliefs, von denen zwei hier erstmals als Digitalisat vorgestellt werden.Im Kern geht Schloss Neuburg auf das 11. Jahrhundert zurück, als die Grafen von Vornbach zugunsten ihrer ‚Neuen Burg‘ die Stammburg wenige Kilometer Innaufwärts aufgaben, an deren Stelle das gleichnamige Benediktinerkloster gegründet wurde.
Es folgte eine wechselvolle Besitzgeschichte im Spannungsfeld zwischen Bayern, Österreich und dem Hochstift Passau. Der Wiederaufbau nach der von Bayern ausgehenden Zerstörung 1310 erbrachte der Neuburg die prägende Gestalt einer stattlichen spätmittelalterlichen Wehranlage mit Vor- und Kernburg, deren Wehrhaftigkeit die insgesamt fünf Türme betonen. Damit war die Disposition vorgegeben, auf deren Basis alle späteren Umbauten erfolgten. Im 15. Jahrhundert fanden zeitgenössische Entwicklungen des Sakral- und Wehrbaus in Form der Neugestaltung der Kapelle und der Errichtung einer Bastei am Haupttor Adaption. Am Ende des Jahrhunderts kurzzeitig im Besitz Bayerns gelangte Neuburg nach dem Tod Herzog Georgs von Bayern-Landshut 1503 bzw. nach dem Landshuter Erbfolgekrieg wieder an Habsburg. 1528 schließlich erfolgte die Belehnung Niklas III. von Salm mit der Grafschaft Neuburg, kurz darauf wurde das Ausbauprojekt in Angriff genommen.Den gestalterischen Höhepunkt bilden – bis heute – die drei aufeinander folgenden repräsentativen Prunkräume im Erdgeschoss des Hauptbaues (siehe Abb. 3 und 4 und das Modell Abb. 5): das sogenannte Weißmarmorzimmer im Norden, mittig das sogenannte Rotmarmorzimmer und südlich abschließend die sogenannte Gemalte Kammer. Doch verkörpert was von der einstigen Ausstattung erhalten ist bzw. rekonstruiert wurde
einen nur mehr spärlichen Rest, verglichen mit der ursprünglich über den gesamten Anlagenkomplex hinweg innen wie außen an den Tag gelegten Prachtentfaltung. Eine Vorstellung davon vermittelt am besten der Blick in das Rotmarmorzimmer (vgl. Modell Abb. 6).Abb. 5 / oben: Video mit Modell des Kernbaus von Schloss Neuburg am Inn heute (mit schematischer Rekonstruktion des ehemaligen Arkadenganges im Innenhof) zur Lokalisierung der Anlagenbereiche und Räume. Die im Video gezeigten QR-Codes können gescannt werden, um direkt zu den 3D-Innenraummodellen gelangen. Video / Modell © Simon Oster, Inhalt / Vorgabe: Verfasserin.
Abb. 6 / oben: Blick in den sog. Rotmarmorsaal, den mittleren der drei Prunkräume im EG des Ostflügels von Schloss Neuburg am Inn, im 3D-Modell.
Anschaulich wird die Bedeutung Neuburgs in der Vergleichbarkeit mit zeitgenössischen fürstlichen Bauprojekten überregionaler Wirkmacht: Neben den Residenzen und Adelspalais in den Kulturzentren Prag und Wien unter Ferdinand I. (1503-1564, reg. 1521 / König 1531 / Kaiser 1558) sind hier auch (Aus)Bauprojekte ‚fremder‘ Höfe von höchsten Ansprüchen zu nennen, beispielsweise in Antizipation die Residenz in Buda unter Matthias Corvinus (1443-1490, reg. 1458) sowie zu Neuburg zeitgenössisch Schloss Fontainebleau und Schloss Madrid unter François I. (1494-1547, reg. 1515) oder Hampton Court unter Kardinal Wolsey (1473/75-1530, reg. 1515) bzw. Henry VIII. (1491-1547, reg. 1509). Entsprechende Anforderungen wurden an die jeweiligen von den Fürsten engagierten Hofkünstler gestellt, denn „das Innenleben der Residenzen entfaltete seine ostentativen Eigenschaften weniger gegenüber den eigenen Untertanen […]. Vielmehr erforderte der zunehmende zwischenhöfische, diplomatische Verkehr eine Ausrichtung der fürstlichen Umgebung auf ein internationales Niveau.“
Auch Bauherr sowie Baumeister des Neuburger Projekts waren durch ihre jeweiligen einflussreichen Positionen an weltlichen und geistlichen Fürstenhöfen eng in das politische und kulturelle Geschehen ihrer Zeit eingebunden. Diesen Höfen und deren personellen Netzwerken, die sich über ganz Europa hinweg erstreckten und austauschten, kommt bei Aufkommen und Vermittlung neuer (Gestaltungs-)Ideen Katalysatorfunktion zu.
Für Niklas III. ist in erster Linie der Hof Ferdinands I. als prägend anzusehen. Ohne die enge Bindung der Salm an Habsburg, welche u.a. Niklas‘ III. Ämter als Oberstkämmerer und Hauptmann der Kavallerie Ferdinands I. bereits seit 1524
bezeugen, wären die Entwicklungen in Neuburg inklusive des Baugeschehens undenkbar. Dabei steht Ferdinand I. seit der Teilung des Hauses Habsburg 1521 für die österreichische Linie, während sein Bruder Kaiser Karl V. die spanische Linie begründete. Wenngleich er ‚nur‘ Erzherzog war, hatte Ferdinand seither die Regentschaft in den österreichischen Erblanden übernommen und bestimmte also das Bild der Herrschaftsverhältnisse im unmittelbaren Umfeld des Neuburger Bauherrn.Die Umsetzung des Neuburger Projekts oblag dem vielseitig begabten Wolf Huber (um 1485-1553), der mit wegweisenden Künstlern seiner Zeit wie beispielsweise Albrecht Altdorfer (um 1480-1538) auf einer Stufe steht. Huber war seit ca. 1510 in Passau ansässig, wo er sich vor der Beauftragung mit Neuburg durch Niklas III. 1529 bereits als Maler am bischöflichen Hof und Baumeister einen Namen gemacht hatte. Er fällt in die Kategorie der Hofkünstler, die mit ihren mannigfaltigen Aufgabenbereichen einerseits und ihrer Fähigkeit zum Blick bzw. Denken ‚über den Tellerrand‘ andererseits charakteristisch sind für die von Verdichtung und Umwälzungen geprägte Zeit um 1500. Persönlichkeiten wie Huber waren damit Idealbesetzung für konzeptlastige und vielschichtige Projektaufträge wie den Ausbau Neuburgs.
Die Leistung des leitenden Baumeisters lag dabei in der Koordination der einzelnen Arbeitsfelder und Fachkräfte zur Umsetzung eines übergeordneten Konzepts. Das führte zur Zusammenarbeit mit einem ganzen Team namhafter Künstler; im Falle Neuburgs etwa lieferten die Kupferstichvorlagen für die Terrakottafriese Georg Pencz (um 1500-1550) und Sebald Beham (1500-1550).
Als führende Köpfe der Künstlergruppe der sogenannten Nürnberger Kleinmeister waren sie berüchtigt für ihre sowohl inhaltlich als auch in der Art der Umsetzung unorthodoxen Darstellungen zwischen Konversion und Subversion. Nicht von ungefähr scheint Huber daher gerade mit ihnen Kooperation für das Neuburger Ausstattungskonzept gesucht zu haben, wo es ebenfalls neue Wege (der Gestaltung) zu beschreiten galt. Wie am Beispiel dieser Zusammenarbeit sinnfällig wird, gelang dies u.a. in der Zusammenführung traditioneller und moderner Aspekte, wobei in Neuburg der besondere Reiz im virtuosen Zusammenspiel von Medien und Materialien liegt (vgl. Abb. 7, 8, 9, 10).Abb. 7 / oben: Terrakottarelief mit stilisierten kämpfenden Tritonen, ursprünglich Teil des umlaufenden Frieses der Wandverkleidung des Rotmarmorsaals von Schloss Neuburg am Inn, um 1530. Original in der Landkreisgalerie Schloss Neuburg am Inn (Inv. Nr. 79). 3D-Modell.
Kontext 1: Materialität, Herstellung, Einflussrichtungen
Dass dabei gerade Terrakotta in auffallend großem Umfang zum Einsatz kam, erklärt sich in praktischer Hinsicht bereits durch die in der spezifischen Materialität vereinten Vorteile, die diesen Werkstoff für progressive Bauvorhaben prädestinieren; insbesondere leichte Formbarkeit und Beschaffung des Rohmaterials bei günstig und seriell umsetzbarer Herstellung der benötigten Elemente. Für die einzelnen Herstellungsschritte waren jeweils Spezialisten von Nöten, wie etwa der Baumeister für die Konzeptualisierung des Ausstattungsprogramms und die Platzierung der Einzelstücke am Baukörper zu einem schlüssigen Gesamtbild, Bildhauer, Holz- oder Kupferstecher für die Formgebung (Modelherstellung / graphische Vorlagen), Ziegelbrenner für die Herstellung und Verarbeitung des Rohmaterials (Mischung des Tons, Brennen der Stücke) etc. Daraus ist abzuleiten, dass, sobald sich in einem dieser Arbeitsschritte Änderungen ergaben, eine Übernahme fremder Techniken oder Stile angenommen werden kann. Die Verwendung von Terrakotta an sich wird damit tendenziell zu einem Indiz oder Marker von Innovations- und Transferprozessen. So geschehen in Neuburg, wo im Austausch des leitenden Baumeisters mit dem Auftraggeber und den Spezialisten der verschiedenen Aufgabenbereiche ein fortschrittliches Ausstattungskonzept entstand, welches den Import neuer Methoden und Stile voraussetzte.
Die Inspiration dazu ist, wie zu zeigen sein wird, in der Lombardei / Norditalien zu verorten und kann sowohl auf ganz konkrete Ereignisse als auch auf Entwicklungen über einen längeren Zeitraum hinweg zurückgeführt werden. Transferweg erster Wahl für Waren, Personen sowie das zugehörige Gedankengut im Gepäck war seit jeher das Flussnetz.
In Neuburg ist dazu Direktzugang gegeben: Der Inn stellt mit der Mündung in die Hauptverkehrsader der Donau wenige Kilometer flussabwärts in Passau sozusagen eine internationale Fernstraßenanbindung zwischen Schweiz und Schwarzem Meer dar und fungiert als Zubringer der Alpenflüsse. Für die Produktion von Keramik in ihren unterschiedlichen Gebrauchsformen (etwa Bau-, Gefäß- und Ofenkeramik) ist im Untersuchungsraum diesseits wie jenseits der Alpen früh Spezialisierung und Zentrenbildung zu beobachten, und es kann jeweils auf eine lange örtliche Herstellungstradition zurückgeblickt werden. Speziell was Ziegel und Formziegel bzw. Terrakotta betrifft, wurden diese ab dem 15. Jahrhundert in der Lombardei fortgeführt und weiterentwickelt, namentlich in Pavia, Mantua, Mailand und Piacenza. (Abb. 11 a, b)Zudem ergab sich für das Neuburger Projekt ein Heimvorteil, denn einige der einflussreichsten Zentren Altbayerns zur Herstellung von Bau- und Ofenkeramik
befanden sich in praktischer Reichweite. Darunter Dingolfing an der Isar, wo beispielsweise die Herzogsburg um 1410/20 aus geschlämmten Backsteinen errichtet wurde, deren Giebel Luftfenster mit Maßwerk aus Formsteinen zieren. Im ebenfalls via Isar und Donau erreichbaren Landshut reicht der Verweis auf die Martinskirche mit dem welthöchsten Backsteinturm (1441). Die größte Bedeutung für Neuburg hatte jedoch das etwas weiter nördlich an der Donau gelegene Straubing: Dort hatte auch der Hafnermeister Sebastian Ratinger (Rätinger) seine Werkstatt, auf den ein großer Bestand polychrom glasierter Ofenkacheln mit plastischen ornamentalen und figürlichen Darstellungen für die Öfen in Schloss Neuburg zurückgeht. Die Zuordnung belegen erhaltene Kachelfragmente mit dem Namenszug des Meisters. Die figürlichen Darstellungen der Ofenkacheln indizieren einen ähnlichen Austausch mit Künstlern für die Bildvorlagen und mit Baumeistern für die Konzeptvorgaben wie im Fall der Terrakotta-Friese, wahrscheinlich sogar mit derselben Künstlergruppe, und es ist anzunehmen, dass Ratinger bzw. dessen Werkstatt auch an der Herstellung der in der Bauzier verwendeten Terrakottaelemente Neuburgs maßgeblich beteiligt war. Das nahegelegene Passau selbst scheint eher als Umschlagplatz, denn als Produktionsort von Bedeutung gewesen zu sein, wenngleich sich nach bisherigem (noch unzureichendem) Forschungsstand auch hier ab dem 15. Jahrhundert die Verwendung von Ziegeln im Profanbau belegen lässt. Nach (Süd)osten, entlang der Donau und im Burgenland bis nach Ungarn, befanden sich wiederum weitere Produktionszentren, hier ist ebenfalls Spezialisierung auf Architekturteile und Plastiken aus Terrakotta im 15. und 16. Jahrhundert zu beobachten. (Abb. 12 a, b)Örtliche Expertise der Verarbeitung des regional verfügbaren Rohmaterials in Kombination mit neuen (Design-)Impulsen aus angrenzenden Regionen schufen also optimale Ausgangsbedingungen für das Umsetzen moderner Gestaltungkonzepte (wie) beim Neuburger Projekt. Es scheint, dass gerade dieser Hintergrund lokaler Gegebenheiten und Traditionen es erst ermöglichte, auf gewandelte Anforderungen so zeitnah zu reagieren, dass sich ein Vorsprung in der Verbreitung neuer Formen gegenüber anderen Regionen ergab. Insgesamt trug dieser fruchtbare Boden sicher seinen Teil zum Erfolg der hier untersuchten Austausch- und Transferprozesse bei. Um die Metapher aufzugreifen, es war sozusagen in materieller Hinsicht das Feld bestellt, nun fehlte nur noch der ideelle Gewitterregen, um die Saat zum Keimen zu bringen. Wie sprang also der Funke über? Auf zweierlei Wegen lässt sich in Südostbayern eine Art ‚italophiles Epizentrum‘ für den Import bzw. den Austausch mit der Kultur Norditaliens rekonstruieren.
Kontext 2: Rekonstruktion der Entstehung des Neuburger Gestaltungskonzepts
Das Cluster fürstlicher Bauherren, die um 1530 in Bayern jene später als Renaissance bezeichneten Formen einführten, hatte bereits in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts Italienerfahrungen sammeln können. Besonders aufschlussreich sind hier die Bildungsreisen bzw. Studienaufenthalte der fürstlichen Bauherren in spe in norditalienischen Universitätsstädten. In einigen Fällen dürften sie sogar Kommilitonen gewesen sein oder Vorlesungen der gleichen Dozenten gehört haben.
Dies gilt vor allem für Nachgeborene, für die meist eine geistliche Laufbahn vorgesehen war.Das Bistum Passau stellt hier ein entscheidendes Bindeglied dar, auch hinsichtlich der Einbindung in das machtpolitische Geschehen, was in den jeweiligen Inhabern des Bischofsstuhls seine Personifikation fand. Denn als Sondersituation kamen hier bei der Bischofswahl traditionell und in überdurchschnittlich hohem Maß ehemalige italienische Universitätsangehörige zum Zug. Im vorreformatorischen Zeitalter konnten gar alle Passauer Bischöfe Abschlüsse an den großen Juristenuniversitäten Padua, Pavia, Bologna oder Ferrara vorweisen.
Nach 1500 ist besonders Ernst von Bayern (1500-1560) aus dem herzoglich-wittelsbachischen Brüdertrio mit Wilhelm IV. (1493-1550) und Ludwig X. (1495-1545) zu erwähnen. Ernst trat bereits im Alter von 15 Jahren in Begleitung des Humanisten und herzoglichen Lehrers Johannes Aventinus eine erste Studienreise nach Italien an. Dieser Tradition folgte auch Niklas‘ III. jüngerer Bruder Wolfgang von Salm (um 1514-1555), dessen Studium an der Universität von Padua für 1533 belegt und für den ein Aufenthalt in Norditalien von entsprechender Länge anzunehmen ist. Ernst wurde 1517 Administrator des Bistums Passau, 1540 gelang ihm der Wechsel nach Salzburg. In Passau übernahm Wolfgang sein Amt, im Rahmen dessen er bezeichnenderweise für seine humanistische Gesinnung bekannt wurde.Die Anstöße für die in der Bau- und Bildkunst feststellbare Beeinflussung durch norditalienische Formensprache können also auch auf diesem Wege zurückverfolgt werden und erweisen sich somit als tiefer verwurzelt bzw. breiter gestreut als bisher gemeinhin bekannt. Das heißt, die erwähnte Beeinflussung ist nicht nur auf punktuelle Verbindungen von Einzelpersonen zurückzuführen, sondern erscheint als epochenspezifisches Phänomen, das in der Region um Passau vergleichsweise früh Ausprägung erlangte. Die ‚italienische Idee‘ muss hier also schon einige Jahre früher aufgekommen sein als ihre baulichen Manifestationen. Gleichwohl kommt den Persönlichkeiten an der Spitze weltlicher oder geistlicher Herrschaften dieser Region, so sie als Bauherren und Auftraggeber in Aktion traten, Vermittlerfunktion in der Verbreitung neuer Gestaltungsweisen zu. Zu nennen sind neben Schloss Neuburg am Inn unter Niklas von Salm und der bischöflichen Residenz Hacklberg bei Passau unter dessen Bruder Wolfgang insbesondere die bekannte Landshuter Stadtresidenz Ludwigs X.
sowie Schloss Neuburg an der Donau unter Kurfürst Ottheinrich aus der pfälzischen Linie der Wittelsbacher (1502-1559). Weniger geht es in dieser Vergleichsreihe darum, welche Anlage nun das Rennen um den ‚frühesten Renaissancebau nördlich der Alpen‘ macht – dass dieser Pokal Landshut gebührt, scheint zudem mehr und mehr zweifelhaft – sondern generell um deren Auffassung als Marker im Rahmen einer überregionalen Entwicklung. Hervorzuheben ist dabei jedoch die Protagonistenrolle der Grafen Niklas II. und III. von Salm in diesem Kontext, worin sie bislang nicht die angemessene Aufmerksamkeit erfuhr.Dieser Grundlagenbildung über einen längeren Zeitraum ist mit der Schlacht von Pavia 1525 ein punktueller und kaum zu unterschätzender Schlüsselmoment zur Seite zu stellen: Im Rahmen der sogenannten Italienkriege bzw. im Kampf um die Hegemonie in Europa zwischen den Habsburgern unter Kaiser Karl V. und dem Haus Valois unter König François I. von Frankreich fand sich eben jene Personengruppe samt Entourage im Gefolge des jeweiligen Dienst- oder Landesherren in Norditalien ein, was selbstredend auch Besuche örtlicher verbündeter Fürstenfamilien und deren Residenzen beinhaltete. Zu den Schauplätzen gehörten neben Pavia auch Mailand, Lodi und Piacenza (Abb. 13, 14).
Der Feldzug bedeutete ein Aufeinandertreffen von Macht, Reichtum, Kunst und Geltungsstreben, von Entscheidungsträgern und Spezialisten in diversen Gebieten – kurz: des Who’s Who der europäischen Elite – und hatte entsprechende Katalysatorwirkung: Berichte von Geschehen und Gesehenem wurden in die Heimat geschickt, wer konnte, ließ die Eindrücke beispielsweise durch Hofmaler aus der eigenen Reisebegleitung vor Ort festhalten oder verfasste eigenhändig detaillierte Beschreibungen für die anschließende Umsetzung durch heimische Fachkräfte. Es verwundert daher wenig, dass Darstellungen der Schlacht von Pavia sich in ganz Europa in mannigfachen Ausführungen in den verschiedenen Kunstgattungen wiederfinden lassen; neben Gemälden waren besonders Tapisserien und Reliefs beliebt. (Abb. 15, 16, 17 a)
Vor allem aber nahm in Pavia die Vorreiterrolle der Grafen von Salm wortwörtlich ihren Anfang, zunächst auf dem Schlachtfeld und in der Folge in den von ihnen beauftragten Kunst- bzw. Bauwerken: Niklas II. hatte entscheidenden Anteil an der Gefangennahme König François I.
(Abb. 17 b) und damit am Ausgang der Schlacht zu Gunsten Habsburgs, sein Sohn Niklas III. war als Hauptmann der Kavallerie ebenfalls unmittelbar beteiligt.Auf die ruhmreichen Taten bei Pavia erfolgte 1528 die Belehnung mit der Grafschaft Neuburg
, Pavia war daher für den Werdegang des Geschlechts derer von Salm in besonderem Maße schicksalsprägend. Gestalterisch niedergeschlagen hat sich dies in der Tätigkeit Wolf Hubers für die Grafen von Salm. Die Skizze der Schlacht bei Pavia 1525, die Huber im selben Jahr anfertigte, bietet eine der authentischsten und detailgetreuesten Wiedergaben der Vorgänge. (Abb. 18) Zugleich lässt das Blatt darauf schließen, dass Huber wohl tatsächlich vor Ort war und somit eine entsprechende Zeitspanne im Gefolge der Grafen in Norditalien verbrachte. Wo, wenn nicht hier, sollten also die Ideen für das Neuburger Ausstattungskonzept ihren Ursprung haben?
Weiterhin diente die Zeichnung als Vorlage für Loy Herings Reliefdarstellungen auf dem von Ferdinand I. gestifteten
Grabmal Niklas II., heute in der Votivkirche in Wien, für das auch Hubers direkte Beteiligung angenommen wird. (Abb. 19)Die Beisetzungsfeierlichkeiten 1530 führten zu einer Zusammenkunft von für die Entwicklungen um Neuburg entscheidenden Köpfen und lassen die Wege des Ideentransfers rekonstruieren: Niklas III. war in Wien natürlich vor Ort, auch Wolf Huber, der noch als bischöflicher Hofmaler im Gefolge des Passauer Administrators Ernst von Bayern anwesend war.
Mit von der Partie war schließlich noch der junge Wolfgang von Salm, der später nicht nur die Amtsnachfolge Ernsts sondern auch jene als Auftraggeber Hubers antreten sollte. Ein weiteres wichtiges Puzzleteil der Rekonstruktion der Transferwege lässt sich anhand dieses Treffens einfügen: Mit großer Wahrscheinlichkeit geschah es im Rahmen der Zusammenkunft in Wien 1530, dass die Formen, genauer die Model der in Neuburg angebrachten Terrakotta-Bauzierelemente an ihren zweiten Einsatzort überführt wurden, nämlich in das nahe Wien gelegene Schloss Orth an der Donau, welches sich seit 1523 in Salmschem Besitz befand. Die Gleichförmigkeit der hier wie dort erhaltenen Stücke lässt keinen Zweifel offen, dass es sich um dieselben Model handelte. (Abb. 20 a-d)Abb. 20 a-d / oben: Terrakotta-Konsolen in Schloss Neuburg am Inn (a, c) und die Pendants in Schloss Orth an der Donau (b, d). In 20 d) gut zu erkennen das Salmsche Wappen, das in der Neuburger Version nicht (mehr) plastisch ausgeformt enthalten ist bzw. übermalt wurde. Fotos: Verfasserin 2019.
Huber war zu diesem Zeitpunkt seit bereits etwa einem Jahr als Baumeister Niklas‘ III. in Neuburg beschäftigt. Der die Terrakotten beinhaltende Konzeptentwurf musste also bereits ausgereift und soweit zur Umsetzung gelangt sein, dass man die Model in Neuburg entbehren konnte. Das korreliert mit dem für Orth überlieferten Wiederaufbau unter Niklas III. nach der Zerstörung der Anlage durch die Türken 1529 im Zuge deren erster Belagerung Wiens. Die Wiedererrichtung inklusive der Neugestaltung ist ab 1534 anzunehmen.
Verdeutlicht werden hier in jedem Fall die materialbedingten Vorteile von Terrakotta: leichte und kostengünstige Herstellung, Vervielfältigung und Transport.Stellt die Übersendung von Formvorlagen bereits eine Optimierung dar, war die direkteste Variante des Transfers natürlich, die Fertiger bzw. Spezialisten gleich mit zu ‚importieren‘. Auch dies lässt sich in Neuburg nachvollziehen, desgleichen in den ‚Konkurrenzprojekten‘ in Landshut und Neuburg an der Donau. Dass hier tatsächlich eine Art Wettstreit bestand, zumindest die Bauherren von den jeweiligen Projekten der anderen bestens im Bilde waren und das eigene auch nach außen hin mit Stolz propagierten, dokumentieren beispielsweise die Schriften Pfalzgraf Ottheinrichs: Er stattete Neuburg am Inn 1532 höchstpersönlich einen Besuch ab, als sich die Bauarbeiten offenbar in vollem Gange befanden: „Den 12 tag zog ich mit 32 pferden undt 34 personen, het [einige] vom adel bei mir, bis gen Neuburg am In, besach das schloß undt die gebeuw, wirdt ein schön haus, sprach graf Nicklas von Salen frauwen, undt graf Wolf von Sallen sein bruder an, ist ein große meil dar, darnach zog ich gen Scherding […].“
Bei dieser Gelegenheit waren also Ottheinrich, Bauherr Niklas, dessen Ehefrau und sein Bruder Wolfgang gleichzeitig vor Ort, während das Ausbauprojekt nach Hubers Plänen umgesetzt wurde. Niklas und Wolfgang ihrerseits besichtigten einige Jahre später 1540 den Neubau Herzog Ludwigs X. in Landshut.Schon in den Jahren zuvor tauschte man bereits während die Projekte sich noch im Bau befanden Spezialarbeiter zwischen den Baustellen aus. So wurde der für die Landshuter Stadtresidenz zuständige Baumeister Niklas Überreiter nach Neuburg entsandt, „damit er und sein […] Zimmerpolier Hans eine Ahnung bekämen, wie ein neumodischer südländischer Bau aussehe“. 1537 notiert Überreiter: „mein genediger herr hertzog Ludwig [… hat] mich Niclasen paumeister unnd Hansen Zymerman sambt maister Bernnharden Zwietzl zum graff Niclassn von Salm gen Neuburg am Ynn geschickht.“ Ab dem gleichen Jahr verzeichnen die Rechnungen zur Stadtresidenz explizit italienische Bauleute und Spezialisten, darunter Baumeister Sigmund aus Mantua. Meister Bernhard Walch und ein Trupp italienische Maurer. Die sogenannten Walchen, d. h. die Italiener, fertigten und verbauten Zierstücke architektonischen Dekors. Auch hier lässt sich Austausch mit Neuburg am Inn nachvollziehen, denn 1538 wurden offenbar zur Anleitung für die deutschen Ziegler „zwen walhen ziegler von Neuburg am Yn alher [nach Landshut] ervordert worden.“ Zwischen 1538 und 1541 verzeichnen die Landshuter Rechnungen tausende sogenannter Walchensteine. Der Eintrag „29000 walhenstain mit fasn, Stäben, kellen und collaun, auch mit fillungen, klein lang und groß“ gibt eine Vorstellung vom Aussehen dieser Stücke.
Diesen Vorgängen ging ein erneuter Aufenthalt der Personengruppe der Bauherren in Norditalien voraus, diesmal im Zuge des Streits zwischen Habsburg und Frankreich um das Erbe des Herzogtums Mailand nach dem Tod Francesco Sforzas. Von größter Bedeutung ist dabei der sowohl für Ludwig X. (im April, Mai und Oktober)
als auch für Niklas III. (kurz vor Weihnachten) nachweisbare Besuch des Palazzo Te in Mantua 1536.Dies geht konform mit der in Neuburg zu beobachtenden Modifikation des Ausstattungskonzepts bzw. einer zweiten Bauphase, wobei sich die Hauptbauzeit insgesamt auf 1528-1539 eingrenzen lässt.
Anders als in der ersten Bauphase, die eine autochthone Weiterentwicklung norditalienischer Vorbilder im Rahmen von Hubers Konzeptentwurf auszeichnet, wurde ab 1536 direkter nach italienischem, sprich Mantuaner Vorbild gearbeitet. War die erste Bauphase insbesondere geprägt vom Einsatz vorgefertigter Terrakottaelemente, zeichnet die zweite der Wechsel bzw. die Erweiterung in Materialität und Arbeitsweise aus, indem nun vermehrt Stuck zum Einsatz kam. Mit in Betracht zu ziehen ist bei diesem Wechsel, dass die Fertigung von Gipsstuck um einiges schneller von Statten geht als die bis zu diesem Zeitpunkt praktizierte Verwendung von Terrakotta-Elementen, die einen aufwändigen Herstellungsprozess im Vorfeld bedeutete. Vorgefertigte, d. h. mit Modeln vorgeformte und fertig einsetzbare Terrakotta- bzw. Keramikelemente wurden nun durch direkt vor Ort applizierten Antragsstuck ersetzt bzw. ergänzt. Dieser Entwicklung entsprechen die aus Stuck gefertigten Grotesken-Konsolen in der Gesimszone der Gemalten Kammer. Im Beispiel in Abb. 21 etwa deutet die Gleichförmigkeit der Maske auf ein vorgefertigtes Element, der mittig darüber applizierte Vogel jedoch scheint mit Antragsstuck ergänzt, ebenso die Übergänge zur Wandfläche bzw. Gewölbegrat.Die beiden Phasen sind also direkt mit den Italienaufenthalten Niklas‘ III. in Verbindung zu bringen, d. h. einmal in Pavia um 1525 mit der Renaissancebauweise und der Terrakottabauzier in Neuburg ab 1529 und ein zweites Mal 1536 in Mantua mit Auswirkungen auf die Stuck-Ausstattung des Schlosses bis 1540. Erst in die zweite Phase ab 1536 fällt, wie es die Quellen dokumentieren, der Einsatz fremder, das heißt norditalienischer Fachleute.
Anhand der Namensgebungen dieser Fachkräfte lässt sich die Spur weiter verfolgen: Aufzumerken ist immer, wenn der Name Walch oder der Zusatz ‚welsch‘ erscheint. So etwa in Prag und Wien, wo sich gefördert durch die „Kunstsinnigkeit Ferdinands“ der Einfluss italienischer Bauleute, Künstler und Kunsthandwerker umso nachhaltiger niederschlug.
Prag wiederum war Wirkungsort des Meisters IP , über ihn lässt sich der Bogen zurück zu Neuburg schlagen. Denn IP stand mit Huber in engem Austausch, und mit großer Wahrscheinlichkeit fertigte er auch Stichvorlagen für die Neuburger Terrakotten.Vergleichbare Projekte in Europa: Diplomatie als Katalysator und Terrakotta als Indikator für Know-How-Transfer
Eine ‚Internationalität des Stils‘, wie sie im Falle Neuburgs durch den Einsatz von Terrakotta auf ein neues Level gehoben wurde, zeichnet sich als zeitgenössisches Charakteristikum ab. Es scheint daher kein Zufall, dass der Schlacht von Pavia mit dem Champ du Drap d‘ Or bzw. Field of Cloth of Gold 1520 nahe Calais ein vergleichbares Ereignis mit ähnlichem ‚Impact‘ auf die Kunst der beteiligten Fürstenhöfe vorausging. Die auffälligen Parallelen, und darin die Gewichtung des Militärischen, werfen ein neues Licht auf diese Zusammenkünfte in ihrer Funktion als Austauschplattformen in Bezug auf den Einsatz materieller Kultur zur Demonstration von Macht und Status bzw. zur Herrschaftslegitimation.
Ziel des noch in der Tradition ‚klassischer‘ Ritterturniere stehenden Treffens in Calais war die Verbesserung der Beziehungen zwischen den Königshäusern Englands und Frankreichs unter Henry VIII. und François I. Damit war der Anlass anders als in Pavia zwar friedlich, aber ebenso machtpolitisch aufgeladen. Als „fortnight of politically charged martial rivalry and celebration“
war das Treffen insbesondere für den anglofränkischen Kulturraum prägend, doch sind die Parallelen und Bezüge zu den zeitgenössischen Vorgängen in Mitteleuropa augenfällig.Diese Beobachtung gilt nicht nur für den weiter gefassten Vergleich, sondern konkret auch für die Objekte aus Neuburg: War Wolf Huber in Salmscher Gefolgschaft in Pavia mit von der Partie, so konnte beim Treffen nahe Calais Giovanni da Maiano, seines Zeichens Bildhauer und Hofkünstler Kardinal Wolseys, mit eigenen Augen die neuesten Tendenzen der Prachtentfaltung des europäischen Hochadels aufnehmen. Dazu leistete er zugleich selbst einen Beitrag, denn Wolsey hatte Maiano mit der martialisch-prunkvollen Gestaltung der Unterkünfte beauftragt. Der Kardinal persönlich trug Sorge für die Ausstattung des ephemeren Palasts und Flaggschiffs der englischen Delegation, an der neben Maiano eine ganze Riege italienischer Handwerker und Künstler aller Arbeitsgebiete beteiligt waren: „Wolsey saw to it that splendor, elegance, and variety, achieved by exceptional extravagance, were manifest at every point.“
(Abb. 22 a und b)Bezeichnenderweise ergeben sich nun über Giovanni da Maiano (um 1486-um 1542; nach der gleichnamigen Ortschaft nahe Florenz), einen Künstler der ersten Stunde der englischen Renaissance unter Henry VIII., direkte Bezüge zu den Terrakotta-Stücken aus Neuburg. Anlass gibt ein dem Field of the Cloth of Gold vorausgehender Auftrag an Maiano von acht Terrakotta-Rondellen mit Büsten römischer Kaiser für Kardinal Wolseys Ausbauprojekt von Hampton Court im Südwesten Londons
(Abb. 23). Nicht nur werden diese Rondelle in der Forschung mit dem Einsetzen der Renaissance in England gleichgesetzt, sie weisen in Details der Dekorformen so frappierende Ähnlichkeiten mit den Neuburger Stücken auf, dass ein wie auch immer gearteter Austausch zwischen den an Entwurf und Ausführung Beteiligten kaum zu leugnen ist; beispielsweise durch Lehrzeit im gleichen Umfeld und / oder Verwendung gleicher Vorbilder.Weitere Schnittmengen und Anknüpfungspunkte eröffnen sich in Wirken und Person Hans Holbeins d. J. (um 1497-1543): Er war nicht nur Zeitgenosse und Landsmann Hubers, sondern hatte als Berufskollege auch ähnliche Aufgaben zu erfüllen, darunter die Konzeptionierung des Wolseyschen Ausbaus von Hampton Court mit Schwerpunkt auf der dekorativen Ausstattung. Von der Zusammenarbeit mit Maiano zeugt wiederum u. a. die Bezeichnung ‚Holbein-Gate‘ für eine ehemalige Toranlage von Whitehall Palace,
welche ursprünglich ebenfalls Terrakotta-Rondelle Maianos zierten (Abb. 24).Wie Maiano hatte Holbein zudem Anteil an der Ausstattung der englischen Unterkünfte auf dem Field of Cloth of Gold. Später waren beide an der Ausstattung von Greenwich Palace beteiligt, auf Maiano gehen dort wiederum Herrscher-Büsten zurück, während Holbein in Übereinstimmung mit der geschilderten Begeisterung für das Martialische großformatige Schlachtendarstellungen für die zeremoniellen Räumlichkeiten anfertigte.
Wie nahe beieinander Werdegänge und Tätigkeiten der hier Beteiligten gelegen haben müssen, wird im Vergleich mit einem der Neuburger Terrakottastücke anschaulich, es ist sozusagen der ‚Imprint‘ der zugrundeliegenden Transferprozesse, die hier in der Anwendung eines gemeinsamen Formenschatzes zum Ausdruck kommen (vgl. Greifenköpfe, Kugeln, Blattwerk): Abb. 25, 26, Modell Abb. 27.
Abb. 27: 3D-Modell von Terrakotta-Fragment mit Füllhornkapitell aus Schloss Neuburg am Inn, vmtl. Teil der ursprünglichen Wandverkleidung des Weißmarmorzimmers, Original in der Landkreisgalerie Schloss Neuburg am Inn (ohne Inv. Nr.).
Wichtig für die Vorstellung der bauzeitlichen Optik der verglichenen Stücke ist, dass die Rondelle von Hampton Court wie auch die Neuburger Terrakotten ursprünglich farbig gefasst waren. Für letztere belegen das u.a. Farbreste auf in situ erhaltenen Elementen der Wandverkleidung, darunter auch eine Version des im vorhergehenden Modells gezeigten Stückes mit Füllhornkapitell (Abb. 28). Dieses Stück gibt zugleich Aufschluss über die ursprüngliche Anbringung des im 3D-Modell / Abb. 28 gezeigten Stückes und die Einbindung der Elemente dieser Formgebung in das Ausstattungskonzept des Weißmarmorzimmers, des nördlichen der drei Prunkräume. (Abb. 29, Modell Abb. 30) Ursprünglich dürfte also auch dieser Raum eine umlaufende Wandverkleidung besessen haben, ähnlich aufwändig wie jene im südlich anschließenden Rotmarmorzimmer. Darauf verweist auch der Aufbau der stellenweise erhaltenen Wandverkleidungen im Weißmarmorzimmer (Abb. 31).
Abb. 30 / oben: Blick in den sog. Weißmarmorsaal von Schloss Neuburg am Inn im 3D-Modell.
Eine den Stücken aus Neuburg und Hampton Court ähnliche Gestaltung zeigt auch ein Fragment des Baudekors von Schloss Madrid (Abb. 32). Im ersten Moment mag die Ähnlichkeit ob des großen Vergleichsraums zufällig bzw. dem Zeitgeist geschuldet erscheinen. Wird jedoch der Entstehungskontext mit in den Blick genommen, lassen sich auch bei Schloss Madrid durchaus konkrete Bezüge zu den übrigen Vergleichsobjekten aufdecken: Das heute verlorene Bauwerk im Bois de Boulogne (im 18. Jahrhundert abgebrochen) wurde 1528 von François I. in Auftrag gegeben. Auch hier war Bauzier aus Terrakotta das prägende Element eines programmatischen Gestaltungskonzepts. Die Fassade überzog fast vollständig eine ‚Schale‘ von glasierten Terrakottareliefs, was zur Bezeichnung ‚Chateau de Faïence‘ führte. Dahinter stand der florentinische Bildhauer und Baumeister Girolamo della Robbia (1488-1566), dessen familiärer Hintergrund ihn für diese Aufgabe zur Idealbesetzung machte. Bereits Girolamos Vater Andrea (1435-1525) erlangte Bekanntheit durch seine in Keramik gefertigten Plastiken bzw. Hochreliefs (darunter die Bambini-Rondelle im Ospedale degli Innocenti in Florenz), und die della Robbias entwickelten eine nach ihnen benannte Lasurtechnik.
Wäre die Künstlerwahl noch durch italienische Expertise in der Keramikherstellung im Allgemeinen begründbar, lassen bei Schloss Madrid im Speziellen die Hintergründe der Namensgebung aufhorchen: Wenngleich unfreiwillig, wurde durch die Schlacht von Pavia indirekt sogar der Verlierer François I. zu einem Schlossbauprojekt inspiriert, denn er verbrachte seine Gefangenschaft in Folge der Niederlage im Alcázar Karls V. in Madrid. Die Bezeichnung Alcázar, die die Anlage des späteren Palacio Real in Madrid zu jener Zeit vor dem Umbau ab 1537 noch trug, ist in etwa zu übersetzen als „maurische Burg“. Mit der Alhambra von Granada als einem der bekanntesten Vertreter ist hier in Unterscheidung von der gängigeren Bezeichnung Castillo die maurisch-arabische Prägung ausschlaggebend. Der Alcázar bzw. Palacio Real von Madrid, nicht zu verwechseln mit dem Haupt- und Regierungssitz Karls V. in Toledo, wurde auch unter den nachfolgenden Herrschern mehrmals neugestaltet. Ohne entsprechende Quellen oder bauarchäologische Befunde muss daher Mutmaßung bleiben, dass die Ausstattung des Alcázars von Madrid als François I. sich darin in Gefangenschaft befand noch dem Maurischen Stil folgte; die Wahrscheinlichkeit ist jedoch groß. Dazu passt, dass zu dessen wichtigsten Stilelementen neben flächigem Stuckdekor insbesondere polychrom glasierte (Wand-)Fliesen gehören. Insgesamt spricht also einiges dafür, hier eine Inspirationsquelle für die Gestaltung Schloss Madrids zu suchen.Neuburg vereint mit Schloss Madrid unter François I. aus dem Haus Valois und den genannten Tudor-Varianten unter Henry VIII. als Residenzbauten der tonangebenden Adelsdynastien Europas der gemeinsame Nenner des innovativen Einsatzes von Terrakotta bzw. Keramik in der Bauzier. Die Konkordanz im Materiellen setzt sich im Immateriellen bzw. Sozialen fort: Die Bauherren waren sich in Calais oder Pavia begegnet, teils sogar auf beiden Treffen, wo sie im Zentrum des Geschehens gestanden und sich gegenseitig zu übertrumpfen und/oder zu besiegen gesucht hatten. Aus den Schlüsselereignissen dieser (künstlerischen wie militärischen) Schlachten erwuchs ein gemeinsamer Formenschatz der figürlichen Darstellung, der Materialität und des Designs. Diese deutlichen und vielschichtigen Schnittmengen zeigen an, dass die vorgestellten Übereinstimmungen keine Zufallstreffer sind. Zugleich verweisen sie auf die Dimensionen der zugrundeliegenden Transferprozesse, die hier nur angerissen werden konnten, und auf das Erkenntnispotential weiterführender, vergleichender Forschungen. Die Reihe an vergleichbaren Anlagen oder (Aus-)Bauprojekten wäre noch um einige bedeutende Beispiele zu erweitern: Neben den eingangs bereits erwähnten zeitgenössischen Residenzbauten in Buda,
in und um Wien und Prag (u.a. Prager Burg, Belvedere und Schloss Stern) konkret etwa um das Castello del Buonconsiglio in Trient (wo direkte Bezüge zur Landshuter Stadtresidenz bestehen ) oder die Schallaburg ca. 80 km westlich von Wien mit ihrem einzigartigen, terrakottageschmückten Innenhof. Der Vergleich mit Hampton Court und Schloss Madrid lässt annehmen, dass auf englischem und französischem Boden noch diverse weitere Kandidaten auszumachen sind, worunter sich das Schloss Madrid nahestehende Ausbauprojekt Schloss Fontainebleaus als besonders vielversprechend abzeichnet. Beste Aussicht auf das Erschließen wortwörtlich neuer Forschungshorizonte gewährt schließlich die Hinzunahme spanischer Vergleichsanlagen, da diese bisher eher wenig im Fokus der ‚heimischen‘ Kunstgeschichte standen.Allen hier verglichenen Projekten bzw. ihren Auftraggebern ist gemein, dass jeweils eine gewisse Aufgeschlossenheit für Neues gegeben war und man der aktuellen Mode entsprechen wollte, gepaart bzw. reziprok mit einem relativ stark ausgeprägten Wettstreitgedanken. Bei näherer Betrachtung liegt in der Omnipräsenz dieses Wettstreitgedankens ein Schlüssel für die Deutung der hier verglichenen Objekte und Ereignisse: Es fand sozusagen eine Verlagerung des Wettkampfs vom dem Turnier- bzw. Schlachtfeld in die heimische Residenz statt, wo wiederum unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden Mittel und Medien die eigene Vormachtstellung gegenüber den Konkurrenten baulich und künstlerisch zum Ausdruck gebracht werden sollte. Auf Neuburg bezogen wird so auch der dort betriebene hohe Aufwand des Umbauprojekts umso nachvollziehbarer, denn auf diesem Weg konnte der ruhmreiche Werdegang derer von Salm über Generationen hinweg beständig manifestiert werden.
Ausblick: Materialität im Kontext des Gesamtkonzepts
Durch das allumfassende Konzept wurde in Neuburg etwas an sich Neues geschaffen, und zwar paradoxerweise durch den Erhalt von Bestehendem: Im Gegensatz zur Mehrzahl der genannten Vergleichs- bzw. Konkurrenzprojekte, die meist als gänzliche Neubauten entstanden, wurde in Neuburg ein Großteil der Bauabschnitte der Anlage in ihrer Grundform erhalten, den aktuellen Entwicklungen und Anforderungen angepasst und zu einem in sich geschlossenen Neuen verbunden. Dazu wurde Bestehendes zum Vorteil des Endergebnisses eingebunden. Eines von vielen Beispielen ist die Anpassung der Terrakottaausstattung an die bereits vorhandene Gewölbeführung der drei Haupträume im Erdgeschoss, was einen Teil der einzigartigen Raumwirkung bedingt.
Auf diese Weise betrachtet entspricht das Ausbauprojekt Neuburgs unter Huber und Salm auf ideale Weise einer Umsetzung des Aemulatio-Prinzips. Dieses fand, zurückgehend auf den Dreischritt von imitatio-aemulatio-superatio nach dem Humanisten Lorenzo Valla (1407-1457), in der frühen Neuzeit verstärkt Verbreitung und wurde zur „Epochensignatur“ einer „Kultur des Wettstreits in Text, Bild- und Baukunst“. Auch in dieser Hinsicht lag man in Neuburg stilistisch wie inhaltlich ab der ersten Stunde ganz am Puls der Zeit (korrespondierend mit den o.g. Deutungsebenen materiell/immateriell).
Dass Terrakotta für die Umsetzung solcher neuen Gestaltungskonzepte als wortwörtlich tragendes Element ideal geeignet war, wird daher auch und gerade im Kontext mit der zeitgenössischen Ideenwelt nochmals verdeutlicht. Wie bei kaum einem anderen Material vereinen sich darin die für den Transfer von Ideen, Formen und Konzepten technischer, gestalterischer wie inhaltlicher Art nötigen Eigenschaften. So lässt sich das Vallasche Schema auch auf die praktischen Vorgänge in Neuburg projizieren: Norditalienische Vorbilder (imitatio) wurden in nach eigenen Vorstellungen angepassten Stichvorlagen adaptiert und auf Model übertragen (aemulatio) um schließlich als plastische Terrakottaelemente Form zu finden, die bisher Dagewesenes dieser Art übertrafen (superatio).
Seit Urzeiten
ist Terrakotta bzw. Ton das Material der Wahl für schöpferische Prozesse, in denen imaginäre Formen oder deren konzeptionelle Abbilder in konkrete Dinglichkeit verwandelt werden. Die fast alchemistische Assoziation verstärkt der dem Herstellungsprozess immanente Wechsel des Aggregatszustands von weich/formbar zu hart/unveränderlich. Die anfängliche Formbarkeit zeichnet Terrakotta bzw. Ton als Werkstoff auch gegenüber Stein/bereits gefestigtem Material aus. Denn die Formbarkeit ermöglicht neben maximaler Freiheit bei der initialen Form-Gebung deren Übertragbarkeit und Reproduzierbarkeit bzw. Kopiervorgänge und serielle Herstellung. In Schloss Orth liegt ein anschauliches Beispiel von Transfer qua Terrakotta bzw. Ton vor.Allenfalls Stuck bietet eine vergleichbare Versatilität. Die Gegenüberstellung dieser beiden Materialien wirft nach wie vor viele Fragen auf und erscheint erstaunlicherweise noch immer Desiderat zu sein – hier böte (nicht nur) Neuburg ein spannendes Spielfeld für weiterführende Forschungen zu Fragen der Materialität. Dabei sind beide Materialien nicht als Gegenspieler sondern vielmehr als unzertrennliche Brüder aufzufassen. Denn fast immer, wenn Terrakotta in Raumausstattung, Dach- und Fassadengestaltung sowie zum Einsatz kam, ist für Oberflächenveredelung auch Stuck vertreten, der als dünne Schicht Grundlage für polychrome Fassungen war, die durch Brennen/Lasurtechnik Glanz erhielten. Frühe bekannte Beispiele sind etwa das Ischtar-Tor, antike Autoren schildern Verwendung und Zusammenspiel von Terrakotta und Stuck bei Fassaden- und Dachgestaltung antiker Tempel,
und mit den Schriften Vitruvs (Zehn Bücher über Architektur, 1. Jahrhundert v.Chr.) liegen seit der Antike auch Belege für die theoretische Auseinandersetzung mit dem Einsatz dieser Materialien vor.Aus der Gegenüberstellung lässt sich schließlich ein entscheidender Unterschied festhalten: Stuck kann nicht jene dauerhafte Haltbarkeit und Belastbarkeit von Terrakotta vorweisen. Wie bei den antiken Vorgängern gewährleistete bei den hier vorgestellten Objekten das Material Terrakotta als Formgeber bzw. -träger die Haltbarkeit der einzelnen Elemente, deren ursprüngliche polychrome Fassung angreifbarer und empfindlicher als das Trägermaterial war und daher heute meist verloren ist, wohingegen die aus Terrakotta gefertigte Grundform erhalten blieb. Damit erweist sich der Aspekt der Haltbarkeit, wenn es um die (gedankliche) Rekonstruktion des ursprünglichen (Raum)eindrucks geht, auch in der Gegenwart noch bzw. wieder als entscheidend.
Passenderweise ist Haltbarkeit/Stabilität neben Nützlichkeit/Zweckmäßigkeit und Schönheit eine der drei konstitutiven Eigenschaften von Architektur, wie sie von Vitruv definiert wurden (firmitas, utilitas, venustas);
die veredelnde Oberflächengestaltung in polychromem Glanz findet unter dem Begriff splendor Erwähnung. Dass sich Vitruvianische Grundsätze so leicht auf die Beobachtungen in Neuburg übertragen lassen, scheint insbesondere im Bezug zum zeitgenössischen ideengeschichtlichen Kontext kaum zufällig, und wo schon theoretische Konzepte humanistischen Ursprungs wie der Dreischritt von imitatio-aemulatio-superatio anwendbar sind, liegt dies bei praxisbezogener Traktatliteratur umso näher. Im Zuge humanistischer Antikenbegeisterung fand die Rezeption Vitruvs spätestens in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts ihren Weg nach Süddeutschland, mit Nürnberg als frühem ‚Hotspot‘ ab ca. 1530, bedingt durch die örtliche Expertise in der Druckgraphik. Zwar muss mangels Belegen offenbleiben, ob und inwieweit in Neuburg tatsächlich eine Rezeption Vitruvianischen oder davon abgeleiteten Gedankenguts stattgefunden hat, wobei weiterhin zu fragen bleibt, ob und in welchem Ausmaß Materialität thematisiert wurde. Lebenslauf und Umfeld des Bauherrn lassen zumindest auf allgemeiner Ebene den nötigen humanistischen Bildungshorizont annehmen. Greifbarere Bezüge ergeben sich über das Wirkungsfeld von Baumeister und Künstlern des Neuburger Projekts: So gehörte zum Nürnberger Autorenkreis der ersten Stunde der Vitruv-Rezeption Sebald Beham , auf den wie oben beschrieben Stichvorlagen für die Neuburger Terrakotten unter Wolf Huber zurückzuführen sind.De facto jedoch wurde unabhängig von Überlegungen zu einer Bezugnahme auf Vitruv in Neuburg bereits Antikenrezeption anhand der Verwendung eines anderen Materials rekonstruiert, nämlich des Marmors. Als Ankerpunkt dienen Riegel die Beschreibungen von Marmorverkleidungen der Gemächer antiker Kaiserpaläste und Villen in Architekturtraktaten und Editionen von Schriften antiker Autoren, hier insbesondere Statius. Die Argumentation bekräftigt der spezielle Umstand, dass der Einsatz von Marmor (und nicht der häufiger vorkommenden Trompe-l’Œil-Version) in Neuburg in dieser Zeit und auf diese Weise (als Wandverkleidung in profanen Repräsentationsräumen) „nahezu singulär“ ist, woraus Aussageabsicht sowie Kenntnis der entsprechenden (Traktat-)Literatur bzw. Theorien abzuleiten sind. Daran knüpfen zwei weitere Aspekte an: Da ist zum einen der bewusst inszenierte herrschaftliche Blick in die umgebende Landschaft, wozu die These besagt, dass mit solcher Art gelenkter Blickführung „das Bild der [antiken] Villa speculatrix, die über das Anwesen und die ihr dienstbare Landschaft blickt“, aufgegriffen wird. Von Hoppe unter der Bezeichnung des „polyfokalen Fächerblicks“ als Charakteristikum renaissancezeitlicher Residenzarchitektur dargelegt, findet dies in Neuburg mit dem gen Süden ins Inntal gerichteten Söller und der Altane direkt vor den drei Prunkräumen geradezu exemplarisch Entsprechung. Zum anderen geht das Arrangement des Wildbads nebst angrenzender Fischteiche mit dem Topos der „,balnea‘ des Altertums“ konform.
In der Zusammenschau ermöglicht diese Argumentationskette nun, bzw. verlangt sie sogar danach, den Einsatz nicht nur eines sondern aller angesprochenen Materialien (Terrakotta, Stuck und Marmor) in diesem Kontext zu sehen. Sie sind, ähnlich wie bereits bei der Gegenüberstellung von Terrakotta und Stuck festgestellt, nicht für sich zu betrachten, sondern in ihrer Funktion als ‚Teil des Ganzen‘: Es ging darum, ein bestimmtes Bild, einen bestimmten Raumeindruck, ein bestimmtes Erleben der Umgebung zu erschaffen. Wie das Beispiel der Blickregie zeigt, wurden um dies zu erreichen die unterschiedlichsten Mittel, Medien und Wege kombiniert, darunter auch der zielgerichtete Einsatz bestimmter Materialien, deren spezifischer Aussagekraft man sich offenbar bewusst war.
Die eigentliche, volle Wirkung ergibt sich jedoch erst aus deren Zusammenspiel, Stichwort für den Innenbereich ist hier Materialluxus (vgl. polychrom glasierter, plastischer Terrakottadekor in Kombination mit glänzenden Marmorflächen).Bei der Frage nach der Aussage des Materials Terrakotta, hier am Beispiel fürstlicher Bauprojekte zu Beginn der frühen Neuzeit, muss immer auch die Vorbildfunktion einzelner Höfe oder Bauten sowie die Rolle regionaler Bautraditionen berücksichtigt werden. Dennoch erstaunt es nicht, dass Terrakotta, dessen Vorteile quasi seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte und spätestens seit der Antike in größerem Maße bekannt und genutzt waren, gerade im 15. und frühen 16. Jahrhundert eine Renaissance erlebte – in einer Zeit, die mit dem Humanismus als vereinendes Moment zugleich von Wandel und Suche nach Modernität wie auch von Rückschau geprägt war.
Vor diesem Hintergrund entspricht der Einsatz von Terrakotta einer Renaissance in der Renaissance im Wortsinn. Er erlaubte es den Baumeistern zum einen, auf die Ansprüche und das Verlangen nach Modernität seitens ihrer Auftraggeber zu reagieren, wobei es zugleich umfangreiche Bauprojekte in kurzer Zeit zu realisieren (serielle Herstellung, Reproduktion) und kreative Lösungen für detailverliebte Bildprogramme zu finden galt (Model nach Stichvorlagen). Zum anderen bot neben den praktischen Vorteilen bereits das Material an sich die Möglichkeit, dem ‚angesagten‘ Antikenbezug zu entsprechen, wobei dessen Kenntnis von Fall zu Fall zu überprüfen ist. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Ausdrucksformen der Renaissancekultur – hier in den Bereichen von Architektur und Plastik – nicht nur in Formensprache, Design und Optik, sondern auch der Materialität selbst zu suchen sind, die auf diese Weise zu einer eigenen Quelle bzw. Metasprache wird.