('Von Edelsteinen', 'Der wunderbare Stein', 'Der Hahn und die Perle')

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Erstveröffentlichung: Dezember 2020
Lizenz: Sofern nicht anders angegeben Creative Commons License
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Letzte Überprüfung aller Verweise : 30.12.2020
GND-Verschlagwortung: Kleinepik | Magie | Metaphysik | Materialität | Performanz | Weisheit
Empfohlene Zitierweise: Wagner, Silvan: Performative Ding-Bedeutung: Der Stricker und sein metaphysisches Dinge-Verständnis in seiner Kleinepik (‚Von Edelsteinen‘, ‚Der wunderbare Stein‘, ‚Der Hahn und die Perle‘), in: MEMO 7 (2020): Textual Thingness /Textuelle Dinghaftigkeit, S. 68-80. Pdf-Format, doi: 10.25536/2020070.

Abstract

In seiner Kleinepik behandelt der Stricker die Macht von Preziosen in kritischer, dialektischer und unterhaltsamer Art und Weise. Bislang wurde in der Forschung dabei vor allem sein aufklärerischer, magiekritischer Impetus betont. Im hermeneutischen Vergleich seiner Kleinepik zeigt sich aber, dass der Stricker durchaus an einer magischen Dimension der Dinge festhält, die sich allerdings nur im Zusammenspiel der Physis der Dinge, der Erzählungen von ihren Mächten und der weisen Performanz mit ihnen entfaltet.

Abstract (englisch)

Within his short narratives, the Stricker tells about the power of precious things in a critical, dialectical, and – last but not least – entertaining manner. Research has hitherto emphasized his modern way of thinking whilst criticizing magical practices. But when comparing his short narratives in a hermeneutical way, one can see that the Stricker indeed affirms the magical dimensions of things. However, this magic only develops when the physique of things, the stories about their powers, and a wise performance with them come together.

Inhaltsverzeichnis

Dinge sind im Mittelalter bekanntlich wesentlich mehr als Dinge. Dieser scheinparadoxe Satz operiert mit zwei Verständnissen von Dingen, einmal vor und einmal nach der cartesianischen Unterscheidung von res cogitans und res extensa, die geistesgeschichtlich eine Grenze zwischen vormodernem und neuzeitlichem Denken darstellt. Dinge sind im Mittelalter nicht als res extensa auf ihre physischen Dimensionen beschränkt, sondern sind immer auch (und an erster Stelle) Teil der Schöpfung Gottes – des Gottes, den Descartes in seiner folgenreichen Differenzierung ganz dem Bereich der res cogitans zuordnet. Die Realität eines Dinges vereint nach mittelalterlicher Vorstellung physische (Form) und metaphysische1 (Bedeutung) Dimensionen. Sowohl Form als auch Bedeutung sind von Gott vorgegeben, und ist das Wissen über Formen und Bedeutungen vorhanden, kann der Mensch durch Formen und Bedeutungen hindurch seinen Weg zur Weisheit Gottes finden, die dieser in seinen beiden Büchern, der Bibel und der Natur, geoffenbart hat.2 Mehr noch: Wer fähig ist, die Materialität der Dinge gemäß ihrer Bedeutung zu benutzen, der kann teilhaben an der Schöpfungsmacht Gottes. Im rechten performativen Rahmen können Dinge Sündenvergebung erwirken (das Brot in der Eucharistie)3, unedle Metalle zu Gold machen (der Stein der Weisen in der Alchemie)4 oder das Wetter verändern (der Mörser im Wetterzauber)5.

Die in diesem Beitrag behandelten Texte sind nun keine theologischen, alchemistischen oder magischen Traktate, sondern kleinepische Dichtungen. Und dennoch reflektieren sie die Macht, die im Zusammenspiel von Materialität und Bedeutung von Dingen steckt, in einer Art und Weise, die lehrhaft auf eine lebenspraktische Anwendung zielt. In der Lehrrede Von Edelsteinen, dem Märe Der wunderbare Stein und dem Bîspel Der Hahn und die Perle entwirft der Stricker (ein fränkischer Dichter, der etwa zwischen 1230 und 1250 im österreichischen Raum wirkte) eine kritische, innovative und nicht zuletzt unterhaltsame Sichtweise auf die Macht der Dinge. Er problematisiert darin ein allzu physisches Verständnis ihrer Macht (Von Edelsteinen), entwirft exemplarisch die Idee einer metaphysisch-performativen Macht der Dinge (Der wunderbare Stein) und plausibilisiert diese schließlich6 in einem literarischen Meisterstück (Der Hahn und die Perle). Auf diese Weise beleuchtet der Stricker die magische Wirkmächtigkeit von Dingen – ihre Potenz, im performativen Einsatz durch einen kundigen Menschen die Wirklichkeit zu verändern7 – auf eine sehr differenzierte Art und Weise.

Von Edelsteinen: Kritik bloßer physischer Macht

In seiner Lehrrede Von Edelsteinen8 spricht der Stricker über deren angebliche Mächte und verfolgt dabei einen Skeptizismus, der auf gesundem Menschenverstand und experimenteller Überprüfung basiert. Der Stricker verhält sich damit zu einer magischen Tradition, die seinerzeit bereits seit über knapp zwei Jahrhunderten gepflegt wurde:9 Das lateinische Liber de gemmis des Marbod von Rennes aus dem späten 11. Jahrhundert machte das griechische, arabische und indische Wissen um die magischen Kräfte der Edelsteine dem christlichen Abendland zugänglich; als „eines der bekanntesten Steinbücher [… tradierte es] vor allem abergläubische Ansichten in der Art der spätantiken Zauberliteratur“10. Seine Absicht, diese Tradition kritisch zu hinterfragen, legt der Stricker schon am Beginn seiner Rede offen und setzt dabei einen kaufmännischen Wert-Begriff an: Er sei in der Lage, den Wert von Edelsteinen einzuschätzen. Dafür solle man ihm die angeblichen Kräfte nennen, welche er überprüfen wolle – denn man sollte nichts Teures unbesehen kaufen (vgl. VV. 1-10). Schleif-, Mahl-, Mauer- und Wetzsteine seien tatsächlich wertvoll, doch bezüglich der Edelsteine – so führt der Stricker seine Kritik pauschal aus – seien wir belogen worden (vgl. VV. 11-23). Im Folgenden unterscheidet der Stricker zwischen den Geschichten (diu maere, V. 24), die man sich von den Edelsteinen erzählt, und ihren tatsächlich experimentell überprüfbaren Kräften; und im Vergleich beider Seiten erwiesen sich die Geschichten schlicht als Lügen (vgl. V. 40). Im weiteren Verlauf des Textes bringt der Stricker zahlreiche Beispiele für die angebliche Kraft und tatsächliche Ohnmacht der Edelsteine:11 Die Kaiser implementieren magische Edelsteine in ihre Kronen – doch Philipp wurde erschlagen und Otto fiel in Schande, trotz der Steine (vgl. VV. 77-89); Siegsteine sorgen angeblich dafür den Gegner zu überwinden – und trotzdem kämpfen Juden, Christen und Heiden immer noch um das Heilige Land, also dürfte kein Mensch einen funktionierenden Siegstein besitzen (vgl. VV. 129-156); der Saphir soll Hautblasen zum Aufplatzen bringen, was aber auch zwei Nadeln im Wert eines Eis an 500 Beulen bewirken können (vgl. VV. 177-190). Die Quintessenz dieses mit 220 Versen vergleichsweise umfangreichsten Textes ist simpel: Vielfältig exemplifiziert der Stricker, dass Edelsteine entweder keine oder doch nur äußerst geringe Kräfte zeitigen, und er wird nicht müde zu betonen, dass nur ein Narr viel Geld für sie ausgeben würde.

Diese Attitüde mutet aus der heutigen Perspektive gleichsam modern an: Der Stricker fokussiert sich gänzlich auf die physischen Dimensionen der Edelsteine – ihre Farbe, ihr Gewicht, ihre Konsistenz, ihren mechanischen Einsatz – und er scheint den gesamten Bereich metaphysischer Kräfte als eine einzige große Lüge zu bezeichnen. Entsprechend wurde die Lehrrede bislang von der Forschung auch gelesen: Sabine Böhm vergleicht die Vorgehensweise des Strickers mit dem modernen Empirismus der Wissenschaften12, Ines Heiser bescheinigt ihm eine „[f]ast schon aufklärerische[] Attitüde“13 und Manfred Günter Scholz feiert den Dichter unumwunden als Aufklärer: Dem Stricker ginge es „um den Kampf für den Ausgang des Menschen aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit […], er steht für den Versuch, etwas Licht an die Orte zu tragen, wo das Mittelalter eben doch finster war.“14 Doch diese Lesart wäre wohl doch ein modernes Missverständnis, wie der Blick auf die beiden anderen Texte des Strickers zeigen soll, in denen Preziosen jeweils enorme, die Wirklichkeit verändernde Kräfte eigen sein können – insofern ihre Eigenschaften und die unterschiedlichen Perspektiven auf sie geschickt eingesetzt werden. Vorerst jedoch wäre festzuhalten, dass der Stricker in dieser Lehrrede entweder die metaphysischen Kräfte der Edelsteine selbst leugnet oder sie im Vergleich zu Alternativen als nichtig erklärt. Bei letzterem wäre allerdings zu betonen, dass der Stricker durchaus nicht abstreitet, dass der Hahnenstein Durst vertreibt, der Topaz heißes Wasser abkühlt, der Saphir Blasen heilt und der Rubin nachts leuchtet; er führt nur ins Feld, dass ein Schluck Wein, eine Schüssel voll kaltes Wasser, zwei Nadeln oder ein Stück faules Holz dieselben Effekte zeitigen, bei ungleich geringerem Preis (vgl. VV. 157-198).

Der wunderbare Stein: Die Magie kluger Performanz

Das Märe Der wunderbare Stein15 ist kürzer als die Lehrrede, doch diskutiert es dasselbe Thema – die Wirksamkeit von Edelsteinen – weitaus komplexer und dialektischer:16 Ein alter, gerechter und beliebter König stirbt, und sein Sohn wird König. Dieser aber erweist sich als schlechter Herrscher, indem er niemanden durch seine Verbeugung ehrt17 und zudem kein Recht spricht18 (vgl. VV. 19f.). Entsprechend unterlassen auch bald alle Untertanen ihre Ehrbezeugungen ihm gegenüber. Nun fragt der junge König seinen weisen Ratgeber, warum die Menschen ihn hassen würden. Der Weise erzählt ihm eine Geschichte:

iwer vater het einen edelen stein;
swa den daz lieht anschein,
daz in die lute mohten sehen,
da must alez daz geschehen,
daz iwrn vater erte.
den furt er, swa er cherte;
der stunt uf sinem hu(o)te.
wær ez in iwerm mu(o)te,
er solt uf iwerem hu(o)te sten;
so moht iu nimmer missegen.“

(VV. 41-50)

„Euer Vater besaß einen Edelstein.
Wo auch immer sich das Licht so in ihm brach,
dass es die Menschen sehen konnten,
da lief es alles so,
dass es Eurem Vater Ehre einbrachte.
Er trug den Edelstein, wo er auch immer hin ging: Er war Teil seiner Krone.
Wenn Ihr es wünscht,
dann soll er auch Eure Krone zieren.
Damit kann es Euch nicht mehr schlechtgehen.“19

Also lässt der junge König den Edelstein – den der Weise erst aufgrund seiner schönen Farbe aussucht – in seine Krone implementieren und beugt sein Haupt vor allen Untertanen, um seinen schönen Stein zu zeigen. Diese sind glücklich, da sie denken, dass Gott den Herrscher von seiner Arroganz geheilt habe, der ihnen nun die Ehre seines Grußes zukommen ließe. Der junge König wiederum ist über die fröhliche Gesinnung seiner Untertanen erfreut und fühlt sich von den Reaktionen seinerseits geehrt, so dass er sein Haupt umso häufiger beugt. An dieser Stelle schaltet sich wieder der Weise ein und erklärt, dass der Edelstein seine Kraft verlöre, wenn der König nicht gerecht richten würde. Entsprechend erweist sich der junge König fortan als gerechter Richter bis zu seinem Tod.

Dieses Märe stellt nicht etwa das Gegenteil der Lehrrede Von Edelsteinen dar, sondern wirkt eher wie dessen dialektische Revision: Der Edelstein in der Herrscherkrone hat keinerlei übernatürliche Kraft an sich, und der Weise lügt schlicht, als er die Geschichte seiner Magie erzählt. Aber paradoxerweise erweist sich der Edelstein zugleich als extrem wirkmächtig, und der Weise hat – vom Ausgang der Geschichte her gelesen – völlig wahrheitsgemäß von seiner Magie erzählt.

Wie bereits in der Lehrrede referiert der Stricker dabei mit seinem diesmal zentral gestellten Requisit auf den „Waisen“, den äußerst wertvollen und angeblich magischen Edelstein der Reichskrone.20 Und auch die Geschichte um die Wirkung des Steines im Märe ist stark vom „Waisen“ inspiriert: So führt etwa schon Walther von der Vogelweide im Ersten Philippston aus, dass den „Waisen“ zu tragen bedeute der richtige Herrscher zu sein.21 Ein magisches Wunder, das in der Physis des Edelsteins die Metaphysik seiner realitätsverändernden Wirksamkeit trägt – und der Stricker zeigt detailliert auf, wie dieses Wunder funktioniert:

Wie bereits bei der Lehrrede sind die Elemente des Geschehens auf der einen Seite ein kostbarer Edelstein und auf der anderen Seite die Erzählung seiner magischen Kraft. Und, ebenfalls wie dort, wissen wir, dass der Edelstein lediglich ein schön anzusehender, farbiger (vgl. V. 71) Stein ohne besondere Zusatzeigenschaften und die Geschichte eine Lüge ist. Entsprechend steht es nicht zu erwarten, dass der Edelstein als Summe seiner physischen Eigenschaften und seiner Geschichte irgendeine nennenswerte Kraft entfalten würde – und dennoch ist die Wirklichkeit im Ausgang des Märes nachhaltig verändert. Wie bereits Christiane Witthöft herausgearbeitet hat, ist die durch den weisen Ratgeber listig angeregte Performanz rund um den Edelstein von entscheidender Bedeutung22, doch halte ich dafür – in Ergänzung zu Witthöfts ritualtheoretischer Interpretation –, dass nur alle drei Komponenten zusammen die Wirklichkeit auf gleichsam magische Weise verändern: Die Physis, die Geschichte und die Performanz des Edelsteins, wobei ich letzteres im Sinne einer eng mit dem Edelstein verbundenen Handlung verstehe.

Die Geschichte ist eine Lüge; aber der Herrscher glaubt an sie (wobei nicht nur das Wort seines Ratgebers, sondern die gesamte Lapidarientradition23 ausschlaggebend ist) und lässt ihretwegen den Edelstein an seiner Krone befestigen. Entsprechend ist die Geschichte unabdingbar für die Wirkung des Steins. Die Eigenschaften des Edelsteins selbst sind auf seine Physis beschränkt, wie der Stricker deutlich macht: Seine Auswahl durch den Ratgeber erfolgt auf Basis seiner schönen Farbe. Und dennoch muss es offensichtlich ein Edelstein sein, der teuer ist und darüber hinaus äußerst kostbar in Gold gefasst wird, so „daz er vil richlichen stu(o)nt, / so kuniges steine in golde tu(o)nt“ (VV. 77f., „dass er äußerst kostbar in Szene gesetzt wurde, wie es bei in Gold gefassten königlichen Edelsteinen üblich ist“) – ansonsten könnte der Stein nicht Teil der Krone werden. Und ohne die Performanz des Beugens des Oberkörpers des Herrschers – dem von Seiten des Königs die Funktion eines Zeigens und von Seiten seiner Untertanen die Funktion eines Verbeugens zukommt – würde sich die gelogene Geschichte für den Herrscher nicht als Wahrheit erweisen, wodurch er selbst schlussendlich zu einem guten Herrscher nach dem Vorbild seines Vaters wird.

Der weise Ratgeber formt aus diesen Komponenten – Physis, Geschichte und Performanz – in seinem Ratschlag einen zweiteiligen Versuchsaufbau, der Physik und Metaphysik miteinander verschränkt, aber nichtsdestoweniger mit geradezu mechanischer Verlässlichkeit abläuft: Wegen der gelogenen Geschichte um die Kraft des Steines lässt ihn der Herrscher an seiner Krone befestigen, er beugt sich vor seinen Untertanen, um ihnen die Pracht zu zeigen – was diese als Hulderweis verstehen und ihrerseits den Herrscher ehren – was wiederum die Geschichte um die Kraft des Steines bewahrheitet und in einen Zirkel dauerhafter Wiederholung von (Ver)Beugung und Ehrerweisung führt (vgl. VV. 110-115). An dieser Stelle schaltet der Ratgeber eine zweite Geschichte in den Versuchsablauf ein, die wieder gelogen/ungelogen ist: Die Kraft des Steines würde vergehen, wenn ihm der Herrscher nicht „sin reht“ (V. 127) zukommen lassen würde und fortan Recht spräche (vgl. VV. 125-133). Entsprechend wird der König ein gerechter Herrscher bis zu seinem ehrenvollen Ende.24 Das doppelgesichtige (Ver)Beugen fungiert in diesem komplexen Versuchsaufbau als Scharnierstelle zwischen physischer und metaphysischer Dimension: Aus Perspektive des Königs dient es dem Zeigen der physischen Pracht des Steines, aus Perspektive der Untertanen transportiert es die Huld des Herrschers und löst Ehrbezeugungen aus, die der Herrscher wiederum als (jetzt metaphysische) Wirkung des Steines wahrnimmt. Die physische Pracht des Edelsteines verursacht – gemeinsam mit der Geschichte des Steines – also tatsächlich das Existent-Werden der metaphysischen Kategorien Huld und Ehre, zu denen sich später noch Recht gesellt. Und diese für eine gute Herrschaft zentralen Kategorien existieren objektiv und de facto, unabhängig von Intention oder Einsicht des Herrschers oder seiner Untertanen.25 Freilich verursacht die Aktualisierung von Huld, Ehre und Recht auf der anderen Seite auch erst die Macht des Steins: Mit dem geschlossenen Versuchsaufbau liegt eine Art Möbuisband vor, auf dem die Kraft des Steins einmal als Ursache und einmal als Wirkung erscheint. Das zentrale Ding dieses Märes ist zugleich das Wirkende als auch das Bewirkte, wie es idealtypisch in der Formulierung des Weisen angelegt ist, dem Edelstein „sin reht“ zukommen zu lassen und fortan ein gerechter Herrscher zu sein.26 Das Perfide des Textes liegt darin, dass ihm eben nicht eindeutig ein aufklärerisch-entlarvender Impetus eigen ist, sondern dass er bestens mit dem magischen Denken des Mittelalters korreliert: Wie in der Lithotherapie gefordert, wird der Stein an das erkrankte Körperteil gebunden (Haupt) und heilt es (bringt es dazu, sich zu neigen);27 und gemäß der magischen Funktion von in Kronen applizierten Edelsteinen bringt der Stein bei seinem Träger christliche Herrschertugenden hervor (Huld, Recht).28 Entsprechend hebt auch das Epimythion nicht etwa auf die Narrheit des Herrschers, die Lüge des Weisen oder die Machlosigkeit des Steines ab (wie mutatis mutandis in der Lehrrede),29 sondern empfiehlt den Ratgebern heutiger Herren ein analoges Vorgehen und verspricht den gerecht richtenden Herrschern ein positives Schicksal im Jüngsten Gericht, wodurch „die vorgetäuschte Wunderwirksamkeit des Steins durch die Heilswirksamkeit des Rechtsprechenden in gewisser Weise legitimiert“30 wird. Die Handschriften H, K, d und N machen diesen impliziten Zusammenhang zwischen Epimythion und Narratio explizit, indem sie innerhalb des Epimythions (!) die zweite Geschichte des Weisen fast wörtlich aufgreifen und so ex posteo als Wahrheit legitimieren:

Swen si gerichtes gern
Des sol er si dvrch got gewern
Ist er dar an ernsthaft
So beheltet der stein sine chraft

(Mehrverse nach V. 162)31

Wenn sie (die Bedürftigen) eine Verhandlung wollen,
so soll er (der Herrscher) sie ihnen um Gottes Willen gewähren.
Wenn er mit Fleiß dabei ist,
dann behält der Stein seine Macht.

In Summe seiner Physis, seiner Geschichte und seiner Performanz erweist sich der Edelstein im Märe damit als äußerst wirkmächtig, indem er nachhaltig die metaphysische Wirklichkeit (im Sinne der Herrschaftslegitimität des Herrschers) verändert. Unabdingbar für diese Summenbildung ist freilich die Klugheit des Ratgebers, die das Pendant zur Dummheit derjenigen darstellt, die in der Lehrrede als Blindgläubige der Steinkräfte vorgeführt wurden. Der Stricker setzt in gewisser Weise der dummen, monokausalen Magie der Lehrrede eine kluge dialektische Magie im Märe entgegen, die alle Erwartungen an die magische Wirksamkeit eines Gegenstandes tatsächlich erfüllt. Und er nutzt dazu Elemente der Lithotherapie und der Lapidarienkunde, um einerseits eine monokausale Magie als nichtig zu entlarven, andererseits aber eine komplexe Magie im Zusammenspiel von Physis, Metaphysis und Performanz zu plausibilisieren.32

Der Hahn und die Perle: Ein versäumter Fall magischer Macht

Die an der Lehrrede und am Märe herausgearbeiteten Verständnisweisen von Macht und Ohnmacht einer Preziose sollen nun den Hintergrund bilden für die abschließende Interpretation des kürzesten und zugleich komplexesten Textes dieser Untersuchung: das Bîspel Der Hahn und die Perle.33 Die Narratio für sein Bîspel adaptiert der Stricker von einem alten Fabelstoff:34 Vor einem Stadel, wo man Korn gedroschen hat, sucht ein Hahn nach Nahrung. Er findet eine Perle und überlegt, dass er über den Fund froh wäre, wenn er einen Nutzen aus der Perle ziehen könnte; da dies aber nicht der Fall ist, würde er ein Getreidekorn der Perle vorziehen. Im umfangreichen Epimythion vergleicht der Erzähler den Hahn mit einem Menschen, der närrisch handelt und keinerlei negative Konsequenzen befürchtet. Wenn eine solche Person eine Perle fände, würde sie sie wie der Hahn liegen lassen. Offensichtlich ist die kleine Störung, dass mit der Perle ein Bild der Narratio im Epimythion nicht in übertragener Bedeutung genannt wird, absichtlich gesetzt, denn der Erzähler beeilt sich aufzuklären, was genau mit der Perle gemeint sei:

was sint die mergriezzen?
diu wort, der wir niezzen
gegen got und nach den eren.

(VV. 25-27)

Was bedeuten die Perlen?
Es sind die Worte, die wir an Gott richten und
mit denen wir Ehre gewinnen wollen.

Diese mit dem retardierenden Moment und der wörtlichen Frage doppelt markierte Aufklärung wirft jedoch mehr Fragen auf als sie beantwortet, und diese beginnen beim bloßen Textverständnis: Das Verb „niezen“ kann aktivisch „benutzen“, passivisch aber „genießen“ bedeuten. Letzteres fügt sich assoziativ zur Perle, die auch hier (wie schon in biblischer Tradition) Worte bezeichnet, die mit Gott in Verbindung stehen und mitunter gegessen, verinnerlicht werden. Dieses assoziative Konglomerat aus dem Jesuswort „Perlen vor die Säue werfen“, dem Gleichnis vom Sämann und dem Verspeisen der Schriftrolle in der Johannesapokalypse35 mag Pate gestanden haben bei der Paraphrasierung der Lehre des Bîspel durch Franz-Joseph Holznagel: „Der Hahn sei einem Menschen vergleichbar, der glaube, sein Leben ohne geistliche und weltliche Unterweisung gestalten zu können“.36 Die Phrase „gegen got“ allerdings widerspricht dieser Lesart, dass die Perlen/Worte passivisch aufgenommen werden sollen: „Gegen“ bedeutet zunächst räumlich „hin zu“, womit die Worte aktivisch an Gott gerichtet würden; und auch die Phrase „nach den eren“ spricht für dieses Verständnis, da „nach“ als Präposition mit Dativ ebenfalls die Richtung einer Aktion bezeichnet. Entsprechend übersetzt Otfried Ehrismann korrekt: „Es sind die Worte, die wir an Gott richten und mit denen wir nach Ehre streben“.37 Die Perle steht also nicht für Worte, die der Mensch empfängt, sondern für die Worte, die er zu Gott spricht (im Gebet, in der Lobpreisung etc.) um Ehre zu bekommen.

Irritierend ist diese Lesart, weil sie scheinbar nicht zur Narratio passt: Dort nimmt der Hahn die Perle ja beinahe auf, lässt sie dann aber – ungegessen – liegen, um nach Körnern zu suchen. Zudem stellt sich spätestens jetzt dringlich die Frage, was der Hahn mit der Perle denn hätte anfangen sollen? Das Epimythion perspektiviert die Perle als Worte, die an Gott gerichtet werden, doch der Hahn in der Narratio scheint niemanden zu haben, dem er die Perle geben könnte. Er handelt zunächst seiner Natur gemäß38, hat aus seiner Perspektive Recht und scheint keinen Kommunikationspartner zu haben – eine denkbar schlechte Narratio zur Bebilderung des Epimythions, wie es scheint.

Bei genauerem Besehen freilich versteckt der Stricker einen möglichen Empfänger der Perle in der Narratio: den Bauern, der vor der Scheune das Korn gedroschen hat. Die bäuerliche Szene zu Beginn geht in der Tat auf den Stricker selbst zurück, der sie nicht aus der Tradition übernehmen kann.39 Und der Bauer (der im Text nur passivisch und erschließbar in der Formulierung „da man drasch“ (V. 1) vorkommt) fungiert tatsächlich bestens als Pendant zu Gott: Er ist der Herr des Hahnes, welcher sich – wie die Hunde von den herabfallenden Brosamen am Tisch des Herrn40 – von dessen übriggebliebenen Körnern ernährt. Für den Bauern würde die Perle einen immensen Reichtum darstellen, für dessen Gabe er den Hahn sicherlich ehren würde. Und genau diese Logik – etwas Wertvolleres zu bekommen für die Gabe von etwas Wertvollem – bestimmt auch die Dingbedeutung der Perle nach dem Physiologus (wenngleich mit vertauschten Rollen):

„[D]ie Perle deutet auf unseren Erlöser Jesus Christus; er nämlich ist die kostbare Perle, die der Mensch gewinnen soll, indem er all das Seine verkauft und den Armen gibt und so die kostbare Perle erwirbt.“41

Mit dieser Perspektivierung werden die drei behandelten Texte kohärent: Wie in der Lehrrede Von Edelsteinen besitzt die Perle keine magischen Kräfte an sich, und der Hahn hat recht, wenn er meint, dass ihm ein Getreidekorn mehr nützen würde. Allerdings bedenkt er nicht die performative Kraft von Preziosen, wie sie im Märe Der wunderbare Stein ausgeführt ist: Das weise Handeln mit wertvollen Dingen verleiht ihnen Kraft, die großen Nutzen verspricht.

Folgt man dieser Lesart, dann wird auch das Epimythion des Bîspels selbst kohärenter, denn nur scheinbar setzt der Stricker nach der komplexen Aufklärung um die Bedeutung der Perle ein zweites Thema:

beginnet man in leren,
wie er werben solde,
ob er sich liebe wolde
beidiu got und den luten,
so mag man imz diuten,
ê er sich daran iht chere.
des æffet er sich sere,
der den wisheit leret,
der sich an die rede niht cheret.
swer nicht wisheit wil pflegen,
funde er si ligen an den wegen,
er moht ir niht mer geniezzen
denne ouch der han der mergriezzen.

(VV. 28-40)

Wenn man einen belehrt,
wie er handeln sollte,
wenn er sich bei Gott
und den Menschen beliebt machen will,
dann muss man es ihm erst auslegen,
bevor er sein Handeln danach richtet.
Der macht sich zum Narren,
der demjenigen Weisheit lehrt,
der sich um die Geschichte nicht kümmert.
Wer Weisheit nicht gebraucht,
wenn er sie am Weg liegen findet,
der kann nicht mehr Nutzen aus ihr ziehen
als der Hahn aus der Perle.

Plötzlich geht es nicht mehr um den unklug handelnden Menschen, sondern um denjenigen, der ihn in seinem Handeln42 belehrt (V. 28, 35) und ihm die Geschichte (V. 36) auslegt (V. 32). Ich denke, dass der Stricker hier tatsächlich in einer autopoietischen Pointe den Interpretationsakt der (überkommenen und als Fabel gänzlich traditionellen) Geschichte inszeniert. Er stellt diesen Interpretationsakt als eine Gemeinschaftsarbeit von Erzähler (Vermittler von Weisheit) und Publikum (im Idealfall Anwender von Weisheit) dar; um es von hinten aufzurollen: Nutzen aus der Perle ziehen heißt, die Weisheit, die man am Wege findet,43 anzuwenden, in Handlung umzusetzen; dies gelingt aber nur, wenn man dazu bereit ist, sich mittels Geschichten weise belehren zu lassen44 – wer das freilich mit einem daran uninteressierten Publikum versucht, der macht sich zum Narren. Und vor dem weisen Handeln muss die Lehre durch Auslegung erfolgen – genau wie bei der eben erzählten Geschichte: Erst mit der Perspektivierung durch den Erzähler im Epimythion wird das Publikum auf die Möglichkeit gestoßen, wie der Hahn mit der Perle hätte weise handeln können45 – für eine dumme Handlung (die Perle liegen lassen) bedarf es keiner Lehre.

Die Entdeckung, dass der Hahn tatsächlich etwas Sinnvolles, Weises mit der Perle hätte anfangen können, bietet ein Aha-Erlebnis, das die intensive Auseinandersetzung mit einem äußerst prägnanten46 Bîspel als überraschend lohnenswert erscheinen lässt – und dies nicht zuletzt für den Stricker selbst, der seine Perlen der Weisheit nicht für sich behält, sondern in Form großartig konstruierter Geschichten einem Publikum weitergibt, das ihm dafür im Idealfall den topischen lôn gewährt. Insofern sind die vier Abschlussverse wieder schillernd sowohl auf das Publikum als auch auf den Erzähler der Geschichte zu beziehen: Wer Weisheit nicht gebraucht (ein Publikum, das sich der Interpretation versperrt, ein Spielmann, der seine Geschichten nicht weitergibt), der hat ebenso viel davon wie der Hahn in der Geschichte von der Perle. Die Perle (in der schillernden Bedeutung von hilfreichen Worten, weiser Auslegung, der klugen Geschichte selbst und schließlich ihrer Anwendung im Alltag) erweist sich als in der Tat magischer Gegenstand, der seine Magie aber nur in seinem weisen Einsatz entfaltet.

Zusammenfassung

Der Stricker setzt sich in seiner Lehrrede Von Edelsteinen, seinem Märe Der wunderbare Stein und seinem Bîspel Der Hahn und die Perle sehr unterschiedlich und doch kohärent mit der Kraft wertvoller Dinge auseinander. In der Lehrrede weist er eine den Dingen innewohnende Kraft zurück, die auf ihrer Physis und ihrer Narratio aufbaut: Die physische Kraft von Edelsteinen ist nichtig, und die Erzählungen davon erweisen sich als Lüge. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Dinge überhaupt keine Kraft zeitigen würden: Im Märe übt ein Edelstein auf Basis seiner Physis, seiner Narratio und seiner weisen Performanz eine immense Kraft aus. Mit dem weisen Einsatz entfaltet der Edelstein große Macht, für die auch seine Physis und seine (dann wahre) Narratio unabdingbar sind. Und das Bîspel schließlich funktioniert wie eine Verbindung zwischen Lehrrede und Märe: Bisweilen erhält man ein Ding, das aus der eigenen Perspektive völlig wertlos ist und dem keine Kraft innewohnt; doch wenn man es jemandem gibt, der es gebrauchen kann, dann kann es sich als äußerst machtvoll erweisen. Entscheidend dabei ist – und dies ist die eigentliche Pointe des Bîspels – sich der komplexen Interpretation seiner Narratio nicht zu versperren. Im Erzählen seiner Kleinepik verbindet der Stricker die physische Dimension von Dingen mit ihrer metaphysischen, und er nutzt ihre weise Performanz auf Basis der rechten Interpretation ihrer Geschichte als Leim für beide Dimensionen.

In diesem Sinne ist der Stricker in der Tat ein mittelalterlicher Aufklärer – nicht aber in einem ahistorischen, säkularisierten, modernen Sinne: Er klärt darüber auf, wie wahre Magie funktioniert – mit dem erklärten Ziel, ihre tatsächliche, reale Kraft auch zu nutzen.


Titelabbildung:

Eigene Abbildung von Silvan Wagner.

Fußnoten

  1. Ich verwende den Begriff Metaphysik in seiner ursprünglichen Bedeutung, in der mit ihm die aristotelischen Schriften „hinter den Büchern über die Natur“ bezeichnet wurden. Metaphysisch ist in diesem Sinne die Perspektive auf Entitäten, die nach ihrer Bedeutung, ihrem Sinn fragt und über ihre physische Dimension hinaus zielt.
  2. Vgl. dazu grundsätzlich Ohly 1958/59, der auch das mittelalterliche Verständnis von Dingbedeutung in ihrer Spannung zwischen Physis und Metaphysis ausführt.
  3. Wünsch 2006 betont zurecht, dass ein auf ‚Aberglauben‘ reduzierter Magiebegriff, der kirchliche Praxen ausklammert, für das Mittelalter unzureichend ist.
  4. Vgl. dazu im Überblick Birkhan 2010, S. 53-59.
  5. Vgl. dazu Jakoby 2000, Sp. 1307-1310.
  6. Dabei ist zu betonen, dass die hier systematisch erzeugte Reihenfolge keineswegs etwa auf eine historische Abfolge der einzelnen Dichtungen verweist. Das kleinepische Werk des Strickers ist kaum genauer historisierbar. Allerdings sind alle drei Texte in zwei Handschriften gemeinsam überliefert (Wien, ÖNB: Cod. 2705 und Heidelberg, UB: Cpg 341, die einzigen beiden Handschriften, die Von Edelsteinen überliefern; die beiden anderen Texte sind darüber hinaus noch in Genève-Cologny: Bib. Bod.: Cod. Bodm. 72 und Cod. Bodm. 155 gemeinsam überliefert). Einen systematischen Bezug zwischen Von Edelsteinen und Der wunderbare Stein sehen bereits Scholz 2007 und Witthöft 2004, S. 267-287.
  7. Magie ist ein äußerst schillernder Begriff, der kaum definitorisch befriedigend erfasst werden kann (vgl. Bertholet 1986). Ich verwende den Magiebegriff hier heuristisch, um Formen objektiver Wirklichkeitsveränderung durch den performativen Einsatz von Dingen in mittelbarer Auswirkung auf ihre Umwelt zu bezeichnen. Die magische Kraft von Dingen übersteigt dabei ihr physisch erklärbares Potenzial ins Metaphysische (vgl. dazu Anm. 1). Ich halte dafür, dass die Frage, ob der Stricker an Magie glaubt, zu kurz greift, da er einerseits eine einfache dingmagische Vorstellung (Dinge wirken per se magisch) rigoros ablehnt, andererseits aber eine komplexe dingmagische Vorstellung (Dinge wirken in ihrem weisen Gebrauch magisch) geradezu propagiert. Einen Überblick über magische Praxen im Mittelalter bietet Birkhan 2010.
  8. Ich zitiere nach Moelleken (Hg.) 1974-1978, Band 4, S. 206-214. Grundinformationen und eine aktualisierbare Bibliografie finden sich auf http://wiki.brevitas.org/Von_Edelsteinen_(Der_Stricker).
  9. Ausführlich dazu vgl. Scholz 2007 und Heiser 2008.
  10. Friess 1980, S. 17.
  11. Ausführlich dazu vgl. Scholz 2007, S. 237-239; Böhm 1995, S. 87.
  12. Vgl. Böhm 1995, S. 86.
  13. Heiser 2008, S. 173.
  14. Scholz 2007, S. 243.
  15. Ich zitiere nach Moelleken (Hg.) 1974-1978, Band 3,2, S. 324-332. Grundinformationen und eine aktualisierbare Bibliografie finden sich auf http://wiki.brevitas.org/Der_wunderbare_Stein_(Der_Stricker).
  16. Dieser direkte Zusammenhang von Kürze und Komplexität ist ein Grundzug der gesamten Kleinepik und lässt sich unter dem Begriff der Prägnanz fassen, vgl. Dimpel/Wagner (Hg.) 2019.
  17. Zur rituellen Bedeutung des Herrschergrußes vgl. Witthöft 2004, S. 271f.
  18. Vgl. Witthöft 2004, S. 271.
  19. Die Übersetzungen stammen hier und im Folgenden von mir.
  20. Vgl. Witthöft 2004, S. 275; ausführlich Margetts 2000, S. 227-231.
  21. Vgl. Walther von der Vogelweide 18, 29-19, 4.
  22. Vgl. Witthöft 2004, S. 267-287.
  23. Zur Lapidarientradition als Hintergrund des Märes vgl. ausführlich Margetts 2000 und Scholz 2007.
  24. Nina Nowakowski führt aus, dass das Märe damit einen rein formalistischen Rechtsbegriff unterstütze, da der Ratgeber nicht inhaltlich berate (vgl. Nowakowski 2018, S. 96). Der Text verneint eine inhaltliche Beratung des Weisen aber keineswegs und lässt sie sogar anklingen, vgl. VV. 141-146.
  25. Vgl. Witthöft 2004, S. 227: „Die Absicht oder der freie Wille des Ausführenden scheinen keine Auswirkung auf die Wirksamkeit des Gezeigten zu haben“.
  26. Analog dazu kommt es in der Ritualhandlung des Grußes (und – mutatis mutandis – auch des Rechtsprechens) zu einer Verschmelzung von Schein und Sein: „Der Ritualformalismus bedeutet, dass das Äußere für das Innere genommen wird, ungeachtet der wirklichen Intention einer Handlung. Im Ritual ist das Außen das Innen, das Bezeichnende das Bezeichnete, Inhalt und Form sind untrennbar miteinander verbunden.“ (Witthöft 2004, S. 278)
  27. Vgl. Friess 1980, S. 29f.
  28. Vgl. Friess 1980, S. 44.
  29. An der Einordnung des Herrschers und seiner Beziehung zum Weisen scheiden sich (nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Lehrrede) die Geister: Hedda Ragotzky sieht einen Erkenntniszuwachs beim Herrscher, der vom Weisen lerne (vgl. Ragotzky 1981, S. 120), was Christiane Witthöft und Nina Nowakowski  kritisieren (vgl. Witthöft 2004, S. 274; Nowakowski 2018, S. 94) und Sabine Böhm konterkariert, indem sie den Herrscher – vor dem Hintergrund der Lehrrede – als „tump“ bezeichnet (vgl. Böhm 1995, S. 88, die in einer Fußnote allerdings anmerkt, dass der Begriff der tumpheit im Text nirgends fällt). Der Kernpunkt dieser Frage nach der Einordnung des Herrschers ist das Verständnis der Manipulation, der er durch den Weisen ausgesetzt ist (vgl. ausführlich Nowakowski 2018, S. 90-97, v.a. S. 97). Anstatt einer Einschätzung des Geisteszustandes des Herrschers zu treffen (über den sich der Text ausschweigt), möchte ich darauf hinweisen, dass der König objektiv ein guter König nach Vorbild seines Vaters wird, was das Märe im Epimythion mit aller religiöser Vehemenz bestätigt; zudem legt der Weise die Abhängigkeit der Kraft des Steins von der Performanz des Königs durchaus offen (vgl. VV. 90-95; 125-140), und der König wird keineswegs als Blindgläubiger inszeniert, sondern überprüft die Kraft des Steins empirisch (vgl. VV. 65-70; 85; 88f.) – ganz im positiven Sinne der Lehrrede.
  30. Nowakowski 2018, S. 95
  31. Vgl. Moelleken (Hg.) 1974-1978, Band 3,2, S. 331. d und N überliefern dabei nur die – allerdings entscheidenden – letzten beiden Verse.
  32. Auch Christiane Witthöft erkennt im Märe tatsächlich magische Elemente: „Die List in dem Märe ‚Der wunderbare Stein‘ liegt letztlich darin, mit der völligen Destruierung der Wirkung des Edelsteins zu zeigen, dass die vermeintlich magische Kraft des Steins eigentlich die magische Kraft des vollzogenen Grußrituals ist.“ (Witthöft 2004, S. 282). Ich denke, dass diese Konzentration auf das Ritual (in diesem Aufsatz etwas breiter als Performanz gefasst) zu einseitig ist: Erst im Zusammenspiel von Physis, Geschichte und Performanz des Steines entfaltet er magiegleiche Wirksamkeit.
  33. Ich zitiere nach Moelleken (Hg.) 1974-1978, Band 3,1, S. 177-179. Grundinformationen und eine aktualisierbare Bibliografie finden sich auf http://wiki.brevitas.org/Der_Hahn_und_die_Perle_(Der_Stricker).
  34. Zur Stoffgeschichte der Fabel vgl. ausführlich Speckenbach 1978.
  35. Vgl. Math 7,6; Math 13,1-8; Off 10,10. Auch der mittelhochdeutsche Begriff “mergriezen”, der wörtlich “Korn des Meersandes“ bedeutet, leistet dieser Assoziationskette Vorschub.
  36. Holznagel 2003, S. 300.
  37. Ehrismann (Hg.) 1992, S. 33.
  38. Vgl. Ragotzky 1981, S. 169. Ich halte jedoch dafür, dass diese ordo-orientierte Lesart letztendlich doch am Bîspel – konkret an dessen zweitem Teil – vorbeigeht, siehe dort.
  39. Vgl. Speckenbach 1978, S. 194.
  40. Vgl. Math 15,27.
  41. Schönberger (Hg.) 2001, S. 87 (Übersetzung durch Schönberger). Beim Stricker wird aus dem Dualismus weltlich-geistlich freilich ein dialektisches Sowohl-Als auch.
  42. Hier verwendet der Text mit „werben“ dasselbe Verb wie bei der Einführung des Hahnes und unterstreicht damit den Perspektivenwechsel.
  43. Sehr reizvoll irritiert der Stricker hier scheinbar seine eigene parabolische Auslegung von der Perle als Worte, die an Gott gerichtet und um der Ehre willen gesprochen werden, wobei er auch hier einer vulgärmagischen Interpretation zu wehren scheint: Es geht nicht im eigentlichen um die Worte (als gleichsam magisch wirkende Sprüche etwa), sondern um ihren weisen Einsatz. In diesem performativen Verständnis ist es kein Widerspruch, dass die Perle Bild sowohl für die Worte als auch für die Weisheit ist.
  44. Vgl. Dworschak 2003, S. 97: „Der Nutzen der Lehre hängt also davon ab, ob sie richtig vermittelt wird, was offenbar die Bearbeitung des Willens des Zuhörers mit einschliesst: andernfalls wäre es wie Perlen vor die Säue geworfen.“
  45. Ich lese das Bîspel entsprechend nicht als Plädoyer für ordo-Treue, wie dies Hedda Ragotzky nahelegt: „Während das werben des Hahns art-gemäß und in diesem Sinne richtig ist, verfehlt der tumpliche werbende Mann gerade seine Ordo-Bestimmung und wird so zur exemplarisch negativen Figur“ (Ragotzky 1981, S. 170f.). Der Stricker kehrt in seinem Epimythion immer wieder zum Bildteil des Bîspels zurück und legt damit eine grundsätzliche Parallelität des Hahns mit seinem Publikum nahe: Sowohl im Bild- als auch im Sachteil des Bîspels gibt es je zwei mögliche Umgangsweisen mit der „Perle“.
  46. Zur Prägnanz als entscheidende Kategorie der Kleinepik vgl. Dimpel/Wagner 2019.

Bibliografie

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Moelleken, Wolfgang Wilfried (Hg.): Die Kleindichtung des Strickers, Band 4, Göppingen 1977, S. 206-214 (Der Stricker: Von Edelsteinen).
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Nowakowski, Nina: Sprechen und Erzählen beim Stricker. Kommunikative Formate in mittelalterlichen Kurzerzählungen. Berlin/Boston 2018.
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Ohly, Friedrich: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 89 (1958/59), S. 1-23.
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Ragotzky, Hedda: Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers. Tübingen 1981, S. 168-172.
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Schönberger, Otto (Hg.): Physiologus. Griechisch / Deutsch. Stuttgart 2001.
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Wird erwähnt in Fußnote: [3]

Weiterführende Literatur

Dimpel, Friedrich Michael/Wagner, Silvan (Hg.): Prägnantes Erzählen. Oldenburg 2019 (Brevitas 1 – BmE Sonderheft), online.