Ein Interview mit Sophie Marshall, Klaus Speidel und Werner Wolf

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Miriam Landkammer
Kontakt: miriam.landkammer@sbg.ac.at
Website: https://www.imareal.sbg.ac.at/team/miriam-landkammer/
Institution: Universität Salzburg | IZMF | Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit (IMAREAL)
GND: 1011575329
Erstveröffentlichung: Mai 2021
Lizenz: Sofern nicht anders angegeben Creative Commons License
Medienlizenzen: Medienrechte liegen, sofern nicht anders angegeben, bei den Autoren
Letzte Überprüfung aller Verweise : 21.05.2021
Übersicht Abbildungen

Abstract

In MEMO # 8 Erzählende Dinge. Funktionen der Objekte in Narrativen in Mittelalter und Frühneuzeit wird in vier Beiträgen erörtert, in welcher Form Dinge in einer bestimmten Quelle oder einem bestimmten Korpus in die Erzählstrategien eingebunden sind und mit welchen (digitalen) Methoden diese erforscht werden können. Als Ergänzung zu diesen Artikeln haben wir drei Forscher*innen, die sich intensiv mit der Theorie zu Narrativen in Bild und Text bzw. mit Dingtheorie beschäftigt haben, gefragt, welche Rolle sie den Objekten in Narrativen zuschreiben, wie man Narrative definieren kann, welche Bedeutung den Digital Humanities für die Erforschung von Narrativen aktuell oder künftig zukommt und was denn eigentlich ihr Lieblings-Ding in einer Erzählung ist.

Sophie Marshall, Juniorprofessorin für Germanistische Mediävistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, fokussiert in aktuellen Forschungsprojekten Ding-Theorie, Geld und Schätze in der Literatur des Mittelalters und digitale Editionen mittelalterlicher Literatur (Thüringische Liederdichter auf ldm-digital.de. Sie leitet das DFG-Netzwerk Dinge in der Literatur des Mittelalters – historische Formen der Ding-Mensch-Relation.

Klaus Speidel ist Philosoph, Kunstkritiker und Kurator. In seiner Dissertation an der Sorbonne in Paris setzte er sich mit dem Thema der autonomen Bilderzählung im Einzelbild auseinander. Nach Lehraufträgen an der Sorbonne sowie den Universitäten Konstanz und Wien leitete er 2015 – 2017 das FWF Lise Meitner Projekt Zur experimentellen Narratologie des Bildes im Labor für empirische Bildwissenschaft an der Universität Wien.

Werner Wolf hat den Lehrstuhl für Englische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Graz inne. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen u.a. Literaturtheorie (besonders Metatextualität, ästhetische Illusion und Narratologie), Funktionen von Literatur, Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts sowie Intermedialität. Werner Wolf ist Autor von zahlreichen Publikationen zu intermedialer Narratologie sowie zu Narrativität in der bildenden Kunst.

Abstract (englisch)

In MEMO # 8 Narrative Things. Functions of Objects in Narratives in the Middle Ages and Early Modern Period, four articles analyse how things are involved in narrative strategies in a particular source or corpus and describe suitable (digital) methods to explore them. In addition to these articles, we talked to three researchers who have worked intensively on the theory of narratives in image and text or on thing theory. We asked them what role they think objects in narratives play, how narratives can be defined, what the current or future significance of digital humanities for the study of narratives is, and what is their favourite thing in a narrative.

Sophie Marshall, Junior Professor of German Medieval Studies at the Friedrich Schiller University of Jena, focuses on thing theory, money and treasures in medieval literature, and digital editions of medieval literature (Thuringian lyrical poets, ldm-digital.de) in current research projects. She is head of the DFG network Things in medieval literature: historic modes of human-thing-relations.

Klaus Speidel is a philosopher, art critic and curator. In his dissertation at the Sorbonne in Paris, he explored the theme of autonomous pictorial narration in the single image. After teaching at the Sorbonne and the Universities of Constance and Vienna, he led the FWF Lise Meitner project Towards an experiemnetal narratology of the image in the Laboratory for Cognitive Research in Art History (CReA) at the University of Vienna from 2015 to 2017.

Werner Wolf holds the Chair of English and General Literature at the University of Graz. His research interests include literary theory (especially metatextuality, aesthetic illusion and narratology), functions of literature and literature of the 18th to 20th centuries, and intermediality. Werner Wolf is the author of numerous publications on intermedial narratology as well as on narrativity in the visual arts.

 

Inhaltsverzeichnis

Narratologische Verortung der Dinge

Frau Marshall, wo lassen sich die Dinge in mittelalterlichen Erzähltexten erzähltheoretisch verorten? Geht ihre Funktion über jene als Requisite oder Kulisse hinaus?

SM: Dinge können auf jeden Fall weit mehr sein als nur Requisite oder Kulisse. Das lässt sich beispielsweise an dem Riesenschwert in der Höhle von Grendel in Beowulf zeigen [dazu ausführlicher unten im Abschnitt „Objekte vor den Vorhang!“, Anm.d.Red.]: Dieses Schwert ist zwar einerseits einfach das Werkzeug, mit dem das Monster erledigt wird, gleichzeitig ist es aber auch ein erzählendes Ding. Es erzählt von seiner eigenen Funktion und seiner Geschichte. Und obwohl es die Schöpfung von monströsen Wesen ist, die dieses Schwert geschmiedet haben, berichtet es von ihrem Untergang, trägt selbst zu ihrem Untergang bei und scheint auch nur zu diesem Zweck in der Höhle überhaupt platziert zu sein. Das ist also ein äußerst vielschichtiger Gegenstand, der weit mehr als nur Requisite ist.

An anderen Texten lässt sich wiederum die schon vielfach beschriebene Agency von Dingen beobachten. Das heißt, dass Dinge in erzählender Literatur des Mittelalters tatsächlich so dargestellt werden, als ob Handlung von ihnen ausgeht, als ob diese Dinge Aktanten sind. Das bedeutet also, dass diese Dinge nicht nur als Werkzeuge durch irgendwelche zufälligen Einwirkungen die Handlung beeinflussen, sondern dass sie wirklich auch die Handlung selbst bewegen.

Herr Speidel, in narratologischen Modellen ist im Allgemeinen ein Primat der Figuren und der intentionalen Handlungen dieser Figuren auszumachen. Sehen Sie ein Potential darin, den narrativen Bedeutungen und Funktionen der Dinge verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen – insbesondere wenn Sie an theoretische Konzeptionen von Erzählungen im Bild oder an die transmediale Narratologie denken?

Der Fokus auf die Objekte wird besonders dann innovativ, wenn man sich für Objekte nicht nur als Zugabe zu Ereignisdarstellungen interessiert, sondern ihr Potential untersucht, Ereignisse autonom darzustellen.
Klaus Speidel

KS: In der bildenden Kunst ist die Annahme eines Primats der Figuren womöglich noch größer als in der Literatur, hat doch G. E. Lessing die Aufgabe der Malerei in der „Darstellung von Körpern im Raume“ gesehen, während Poesie „Handlungen in der Zeit“ darstellen soll. Figuren kommen dabei die Literatur betreffend gar nicht zur Sprache. Aber unabhängig von der Medienfrage muss ich zunächst einmal sagen, dass ich den Fokus auf die Objekte als Mittel der Erzählung sehr spannend finde. Er wird besonders dann innovativ, wenn man sich für Objekte nicht nur als Zugabe zu Ereignisdarstellungen interessiert, sondern ihr Potential untersucht, Ereignisse autonom darzustellen. Die Möglichkeit dazu ist in der Definition der Erzählung ausgehend von der Rezeption schon angelegt. André Gaudreault hat bereits 1988 eine erste solche Definition formuliert: „Jede Botschaft, durch die irgendeine Geschichte kommuniziert wird, sollte man zu Recht als Erzählung (récit) betrachten“1. Man könnte an den Details herummeckern, aber der Geist der Definition ist richtig und antizipiert die Vorstellungen der kognitiven Narratologie. Leider geben ja bis heute auch Narratolog*innen, die ihrem Selbstverständnis nach kognitivistisch unterwegs sind, immer wieder Produktions- und Medien- oder Formkriterien für Erzählung an, die sie von der strukturalistischen Narratologie geerbt haben, und in vielen Fällen gibt es einen Media Bias, es wird also für Erzählung tout court das zum Kriterium gemacht, was nur Erzählung in einem Medium betrifft. Weil Literatur und Film als prototypische Medien der Erzählung fungieren, taucht beispielsweise bis heute doppelte Zeitlichkeit – Zeit der Erzählung vs. Zeit der Geschichte – immer wieder als Kriterium der Erzählung auf.

Um Gaudreaults Definition völlig tragbar zu machen, müsste man einige Kriterien für Geschichte angeben, könnte „Botschaft“ durch „Darstellung“ ersetzen und sollte schreiben „systematisch und regelmäßig kommuniziert wird“, um auszuschließen, dass durch hyperaktive Rezipient*innen alles zur Erzählung wird.

Wird Erzählung wie bei Gaudreault komplett rezeptionsbasiert definiert, kann alles, was systematisch und regelmäßig eine Geschichte vermittelt, Erzählung sein. Geschieht diese Vermittlung durch die Darstellung von Objekten oder Konstellationen von Objekten ohne Figuren, so wird etwas erzählt. Wir müssen übrigens gar nicht unbedingt negieren, dass Figuren und intentionale Handlungen für Geschichten wesentlich sind. Es genügt, wenn wir zeigen, dass diese nicht nur durch explizite Darstellungen – ob verbal oder visuell – von Figuren und intentionalen Handlungen systematisch und regelmäßig vermittelt werden können, sondern eben unter Umständen auch durch Darstellung von Objekten. Ich selbst habe mich in mehreren neueren Aufsätzen, insbesondere in meinem Beitrag zum Tagungsband „Kulturtechnik Malen“, gegen „Figurerzählung als alleiniger Modalität der Erzählung gewandt und „Spurerzählung“ als alternative Form der Erzählung eingeführt.2 Ich vermute, dass viele Objekterzählungen – beispielsweise könnte man Jean-Baptiste Greuzes Gemälde Der zerbrochene Krug [vgl. dazu unten im Abschnitt „Objekte vor den Vorhang!“, Anm.d.Red.] als eine solche bezeichnen – auch Spurerzählungen sind.

Im Zerbrochenen Krug ist das Mädchen wesentlich. Kann es ‚Objekterzählungen‘ ohne Figuren geben?

KS: Es gibt eine installative Arbeit des Künstlers Jimmie Durham, die ganz ohne Figuren auskommt: Sie besteht in einer Museumsvitrine, deren Glas von einem Stein zerschmettert wurde, der noch in der Vitrine liegt. Der Zustand Naturstein in zerbrochener Vitrine vermittelt dabei das Ereignis des Zerbrechens durch Steinwurf durch natürliche Implikatur, weil wir den Zustand der Vitrine vor dem Auftreffen des Steines kennen.
Das intendierte Publikum wird womöglich auch an den Konflikt Natur (Stein) – Kultur (Vitrine) denken, der bei Durham immer wieder auftaucht, und, spezifischer, die Museumsvitrine als Metonymie der Musealisierung oder der musealen Institution deuten. Das Werk wird damit zum Paradoxon, das die Zerstörung des Ausstellens ausstellt. Auch hier baut eine allegorische Deutung, die auf kulturellem Spezialwissen basiert, auf einer narrativen auf, die innerhalb unserer Kultur relativ leicht zugänglich ist.
Was Durham hier durch die Objekte selbst leistet, ist natürlich auch sprachlich leistbar. Denken Sie an Ausdrücke wie „aufgebrochenes Schloss“ oder „abgefackeltes Auto“. Zustandsbeschreibungen wie diese vermitteln durch Implikatur Ereignisse, vermutlich sogar Handlungen. Ganz gleich ob sie verbal oder visuell vermittelt werden: Wir werden in Anbetracht solcher Darstellungen zunächst zu Spurenleser*innen und dann zu Erzähler*innen. Das ist ganz natürlich, denn indem das Spurenlesen auf die Darstellung von Ereignissen abzielt, wird es automatisch zum Erzählen. In seinem Aufsatz „Morelli, Freud und Sherlock Holmes“ hat der Historiker Carlo Ginzburg sogar spekuliert, dass die spurenlesenden Jäger*innen die ersten Geschichtenerzähler gewesen sein könnten.3 Dabei ist die Arbeit von Jäger*innen, Archäolog*innen oder Forensiker*innen wohl nur eine extreme Form dessen, was wir im Alltag tun, wenn wir den Lippenstift am Hemdkragen oder das aufgebrochene Türschloss deuten.
Eine literarische Erzählung, die ausschließlich auf Objekten basiert, ohne diese selbst zu personifizieren und damit zu human-like agents zu machen, kenne ich zwar nicht, aber sie wäre durchaus vorstellbar. „Babyshoes. Never worn. For sale“, ein Hemingway zugeschriebener und in leichten Variationen überlieferter Text, scheint sich einer literarischen Objekterzählung anzunähern.
Macht man sich bewusst, dass wir Objekte immer auch im Kontext unseres Wissens über Kausalbeziehungen (z.B. über das Zerbrechen), Naturgesetze (z.B. über die Schwerkraft), anthropologisches Wissen (z.B. über Blut als Zeichen von Verletzungen) und Objektwissen (z.B. über typische Formen und Funktionen) deuten, wird schnell klar: auch Objekte können erzählen. Wie genau wir von Zustandsbeschreibungen zu Ereignissen kommen, habe ich für den genannten Aufsatz in „Kulturtechnik Malen“ am Beispiel Hogarth empirisch untersucht.
Vermutlich ist allerdings das Spurenlesen nur eine Spezialform des Erzählens mit Objekten und eine Form des Abweichens von einem (vorgestellten) Objekt-Prototyp. Für Luca Giuliani beispielsweise ist das erste erzählende Bild der griechischen Antike eine Darstellung des trojanischen Pferdes. Diese ist deshalb erzählend, weil ein Pferd mit Rädern ungewöhnlich ist. Damit ist es einer Erzählung „bedürftig“, die erklärt, warum dieses Pferd Räder hat. Die Räder sind dabei natürlich keine Spuren, aber bedeuten doch ein Abweichen vom Prototyp des Pferdes. Dieses wird durch eine Erzählung erklärt, ganz wie die Spur (zum Beispiel das Loch oder der Fleck) am Objekt.

Herr Wolf, narratologische Modelle rücken ja im Allgemeinen Figuren und intentionale Handlungen dieser Figuren ins Zentrum. Sind die Dinge bloßer Handlungsraum oder Setting – oder sehen Sie ein Potential darin, die Bedeutungen und Funktionen der Dinge nuancierter narratologisch zu erschließen?

WW: Jedes Erzählen wird in gewissem Umfang ‚dinghaft‘ sein und daher erzählte (nicht „erzählende“) Dinge aufweisen, insofern es immer Welten erstellt, und Welten ohne sie charakterisierende konkrete Objekte undenkbar sind. Das tatsächliche Primat der Handlungsdimension im Narrativen bedingt die Darstellung handelnder Figuren, und die wiederum agieren nicht nur in einer Innenwelt von Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen usw., sondern stets auch in einer Außenwelt voller Dinge. All dies ist die erzählnotwendige Dimension dargestellter Dinge. Darüber hinaus können sie optional auch mehr oder weniger hochgradig erzählrelevant werden, wenn es z.B. um Objekte einer Queste geht (in Le Morte Darthur von Sir Thomas Malory, ein Werk, das ich gerade lese, geht es z.B. um den Hl. Gral, das mythische Gefäß mit dem Blut Christi, als Gegenstand der Suche der Ritter König Arthurs); in vielen Detektivromanen sind Objekte wesentliche Indizien bei der Verbrechensaufklärung, und im protorealistischen Roman Robinson Crusoe sind Dinge, deren Auffindung, Herstellung und Gebrauch Bedingungen des Überlebens des Titelhelden usw. Ganz allgemein scheinen mir Formen und Funktionen der Dinge narratologisch noch unterbelichtet zu sein, wahrscheinlich auch wegen der Fülle und Heterogenität der hier zu bedenkenden Phänomene. Neben Bekanntem – z.B. dem Gebrauch von Requisiten im Shakespearetheater (ich erinnere mich an eine Seminararbeit, die ich zu diesem Thema einst schrieb) oder Queste-Objekten im mittelalterlichen Erzählen – gäbe es hier noch viel nach Formen und Funktionen zu systematisieren und zu erhellen. Dabei würde ich nicht abwertend von Dingen als Elementen eines „bloßen Handlungsraums“ bzw. „setting“ sprechen, denn auch hier gäbe es historisch einiges aufzuarbeiten, z.B. inwieweit sich die Ausstaffierung von Erzählwelten mit diversen Dingen und deren Deskription historisch gewandelt hat. Man denke etwa an den äußerst sparsamen Umgang mit der Welt der Dinge in den vorwiegend spirituell orientierten biblischen Erzählungen im Gegensatz etwa zu Homer oder an die Entwicklung vom mittelalterlichen Erzählen mit den wenigen Deskriptionen von Orten, Waffen, Pferden usw. zur realistischen ‚Beschreibungswut‘ im Roman des 19. Jahrhunderts, die nicht nur durch die Konkurrenz zu den zunehmend bedeutsamen Bildmedien und das Bemühen um intensive ästhetische Illusion, sondern auch durch den Versuch, Figuren aus deren Milieu gemäß der Milieutheorie erklärbar zu machen, motiviert ist.

Und über die Literatur hinausgehend?

WW: Aus systematischer Perspektive könnte der transmediale Vergleich zwischen verbalem und bildlichem Erzählen von besonderem Interesse sein: Ersteres kann weitgehend, wenn auch, wie gesagt, nie ganz, auf eine reiche Gegenstandswelt verzichten, letzteres viel weniger, zumindest ab dem Abgehen vom Goldgrund als Hintergrund von religiösen Darstellungen (wobei allerdings v.a. bei Heiligenbildern die Objekte, welche die Figuren in Händen halten, wichtig für deren ikonographische Identifizierbarkeit sind). In diesem Zusammenhang fällt mir Hogarths interessanter und sinnstiftender Umgang mit den Dingen in seinen Bilderserien wie Marriage à la Mode ein, wo auch Bilder selbst (als Bild im Bild) Objekte der Darstellung werden und z.B. wichtige Kommentarfunktionen übernehmen (vgl. die erotischen Gemälde an der Zimmerwand in „The Toilette“ und das Spielzeug des kleinen Mohren rechts unten, ein gehörnter Hirsch – beides Hinweise auf die ehebrecherischen Aktivitäten, die sich hier sichtlich entfalten im Verhältnis von Lord Squanderfields Frau und dem ihr sichtlich zugeneigten Juristen Silvertongue).

Narrativdefinition

Herr Wolf, die Forschungstradition hält ja bekanntermaßen ein vielfältiges Angebot für Narrativdefinitionen parat, z.B. auf der Basis von Zustandsänderungen, Minimalerzählungen, Erzählkernen uvm. Wie definieren Sie persönlich – kurz zusammengefasst – Narrative?

Das Erzählen ist ‚transgenerisch‘ und ‚transmedial‘, wenn auch das verbale Erzählen eine besondere Stellung einnimmt.
Werner Wolf

Zunächst einmal: Das Erzählen ist eine ganz allgemeine und grundsätzliche Großform, Zeichen zu organisieren, und steht darin in einer offenen Reihe zum Beispiel mit dem Erstellen von Listen, dem Beschreiben oder dem Argumentieren. Ich nenne das einen ‚semiotischen Makromodus‘. Der Makromodus des Narrativen wird erlernt, z.B. wenn Kindern Märchen erzählt werden (wobei es meines Wissens keine menschliche Kultur ohne Erzählen gibt, was auch auf eine angeborene Disposition schließen lässt). Er wird dann als Prototyp im Bewusstsein gespeichert (ich bezeichne das als ‚kognitiven Rahmen‘), so dass jeder, der mit einer Erzählung konfrontiert wird, die betreffende Zeichensequenz als narrativ erkennen und klassifizieren kann (und auch jeder selbst erzählen kann). Diese Verankerung im Bewusstsein ist der Grund, wieso Erzählendes erkannt wird, gleich in welcher Gattung (z.B. im Alltagserzählen, im Märchen, in Ritterromanzen oder Krimis) und in welchem Medium es erscheint (z.B. in der Zeitung, im Roman, im Drama, Comic oder Film, oder auch in Bilderserien usw.): Das Erzählen ist daher, so heißt das in der transmedialen Narratologie, ‚transgenerisch‘ und ‚transmedial‘, wenn auch das verbale Erzählen eine besondere Stellung einnimmt und wohl meistens das Medium prototypischen Erzählens ist (z.B. im alltäglichen Erzählen oder im Märchen).

Damit ist natürlich noch nicht erläutert, was die Merkmale prototypischen Erzählens sind, an dem weniger typische Formen gemessen werden können (und wodurch somit ein Mehr oder Weniger an Erzähltypischem entsteht). Kurz gesagt, stellt das Narrative eine (wirkliche oder erfundene,) jedenfalls vorstellbare und miterlebbare Welt oder Teile einer solchen dar. Welt heißt dabei, dass das Dargestellte Orte mit entsprechenden Objekten (z.B. Siedlungen, Landschaften, Dinge) und eine Zeitdimension (Chronologie) besitzt, dass in ihm Figuren (anthropomorphe Gestalten, die aber – z.B. in der Fabel – auch Tiere sein können) bewusst agieren und erleben und vor allem, dass sich hier (im Unterschied zum Beschreiben) Zustände ereignishaft verändern (d.h. nicht-notwendig und oftmals gegen Widerstände, mit Komplikationen und/oder überraschend). Die Handlung von Erzählungen folgt in der Regel kausalen Prinzipien und ist auf ein Ziel ausgerichtet, bei dessen erfolgreichem oder scheiterndem Erreichen die Geschichte aus ist. Die (angenommene) Kenntnis dieses Ziels ist der Grund, wieso erzählte Ereignisse meistens in der Vergangenheit liegen, denn nur so weiß man, worauf ‚es hinauslief‘. Prototypisches Erzählen erfolgt aufgrund einer Selektion nach Relevanzkriterien, d.h. erzählt wird nur, was sich sinnvoll in die Erzählwelt und in eine Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende einfügen lässt und was zu der Erhellung des Erzählanlasses beiträgt: Prototypisch ‚gute‘ Geschichten sind erzählenswert, d.h. sie sind spannend (sie unterhalten damit auch) und haben irgendeine lebensweltliche Relevanz oder Funktion (z.B. um zu erklären, wieso jemand bleich daherkommt oder wie eine gegenwärtige historische Situation entstanden ist, oder um eine außergewöhnliche, d.h. das Erwartbare durchbrechende Begebenheit mitzuteilen). Ganz allgemein ist das Erzählen vielleicht das wichtigste Mittel, das wir Menschen haben, um unserem Leben und unserer Lebenswelt mit ihrer zeitlichen Dimension Sinn zu geben bzw. ihn zu erkennen.

Herr Speidel, was ist gemäß Ihrer Definition ein Narrativ?

KS: Vorab ein paar Vorbemerkungen: „Narrativ“ (oder Plural, „Narrative“) im Deutschen verwende ich eigentlich nie, weil der Ausdruck, vor allem in politischen Debatten, oft sehr schwammig gebraucht wird. Was man meint, wenn man, zum Beispiel, von einem „neuen Narrativ für Europa“ spricht, scheint jedenfalls mit dem Begriff der Narration in wissenschaftlichen Arbeiten wenig zu tun zu haben und das englische narrative ist im Deutschen ja die Erzählung und nicht etwa das Narrativ. Ich spreche deshalb eher von Erzählung, Narrativität und Narration.

Ich glaube, um den Narrationsbegriff in unserem Kontext präzise zu gebrauchen, brauchen wir sowohl kategoriale als auch graduelle Begriffe. Die Narratologie unterscheidet dabei zwischen Erzählungen (narratives, récits), die natürlich auch hochgradig narrativ sind, und Darstellungen, die zwar narrativ sind, bzw. Narrativität besitzen, aber keine Erzählungen sind. Ich kenne zum Beispiel kein Stillleben, das eine Erzählung ist, aber doch einige, die etwas erzählen und damit narrativ sind oder Narrativität besitzen. Dabei lassen sich Grade unterscheiden: Ein Stillleben, das eine Kerze zeigt, die eben erloschen ist, ist ceteris paribus narrativer als eines, wo die Kerze nie gebrannt hat. Im Wesentlichen ist Narrativität von der Darstellung von Ereignissen bestimmt. Jede Darstellung, die systematisch und regelmäßig Ereignisse vermittelt, ist für mich narrativ. „Erzählung“ wird in der Narratologie meist viel restriktiver verwendet. Aber auch hier lassen sich nochmals Unterschiede feststellen, so dass manche Definitionen enger, andere weiter sind. Sehr enge Definitionen, zum Beispiel „Verbale Darstellung einer Geschichte“, sind sehr restriktiv, sehr weite, zum Beispiel „Darstellung von mindestens einem Ereignis“ sehr offen. Beide Arten von Definition sind problematisch. In unserem Beispiel schließt erstere sogar Stummfilme aus. Letztere macht jede Wettervorhersage zur Erzählung. Auch die Art der Kriterien unterscheidet sich stark. Manche Definitionen beruhen nur auf dem expliziten Inhalt einer Darstellung, andere nur darauf, was sie an die Rezipient*innen vermittelt, wieder andere geben auch Formen oder Medien (im Beispiel z.B. „verbale Darstellung“) an. In meinem Aufsatz „How single pictures tell stories. A Critical Introduction to the Problem of Iconic Narrative in Narratology” gehe ich ziemlich ausgiebig auf verschiedene Definitionen ein.4 Ein wesentliches Kriterium für eine Definition von Narration ist meiner Ansicht nach ihre transmediale Anwendbarkeit, denn Erzählung existiert in verschiedenen Medien. Ich selbst habe in meiner Dissertation 2013 Erzählung als „Darstellung einer Kette von Ereignissen mit Problem und Lösung“ definiert, wobei „Kette“ auf die kausale – und nicht nur zeitliche – Verknüpfung der Ereignisse abzielt und Problem und Lösung das aristotelische Kriterium des Knotens und der Entknotung aktualisiert.5 Allerdings müssen Ereignisse nicht explizit dargestellt werden, sondern es kommt nur darauf an, dass eine Darstellung sie systematisch und regelmäßig vermittelt. Das war – auch wenn ich bewusst keine Medienkriterien angebe – eine ziemlich enge Definition, die ich deshalb gewählt habe, weil ich zeigen wollte, dass bestimmte Einzelbilder auch im Rahmen einer so engen Definition noch als Erzählung – und nicht etwa nur als narrativ – eingestuft werden können. „Darstellung“ habe ich gewählt, weil ich die Möglichkeit der Spurerzählung offenhalten wollte. Anders als Luca Giuliani und viele andere Archäolog*innen, beispielsweise, habe ich kein Spezifizitäts- und kein Außergewöhnlichkeitskriterium angegeben. Ich glaube also, dass es auch Erzählungen gewöhnlicher, unspezifischer, wiederkehrender Begebenheiten – zum Beispiel des Zyklus von Aussaat und Ernte – gibt.

Frau Marshall, wie lautet Ihre Definition von Narrativen?

SM: Ich verwende den Begriff des Narrativs im Grunde für eine bestimmte Handlungssequenz. Ein Monster wird von einem Helden getötet – so ein Gerüst kann man Narrativ nennen. Oder auch: die Sintflut, die bestimmte Geschlechter – in Beowulf zum Beispiel das Riesengeschlecht – auslöscht. So verwende ich den Begriff des Narrativs: bestimmte Handlungssequenzen, die im Grunde ein bisschen schematisch und wiederholbar sind, auch wenn sie natürlich in Varianz auftreten.

Digitale Narrativforschung

Digital Humanities sind ein interdisziplinäres, dynamisches und sich stetig weiterentwickelndes Forschungsfeld, das geisteswissenschaftliche Wissenschaftskultur mit digitalen Methoden und Technologien exploriert. Frau Marshall, welche Auswirkung hat die digitale Narrativforschung der Digital Humanities Ihrer Meinung nach auf den etablierten Fachdiskurs? Wird sich etwas ändern?

Was man sich von den Digital Humanities erhoffen kann, ist auch eine Blickschärfung für definitorische Schwierigkeiten – von Begriffen, die uns im Grunde sehr leicht über die Lippen kommen, wie zum Beispiel ‚Szene‘ oder ‚Situation‘.
Sophie Marshall

SM: Bei der digitalen Narrativforschung gibt es natürlich unheimlich viele Aspekte. Ein Punkt ist, dass sich in diesen Arbeiten zeigt, dass schon die Sequenzierung von Texten unheimlich schwierig ist. Allein schon die Frage: Wann fängt eigentlich eine Szene an und wo hört sie auf? Die Abgrenzung der einzelnen Szenen voneinander in einem Text oder auch die Abgrenzung eines Narrativs von eher reflexiven Passagen kann im Einzelnen sehr schwierig sein. Das merkt man dann erst, wenn man mit den Annotationsarbeiten beginnt. Was man sich also erhoffen kann, ist, dass hier eine Blickschärfung für definitorische Schwierigkeiten bewirkt wird – von Begriffen, die uns im Grunde sehr leicht über die Lippen kommen, z.B. die Begriffe ‚Szene‘ oder ‚Situation‘. Für uns ist erst einmal relativ selbstverständlich, was wir damit meinen. Aber wenn eine Informatiker*in dann fragt, in welchem Vers dieses Epos die Szene denn nun genau anfängt und man das plötzlich genau sagen muss, braucht man dann doch vielleicht eine etwas handfestere Definition. Das wäre für die Narrativforschung vielleicht ein Impuls, noch einmal genau zu definieren, wie sich Szenen voneinander abgrenzen  – und ganz konkret, wenn es um Narrativforschung geht, wie sich Narrative eigentlich definieren gegenüber z.B. reflexiven Passagen oder descriptiones, und wie das Ganze dann doch teilweise – davon bin ich überzeugt – im konkreten Text so ineinandergreift, dass es ganz schwer ist, hier Trennungen zu machen.

Ein weiterer Aspekt der Digital Humanities ist wahrscheinlich, dass man sich erhofft, dass durch Distant Reading-Methoden Vergleichbarkeit von Narrativen in größeren Textcorpora erleichtert wird.

Herr Wolf, welche Auswirkungen wird die im Forschungsfeld der Digital Humanities betriebene digitale Narrativforschung auf den Fachdiskurs haben?

WW: Digital Humanities ist, wie ich das sehe, eine Methode und als Forschungsgebiet eine Hilfswissenschaft, die anderen Disziplinen zuarbeitet, und damit wichtig, aber auch von begrenzter Bedeutung ist. Der evidente Vorteil des Digitalen in der Geisteswissenschaft – sofern man das know-how entsprechender Nutzung oder über Kooperationen mit Experten verfügt – ist das Zur-Verfügung-Haben von immensen Datenmengen und deren Auswertung. Dadurch kann vieles, das bislang eher Behauptung oder These war, statistisch relevant untermauert oder ggf. auch widerlegt werden, z.B. inwieweit es stimmt, dass verbales Erzählen weltweit und über Kulturen und Epochen hinweg sich eines Vergangenheitstempus bedient. Die tatsächliche Nutzung dieser Möglichkeiten hängt natürlich von der Expertise und Bereitschaft der Forscher zu ihrer Anwendung ab. Ob sich dank Digital Humanities tatsächlich Grundsätzliches in der Narratologie ändern wird, lässt sich gegenwärtig noch nicht sagen; ich bin aber eher skeptisch. Das gilt auch für den merkwürdigen Enthusiasmus, mit dem zur Zeit digitale Lehre als Ersatz für Präsenzlehre an Universitäten und anderswo begrüßt wird.

Herr Speidel, welche zukünftigen Auswirkungen auf das Feld der Erzählforschung wird die digitale Narrativforschung aus Ihrer Sicht haben?

KS: Ich könnte mir vorstellen, dass es in Zukunft etwas weniger um den besonderen Einzelfall geht – der uns traditionell in den Geisteswissenschaften besonders interessiert, wie ja auch die Beispiele in diesem Interview zeigen, die alle sehr außergewöhnlich sind – und mehr um große Corpora, weil man diese nun zur Verfügung hat und gut analysieren kann. Es werden also vermutlich Kolleg*innen kommen, die uns vorwerfen, dass unsere Beispiele – die uns bisher genau deshalb interessiert haben, weil sie außergewöhnlich waren – nicht repräsentativ oder typisch genug sind. Sie werden dagegen mit großen Mengen an Beispielen zugleich operieren können. Dass die Tiefe der Analyse darunter leidet, sollte uns allerdings klar sein. Ich persönlich glaube nicht, dass wir viele traditionelle Fragen mit den neuen Technologien beantworten werden, sondern eher, dass die Fragen sich ändern. Meiner Erfahrung nach lassen sich traditionelle Fragestellungen nämlich oft nur schwer – und nur mit einer Reihe von Zusatzannahmen – in computable operations übertragen. Ich diskutiere analoge Probleme mit empirischen Zugängen im kürzlich erschienen Sammelband „Einzelbild & Narrativität. Theorien, Zugänge, Offene Fragen“.6 Außerdem sind die digitalen Systeme ja vollkommen überfordert, sobald es um Interpretationsfragen geht. Um ein Werk wie den Zerbrochenen Krug Greuzes – das ja nur eine Figur und nur ein Objekt enthält – selbstständig zu deuten, wird auch eine künstliche Intelligenz wohl noch Jahrzehnte brauchen, weil das Kontextwissen und die Überlagerung von Bedeutungsdimensionen so komplex sind. Da man in den nächsten Jahrzehnten aber weiter mit den Computern arbeiten wollen wird – schon allein um den massiven Digitalisierungsaufwand zu rechtfertigen –, muss man Fragen stellen, die sich beantworten lassen. Das sind ganz andere als die, die uns bisher interessiert haben, also weniger Deutungsfragen. Fragen, die sich mithilfe der „Rechner“ gut beantworten lassen, sind solche, für die große Datenmengen und Statistiken nötig sind. Ganz automatisch passiert dabei mit außergewöhnlichen Werken etwas, das immer passiert, wenn Statistiken produziert werden sollen: Alles, was außergewöhnlich ist, wird als Outlier aus dem Corpus entfernt, denn sonst werden sämtliche Mittelwerte verfälscht. Damit kommt genau das unter die Räder, was traditionelle Geisteswissenschaftler*innen interessant fanden, und ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass mich die Abfallkörbe der großen Corpusanalysen mehr interessieren als die Ergebnisse. Vielleicht ist die Bevorzugung der großen Datenmenge aber ein gutes Korrektiv, denn durch Konzentration auf Sonderfälle haben wir sicher ein Bild der Literatur- und Kunstgeschichte produziert, das keinesfalls der Normalität entsprach, und so können wir hoffen, in den nächsten Jahre adäquatere Bilder der Vergangenheit zu bekommen – aber vermutlich auch langweiligere.

Objekte vor den Vorhang!

Frau Marshall, fällt Ihnen spontan ein Objekt ein, dessen Funktion in einer Erzählung Sie besonders spannend fanden?

SM: Ein unheimlich faszinierendes Objekt finde ich das bereits oben angesprochene Riesenschwert in der Höhle von Grendel in Beowulf. Grendel, eine Art Moormonster, und seine Mutter hausen im Moor in einer Unterwasserhöhle. Beide werden immer wieder auch als Riesen bezeichnet, wobei die Klassifizierung dieser Monstren nicht richtig eindeutig ist; sie changieren zwischen Moormonster, Riese und Dämon. Diese beiden Monstren werden besiegt von Beowulf. Als Beowulf in der Unterwasserhöhle mit der Mutter von Grendel, diesem weiblichen Riesenmonster, kämpft, kommt er mit seinem Schwert nicht weiter, denn die Haut des Monsters ist offenbar völlig unverletzbar, Schwerter können diese gar nicht durchdringen. Beowulf schleudert dann sein Schwert von sich und versucht es, tapfer wie er ist, einfach im Ringkampf. Auch das schafft er natürlich nicht. Dann sieht er aber in der Höhle ein Riesenschwert: ein Schwert, das von Riesen hergestellt worden ist. Das befindet sich einfach dort in der Höhle. Er nimmt es und kann damit schließlich die Mutter von Grendel besiegen, und er schlägt mit diesem Schwert dann auch noch einmal dem toten Grendel, der sich ebenfalls in der Höhle befindet, den Kopf ab.

Auf Handlungsebene ist es interessant, dass hier ein Monster nicht zu überwinden ist, aber sich in der Monsterhöhle im Grunde ein Gegenstand befindet, mit dem die Lösung des Problems bereits vorliegt – das ist aber ein Schwert, das von Riesen, also von solchen monströsen Wesen selbst geschaffen wurde. Ein Schwert, das zu ihrer eigenen Vernichtung taugt, wurde einst von Riesen selbst geschaffen und ist jetzt hier platziert. Das Merkwürdigste an dieser Konstellation ist nun, dass auf dem Schwertgriff in Runenschrift festgehalten ist, wie die Riesen einst in Urzeiten von der Sintflut ausgelöscht wurden. Das heißt, das Narrativ der Auslöschung des Riesengeschlechts, dieser Feinde Gottes, befindet sich in Runenschrift auf ihrem Schwert und in der aktuellen Handlung dient das Schwert, auf dem sich der Text befindet, noch einmal zur Auslöschung dieses „kleinen“ Riesengeschlechts, also Grendels und seiner Mutter. Das ist so merkwürdig: Dieser Gegenstand, der von Monstren hergestellt wurde, dient zur Beseitigung von Monstren, und ihm eingraviert ist das Narrativ, wie seine monströsen Hersteller vernichtet wurden. Der Gegenstand erzählt mit diesen Runen von seiner eigenen Funktion.

Hinzu kommt, dass Grendels Blut, als er mit diesem Schwert in der Höhle enthauptet wird,  die Klinge des Schwerts zur Auflösung bringt. Das heißt, Schwert und Monster sind praktisch wechselseitig auf ihre gegenseitige Vernichtung hin angelegt. Nur der erzählende Griff bleibt übrig und wird von Beowulf dann aus der Höhle mit hinausgenommen.

Herr Speidel, ein Beispiel für ein Objekt mit einer für Sie herausstechenden narrativen Funktion aus dem Bereich des Erzählens in unbewegten Bildern?

KS: Gestalter*innen, die mit der Herausforderung konfrontiert sind, zeitliche Abläufe zu vermitteln, greifen ganz unmittelbar – und sicher auch ganz bewusst – auf unser Wissen über die Standard-Formen und -Funktionen von Objekten zurück. Ich könnte deshalb eine ganze Reihe von Beispielen aus der bildenden Kunst nennen. Bei William Hogarth finden sich sicher hunderte oder tausende erzählende Objekte. Aber ein Beispiel, das ich aus verschiedenen Gründen besonders aufschlussreich und paradigmatisch finde, ist der Krug in Jean-Baptiste Greuzes oben schon erwähntem Gemälde Der zerbrochene Krug von 1771. Die Abbildung des Gegenstandes erzählt im Rahmen einer ganzen Konstellation von Zeichen (inklusive des symptomatischen, bedrückten, Gesichtsausdruckes des Mädchens). Betrachter*innen vergleichen dabei zunächst einmal ganz unmittelbar den zerbrochenen Krug mit dem Prototypen des intakten Kruges, und verstehen sofort: Es muss etwas passiert sein, um den Krug zu zerbrechen. Das Loch im Krug wird zur Spur. So stellt die Zustandsdarstellung implizit das Ereignis des Zerbrechens dar. In dieser Hinsicht ist die Darstellung heute noch genauso lesbar wie zur Zeit Greuzes, denn das nötige Weltwissen ist schon seit Jahrtausenden verfügbar, wo immer es Gefäße gibt. Besonders interessant ist dieser Fall aber auch, weil das intendierte Publikum aus der Zeit Greuzes der narrativen Deutung des zerbrochenen Kruges eine symbolische Deutung folgen ließ. Er ward ihm zum Symbol des Verlustes der Jungfernschaft. Hier wird bedeutsam, dass der zerbrochene Krug eigentlich ein Krug mit Loch ist. Auch das etwas ungeordnete Mieder fließt bestätigend in diese zweite Interpretation ein. Indem hier eine allegorische Bedeutung des Kruges mit Loch auf ein narratives Verständnis der Spur aufbaut, zeigt das Bild, dass allegorische und narrative Deutung sich keineswegs ausschließen. Das stellt de facto auch eine strenge Trennung zwischen Historiengemälde und Allegorie infrage.

Herr Wolf, welches Objekt mit einer besonders spannenden Funktion in einer Erzählung fällt Ihnen spontan ein?

WW: Der Ring als Objekt der Queste und Symbol böser Allmachtgelüste in Tolkiens Lord of the Rings. Er durchzieht den ganzen Roman, angefangen von Bilbos Geburtstagsfeier im ersten Kapitel von The Fellowship of the Ring bis hin zu seiner Zerstörung in Mount Doom im letzten Buch – und selbst da noch entfaltet er seine verderbliche, verführerische Macht, indem er den Helden Frodo im letzten Moment dazu verleitet, ihn für sich zu behalten, was bekanntlich nur durch die Gier Gollums verhindert wird, der im Versuch, sich dieses kostbaren magischen Objektes zu bemächtigen, samt dessen in die Magmafluten des Berges stürzt.

 

Fußnoten

  1. Gaudreault, André: Du littéraire au filmique. Système du récit. Paris 1988, S. 84.
  2. Speidel, Klaus: Figurerzählung, Spurerzählung und das Problem der Narration im Bild. Theoretische Grundlagen und empirische Evidenz. In: Schwarte, Ludger/Warsen, Charlotte/Kupczyk, Meret (Hg.): Kulturtechnik Malen. Die Welt aus Farbe erschaffen. Paderborn 2019, S. 301-328.
  3. Ginzburg, Carlo/mit Einleitung von Anna Davin: Morelli, Freud, and Sherlock Holmes: Clues and Scientific Method. In: History Workshop 9, 1980 (Spring), S. 5-36.
  4. Speidel, Klaus: Jak pojedyncze obrazy opowiadają historie. Krytyczne wprowadzenie do problematyki narracji ikonicznej w narratologii [How single pictures tell stories. A critical introduction to the problem of iconic narrative in narratology]. In: Katarzyna Kaczmarczyk (Hg.): Narratologia transmedialna. Wyzwania, teorie, praktyki [Transmedial narratology. Challenges, theories, practices]. Krakow 2018. [Manuskript in englischer Sprache online.]
  5. Speidel, Klaus: Narration visuelle et récit iconique. Raconter une histoire en une image. Dissertation Université Paris Sorbonne 2013.
  6. Speidel, Klaus: Empirische Rezeptionsforschung zum erzählenden Einzelbild. Von der Theorie zum Experiment und zurück. In: Veits, Andreas/Wilde, Lukas R. A./Sachs-Hombach, Klaus (Hg.): Einzelbild & Narrativität. Theorien, Zugänge, offene Fragen. Köln 2020, S. 161-198.