Zur Konmedialität von Schrift und Bild in ihrer ursprünglichen Setzung auf dem Klosterneuburger Ambo des Nikolaus von Verdun
Abstract
In der Widmungsinschrift des Klosterneuburger Emailwerks für den Ambo im Stift Klosterneuburg wird das typologische System, welches in vertikalen Bildgruppen je eine christologische Szene mit zwei alttestamentlichen Bildtypen verknüpft, mit dem Begriff des Reimens (consona) charakterisiert. Die in den narrativen Emails gefassten Begebnisse werden als „sacra consona“, sich reimende heilige Dinge bezeichnet, die „eingegraben“ sind (peraratum), womit selbstreferentiell wiederum auf die hier verwendete Technik des Grubenschmelzes verwiesen wird. Die typologischen Reimstrukturen der Bilder und die entsprechenden Bildstrategien waren bereits Gegenstand von ausführlichen Untersuchungen. Nicht berücksichtigt für diesen Zusammenhang wurde die ursprüngliche Anordnung der Widmungsinschrift auf den drei Tafeln der Amboverkleidung, die durch die Erweiterung des Goldschmiedewerks im 14. Jahrhundert ergänzt und völlig neu gesetzt wurde. Eine virtuelle Rekonstruktion hat ergeben, dass die Inschrift, deren leoninische Hexameter seit dem Umbau zum Altarretabel mit Umbrüchen innerhalb von Versen und sogar Wörtern über vier Zeilen in unregelmäßiger Form verlaufen, im ursprünglichen Zustand in sauber neben- und untereinander aufgeführten Versen gesetzt war. Auf den schmaleren Tafeln mit je vier Bildvertikalen nahm jede der vier Zeilen einen ganzen Vers auf, auf der breiteren, mittleren Tafel waren auf jede Zeile zwei Verse verteilt. Das hat nicht nur Konsequenzen für eine bessere Lesbarkeit und die Wahrnehmung des Textes als regelmäßige Versdichtung. Die Rekonstruktion macht deutlich, dass die Widmungsinschrift nicht etwa nur in inhaltlicher Hinsicht die typologische Ordnung der Bilder als Reimstruktur klassifiziert, sondern selbst an der ordnenden Reimstruktur des ganzen Werks beteiligt ist. Die zusammengehörigen Reime stehen zwar notwendigerweise horizontal zueinander, die versübergreifenden Reimwörter stehen jedoch in vertikalen Achsen. Mehr noch: Die Reimwörter selbst sind, wie der Beitrag zeigen wird, in vielen Fällen Schlüsselbegriffe für den Aufbau und die Semantik des Werkes. Zudem wird im Beitrag (auch auf der Grundlage der virtuellen Rekonstruktion) nach konkreten inhaltlichen Verknüpfungen im Layout von Bildern und Widmungsinschrift gefragt.
Abstract (englisch)
The article focuses on cross references between the pictorial and scriptural systems of the Klosterneuburg enamel work by Nicolaus of Verdun. The way in which the dedicational inscription characterizes the typological program of its images is termed “rhyming” (consona). In the inscription, the pictorial narratives of the Old and New Testament are described as sacra consona that are carved, or “trenched” (peraratum), thus referring to the enamel technique of the Champlevé. Former research on the typological program of the enamelwork that ornamented the ambo in the church of the monastery Klosterneuburg has neglected the original layout of the dedication. A virtual reconstruction rendered by the author, however, shows that originally the verses were positioned in absolute order: each of the four inscription lines on the panels concluded with the last word of a verse. The two smaller panels thus contained four verses, the middle panel eight verses. In 1331 the enamelwork was inserted into a wooden triptych with foldable wings. The enamel work of the middle panel had to be enlarged, making it in turn necessary to alter the layout of the inscription. Since then, the verses cover the inscription line without cohesion between the space of the panel’s lines and the order of the verses. Verses, even words had to be cut to be divided between the end of one panel and the beginning of the next line on another panel. Not only were the verses much easier to read in the original layout, but the whole rhyming structure participated in the typological “rhyming” system of the images. Additionally, the reconstructed layout reveals that the rhyming word pairs are very often key words to the whole work’s semantics, including cross references not only to the images but also to further inscriptions such as the image tituli. In this work, pictorial and scriptural systems are not designed to fulfill different and distinct tasks; instead, they form a hybrid medium in which meaning and impact results from linked pictorial and scriptural processes. To better describe these processes the author proposes the terminus “Konmedialität” (conmediality) instead of “Intermedialität” (intermediality).
Inhaltsverzeichnis
Das Goldschmiedewerk des Nikolaus von Verdun, das ursprünglich der Umkleidung einer Lesebühne im Augustiner-Chorherren-Stift von Klosterneuburg diente und 1331 zu einem klappbaren Altarretabel umgebaut wurde, ist mit den heute 944 Bild-, Schrift- und Ornamentemails zu einem hochkomplexen typologischen System geclustert (Abb. 1, 2). Das Bildprogramm ist in drei Register mit ehemals 15 Bildachsen aufgeteilt. Die ersten 13 Achsen verbinden je ein in der Mitte der Achse liegendes christologisches Motiv in chronologischer Reihenfolge von der Verkündigung bis Pfingsten (sub gratia) mit je einem alttestamentlichen Bildmotiv aus der Zeit vor dem Gesetz (ante legem) in der oberen Reihe und unter dem Gesetz (sub lege) im unteren Register. Die letzten beiden Achsen brechen diese Typologie auf und zeigen mit dem secundum adventum Christi und dem Jüngsten Gericht die Letzten Dinge, gemäß der Einteilung der Zeitalter des Augustinus in ante legem, sub lege, sub gratia und sub pace. Da der Holzträger von 1181 nicht erhalten ist und man auch die bauliche Gestalt des Ambo nicht mehr nachvollziehen kann, ist seine Form nicht mehr sicher zu rekonstruieren. Als original geltende Markierungen auf den Rückseiten der Plaques legen nahe, dass drei Seiten des Ambo (mit rechteckigem oder polygonalem Grundriss) mit je vier, sieben und wiederum vier Bildachsen verkleidet waren. Keine 150 Jahre nach Fertigstellung der Amboverkleidung gab der Probst Stephan von Sierndorf den Auftrag zu einem auf der Rückseite mit großformatigen Malereien versehenen Triptychon, dessen Innenseite dem alten Holzträger entsprechend reliefiert wurde und die Kupfer- und Emailplaques aufnahm. Das Programm musste von Wiener Goldschmieden um zwei Achsen ergänzt werden, damit die Mitteltafel die gleiche Breite hatte wie beide Flügel zusammen.
In beiden mittelalterlichen Zuständen verbinden sich die Bilder mit diversen Schriftebenen zu einem komplexen Medienhybrid, das hier für den Ambo untersucht werden soll. Es geht im Folgenden primär nicht um eine umfassende Untersuchung des typologischen Bildsystems,
das zu dieser Zeit in seiner Komplexität und konsequenten Systematik einzigartig ist und vorgängig weder in Bildmedien noch theologischen Schriften so zusammenhängend ausgearbeitet ist, vielmehr soll die Verlinkung der werkimmanenten Bild- und Schriftebenen in eben diesem typologischen System erfasst werden.Object Links
Die Grundidee eines Arbeitens mit Object Links
im Bereich der Forschung zu materieller Kultur liegt in der Annahme begründet, dass die Bedeutung, der Sinn und die Wirkung nicht in einzelnen Objekten fest eingeschrieben oder verankert sind, sondern in den jeweiligen räumlichen, strukturellen, situativen oder performativen Verbindungen, die zwischen Objekten bzw. zwischen Objekten und Personen entstehen, ausgehandelt und aktiviert werden. Diese Verbindungen können konstellativ, d.h. dynamisch sein: mit den Veränderungen und dem Wechsel der Konstellationen verändert sich auch die Bedeutung des einzelnen Objekts. Im Fall komplexer und hybrider Objekte – beispielsweise Kunstwerke, die sich aus verschiedenen einzelnen Elementen zusammensetzen – bestehen solche semantischen Links auch innerhalb des Objekts selbst. Das Verständnis bzw. der Nachvollzug der Object Links innerhalb solcher Mikroebenen in der Bildrezeption kann methodisch mit den Object Links jener Makroebenen verknüpft werden, welche das ganze Objekt wiederum mit seiner räumlichen Umgebung, weiteren Objekten und dem Denk- und Wissenshorizont, in dem es von menschlichen Akteuren verwendet wird, verbinden. Wenn die einzelnen Elemente eines Artefakts wie des Klosterneuburger Goldschmiedewerkes (1181) bereits 150 Jahre nach seiner Entstehung neu zusammengesetzt und ergänzt werden, um veränderten historischen Konstellationen gerecht zu werden, sind diese Zusammenhänge besonders gut beobachtbar. Im Folgenden soll daher den Verknüpfungen der Bild- und Schriftsysteme dieses Werkes nachgegangen werden. Der methodische Ansatz der Object Links definiert dabei sehr genau das Was und Wie der Text-Bild-Untersuchungen. Es geht hier nicht wie in einem Großteil der Bild-Text-Forschung primär darum, welche Information ein Text und ein Bild gleichen narrativen Inhalts jeweils bieten, inwiefern das Bild inhaltlich vom Text abweicht oder Ähnliches. Untersucht man die Links zwischen Bild- und Texteinheit, aber auch jeweils zwischen Bild- und Bildeinheit und Text- und Texteinheit, so ist die Frage zunächst struktureller Art. Die Relationen der Einheiten, ihre Positionierungen im Layout und ihre potentiellen (auch latenten) Verknüpfungen, sind die entscheidenden Kriterien. Diese Object Links ordnen die einzelnen Einheiten und bestimmen ihr Wesen, ihre Aufgabe und ihre Bedeutung in Hinsicht auf die Semantik und die Wirkung des gesamten, konmedialen Objektensembles.Bild – Schrift – Links
In der Untersuchung von Bild-Text-Zusammenstellungen bzw. Bild-Schrift-Beziehungen
in oder auf mittelalterlichen Medien geht man selten von gleichberechtigten Verhältnissen aus. Die Perspektive auf das Zusammenspiel ist meist dadurch festgelegt, ob man das jeweilige Medium eher als Textmedium oder als Bildmedium wahrnimmt. So illustrieren in unserer Diktion die Bilder den Text einer Handschrift, und begleitende Inschriften rahmen oder ergänzen die Bilder in der Wandmalerei, auf Tafeln oder Werken der Metallkunst: Etwas textlich Vorgängiges wird (zusätzlich) verbildlicht; in etwas bildlich Vorgängiges wird (zusätzlich) geschrieben. Es gibt natürlich berechtigte Argumentationen für eine solche Sicht, allerdings wird so der Blick darauf behindert, dass Bild und Schrift in den zu untersuchenden konkreten Fällen eine dort zusammengehörige Komposition bilden; ein Medienhybrid, in welchem ein Element eben nicht als „Zusätzliches“, sondern als ein grundsätzlich Inhärentes zu verstehen ist.Helga Giersiepen formulierte im Kontext des „Zusammenwirkens von Text und Bild am Beispiel rhein-maasländischer Reliquienschreine“, dass jenseits einer Bewertung des gregorianischen Diktums der Bilder als litteratura illiterato
die Frage zu stellen ist, welche Aufgabe Inschriften auf Kunstwerken erfüllen und in welchem Verhältnis Bild und Text stehen. Allerdings geht es Giersiepen vor allem um die jeweilige Fakultät der beiden Medien, „Informationen“ und „Erklärungen“ zu vermitteln. Ihr Fazit: Während der Text bzw. das Wort Letzteres eher vermag als das Bild, sei dieses eher in der Lage, Emotionen hervorzurufen und kommemorative Funktionen zu erfüllen. Hier werden den Medien dezidiert verschiedene Funktionen zugeschrieben, die sie getrennt voneinander erfüllen. Ihr mediales Zusammenspiel würde nach einem solchem Konzept eher in einem gegenseitigen Kompensieren von Defiziten bestehen als in einem tatsächlichen gemeinsamen Wirken oder einer Bedeutungsherstellung im Verbund. Joachim Wollasch untersuchte dagegen bereits 1980 am Beispiel der Goldenen Altartafel von Basel, wie „ikonographischer und epigraphischer Befund zusammenwirken.“ Er konnte zeigen, dass sich das BENEDICTUS der Widmungsinschrift (QVIS SICVT HEL FORTIS MEDICVS SOTER BENEDICTVS) im Kontext der gesamten Inschrift als Adjektiv auf Christus, in der Bild-Text-Beziehung allerdings zugleich auf den Hl. Benedikt bezieht, der im Bild zur Rechten Christi steht. Die Christusnachfolge Benedikts wird so im Zusammenspiel von Bild und Inschrift in unikaler Weise spezifiziert. Ein solches semantisches Element kann eben gerade nur im gleichberechtigten Verbund von Bild und Schrift gestiftet werden.Intermedialität – Konmedialität
Betrachtet man die multiplen Schriftsysteme des Klosterneuburger Goldschmiedewerks, so könnte heute trotz ihrer prominenten Stellung und ihres verhältnismäßig hohen Anteils der Eindruck entstehen, sie seien in ihrer Struktur den Bildern in jeder Beziehung nachgeordnet. Der inhaltlichen Information der Schrift ist vergleichsweise leicht nachzugehen: Wie in anderen Fällen auch transkribiert man die Inschriften, übersetzt sie, sucht nach ihren Quellen und klärt Zusammenhänge zur Entstehung des Werkes bzw. bestimmt den inhaltlichen Bezug zu den Bildern. Für das Bild-Schriftsystem eines aus beiden Medien zusammengesetzten Werkes ist jedoch darüber hinaus entscheidend, wie sie im Layout verbunden sind und wie sie gegenseitige Referenzen bilden. Aus dem alleinigen Verstehen des Inhaltes des Textes geht dies nicht hervor. Die Schrift auf einem Bildmedium ist keine Stimme aus dem Off, die sich gleichsam in einem Layer simultan über die Bilder legt. Sie nimmt Positionen innerhalb einer Konstellation ein, in der wesentlich ist, wie sich Details des Bildsystems zu Details des Schriftsystems verhalten, oder sogar genauer, wie sich Details des Bild- oder Schriftsystems zum gesamten System verhalten, also auch Schrift zu Schrift. Daher wird hier nicht der Begriff Intermedialität verwendet, da er sich streng genommen auf Beziehungen zwischen den Medien bezieht und nicht speziell auf ein Medienhybrid, in dem mehrere Medien auf einer Anschauungsebene zusammen Bedeutung und Wirkung entfalten. Treffender wäre für dieses Phänomen der Begriff der Konmedialität, der hier für eine genauere Erfassung des intermedialen Phänomens vorgeschlagen wird.
Bisher sind die eine solche Konmedialität betreffenden Untersuchungen in systematischer Form, soweit ich das sehen kann, für Goldschmiedewerke des Hochmittelalters wenig berücksichtigt worden, obwohl das Phänomen der Medienhybride aus Schrift und Bild nicht nur in der Metallkunst, sondern auch in der Bauplastik eine erhebliche Rolle spielt.Dies hat Markus Späth jüngst in seiner Studie am Beispiel der aus dem 12. Jahrhundert stammenden Westfassade von San Clemente a Cesauria gezeigt.
Die Verwendung von Schrift ähnelt sich trotz der völlig unterschiedlichen Materialität, Monumentalität und Funktionen in beiden Gattungen: „[Das Repertoire] reichte von Beischriften, welche dargestellte Personen, Gegenstände oder den Ort der Bildhandlung benennen, über metrische Titel für einzelne Bildfelder bis hin zu umfassenden Dedikations- oder Weiheinschriften, welche teilweise keinen direkten Bezug zur Bildlichkeit besaßen.“ Eine ähnliche Komplexität gilt auch für das Werk in Klosterneuburg, auch wenn die erstgenannte Kategorie für die großen Bildfelder fehlt und die eigentlichen Bildtituli unter den Feldern selbst nicht metrisch verfasst sind, dafür kommen die metrischen, das Bogenfeld umlaufenden exegetischen Erläuterungen hinzu. Späth bezeichnet das „Zusammenspiel von Bild und Schrift“ , die „gemeinsam oder parallel zueinander die symbolische Aufladung des Kirchenportals als Schwelle zum Paradies [forcierten]“ als „intermediale Verflechtung“. Er fokussiert nicht nur die Disposition der Schrift, sondern formuliert zudem das Desiderat, die ästhetischen Qualitäten der Schrift grundsätzlich zu berücksichtigen. Auch für die Art des Zusammenspiels der Medien, die er herausstellt, wäre meiner Meinung nach der Begriff einer Konmedialität treffender und genauer als der für viele Phänomene des Zusammenhangs zwischen verschiedenen Medien verwendete Begriff Intermedialität.Bild-Schrift-System am Ambo: Das Reimen der Reime
Das Klosterneuburger Goldschmiedewerk ist ein in mehrfacher Beziehung geeignetes Untersuchungsobjekt für die genannte Fragestellung. Es vereint nicht nur mehrere Schriftsysteme innerhalb eines Werkes, sondern bietet aufgrund seines Umbaus zum Altarretabel (bzw. seines Reframings innerhalb eines klappbaren Triptychons) Gelegenheit, in zwei unterschiedlichen Layouts die semantischen Entscheidungen für Links innerhalb der Schrift selbst oder für Links zwischen Bild und Schrift in besonderer Weise beobachtbar zu machen.
Der heutige Bestand ist das Resultat der Restaurierung und des Reframings von der Mitte des 20. Jahrhunderts, als das Goldschmiedewerk von seinem 1331 entstandenen Träger und damit auch von den auf die Rückseite dieses Trägers aufgebrachten Malereien getrennt und auf ein neues Triptychon montiert wurde. Er entspricht weitgehend der spätmittelalterlichen Montage der Kupfer- und Emailplaques und damit auch dem „Schriftsatz“ von 1331, da der neue Holzträger die Struktur der inneren Seite des alten Triptychons aufnimmt, allerdings ohne Berücksichtigung von dessen Rahmung, die bei dem alten Träger mit den Malereien verblieb.(Titelbild). Diese Autoreflexion ist sehr subtil und differenziert gehalten: Der Buchstabe ist nicht wie in den Inschriftenplaques aus Email, sondern umgekehrt ein vergoldeter Kupfersteg, der in dem (den Giebel des Hauses bezeichnenden) ausgegrabenen Feld für das Email stehen gelassen wurde. Das Email des Hausgiebels selbst ist gekörntes, sogenanntes Granitemail, das Granit oder Marmor imitiert. Die Inversion wird besonders deutlich, weil in der umgebenen Inschrift auf dem Dreipassbogen drei emaillierte T- Buchstaben erscheinen.
Im Wesentlichen sind fünf Schriftsysteme zu verzeichnen. Neben der Widmungsinschrift, deren vier Zeilen jeweils horizontal über die ganze Breite des Werks verlaufen und die drei typologischen Bildregister rahmen, sind dies zum Einen die Bildtituli direkt unter den narrativen Emails sowie zum anderen die eben diese Felder auf den Seiten und über den Dreipassbogen umlaufenden Bildumschriften. Hinzu kommen die auf jeder Tafel rechts und links die Register bezeichnenden vertikal gesetzten Schriften ANTE LEGEM, SUB GRATIA, SVB LEGE als viertes und gelegentlich gesetzte Inschriften innerhalb von Bildfeldern (z.B. auf Spruchbändern) als fünftes System. Sowohl die Widmungsinschrift mit der ausführlichen theologischen Erklärung des typologischen Systems als auch die Bildumschriften sind eigens für das Werk in leoninischen Hexametern verfasst worden. Die meisten Platten mit Emailschrift stammen aus dem 12. Jahrhundert. Es handelt sich um einen für die Zeit als vor allem auch für die Kunstlandschaft höchst modernen Schrifttypus in der Form einer frühen gotischen Minuskel, auch wenn im Einzelnen der romanische Charakter noch erkennbar ist. Bis auf Inschriften innerhalb der narrativen Bildplatten wurden alle Inschriften emailliert und nicht aufgemalt. Ersteres wird im oberen Register mit dem Tau-Maler reflektiert, der im Bild mit der Tötung der erstgeborenen Söhne Ägyptens das schützende Tau als ein der Form der Inschriften entsprechendes T auf die Wand maltDie Ergänzungen des 14. Jahrhunderts mit dem Umbau zum Altarretabel betreffen im Wesentlichen einmal eine Verlängerung der Widmungsinschrift, u.a. mit der Nennung des Probstes Stephan von Sierndorf als Auftraggeber des Umbaus, zum anderen die Bildtituli und Umschriften der sechs hinzugefügten narrativen Emails rechts und links der Achse mit der Kreuzigung (Abb. 3). Die Ergänzungen waren notwendig, um die Maße der mittleren Tafel so zu erweitern, dass sie genauso breit war wie die beiden zu Flügeln eines Triptychons umdefinierten äußeren Tafeln. Zwischen dem Abendmahl und der Kreuzigung fügte man den Judasverrat samt zwei Präfigurationen ein, zwischen Kreuzigung und Grablegung die Kreuzabnahme. In der Verkleidung des Ambo lagen im Zentrum des Bildprogramms entsprechend die Bildfelder des Abendmahls, der Kreuzigung und der Grablegung (samt ihrer Präfigurationen ante legem und sub lege) nebeneinander (Abb. 4).
Diese insgesamt neun Szenen zeichnete aus, dass sie ein dichtes eucharistisches Programm formierten, wie an anderer Stelle bereits ausführlich behandelt.
In diesem Kernbereich beschränken sich die Bezüge nicht nur auf die Typologie der vertikal gesetzten Szenen, sondern bilden darüber hinaus zahlreiche Querverweise zwischen den Achsen, zum Beispiel zwischen Aaron, der das Manna in die Bundeslade einbringt, und Nikodemus, der an der Grablegung Christi beteiligt ist (Abb. 3, erste Vertikale unten sowie dritte Vertikale Mitte). Nicht nur ist die Bundeslade einem Sarkophag nachempfunden, darüber hinaus sind die Figuren des Aaron und des Nikodemus, der die Beine Christi hält, verähnlicht. Der semantische Konnex ist eucharistischer Art: Das Manna präfiguriert die eucharistische Speise, seine Aufbewahrung bzw. Einbringung in das Allerheiligste des Judentums präfiguriert die inzwischen notwendig gewordene besondere Verwahrung der konsekrierten Hostie, des Herrenleibes, nach der Messe. Die Entstehung des Goldschmiedewerks fällt in die Zeit nach dem zweiten Eucharistiestreit, als das auf dem Laterankonzil von 1215 festgeschriebene Konzept der Transsubstantiation als Reaktion auf Berengar von Tours’ Bestreitung der Gegenwart Christi im Altarsakrament entwickelt worden war. Die mittleren neun Szenen in ihrem eucharistischem Zusammenhang, die beispielsweise den Priesterkönig Melchisedech im Register ante legem wie einen Priester vor einem zeitgenössischen christlichen Altar zeigen (Abb. 4, erste Vertikale oben), sind auch durch die Angleichung ihrer Bildtituli im mittleren Register mit Abendmahl, Kreuzigung und Grablegung verlinkt: CENA DOMINI, PASSIO DOMINI, SEPULCRUM DOMINI (Abb. 4, mittleres Register). Für die Bildtituli der entsprechenden Präfigurationen sub lege gilt eine ähnliche Angleichung, die sehr deutlich auf „Verwahrung“ in einem Gefäß deutet: MANNA IN VRNA AVREA, BOTRVS IN VECTE, IOSEPH IN LACV (Abb. 4, unteres Register). Dies ist nur ein Beispiel (wenn auch ein zentrales) dafür, wie die Schrift- bzw. die Textsysteme der Amboverkleidung an der inneren semantischen Ordnung beteiligt waren.Während die Schriftsysteme der Bildtituli und Umschriften im Wesentlichen nur im Zentrum im Bereich der Ergänzungen durch den Umbau zum Retabel betroffen sind, ändert sich das Verhältnis der in leoninischen Hexametern verfassten Widmungsinschrift zu der ganzen Struktur fundamental. Sie lautete 1181:
QVALITER [A]ETATVM SACRA CONSONA SINT PERARATVM *
CERNIS IN HOC OPERE MVNDI PRIMORDIA QV[A]ERE *
LIMITE SVB PRIMO SVNT VMBR[A]E LEGIS IN IMO *
INTER VTRVMQVE SITVM DAT TEMPVS GRACIA TRITVM
QV[A]E PRIVS OBSCVRA VATES CECINERE FIGVRA *
ESSE DEDIT PVRA NOVA FACTORIS GENITVRA*
VIM PER DIVINAM VENIENS REPARARE RVINAM *
QV[A]E PER SERPENTEM DEIECIT VTRVMQVE PARENTEM *
SI PENSAS IVSTE LEGIS MANDATA VETVST[A]E *
OSTENTATA FORIS RETINENT NIL P[A]ENE DECORIS
VNDE PATET VERE QVIA LEGIS FORMA FVERE *
QVAM TRIBVIT MVNDO PIETAS DIVINA SECVNDO.*
ANNO MILLENO CENTENO SEPTVAGENO *
NEC NON VNDENO GWERNHERVS CORDE SERENO *
SEXTVS PREPOSITVS TIBI VIRGO MARIA DICAVIT
QVOD NICOLAVS OPVS VIRDVNENSIS FABRICAVIT*
1331 wurde hinzugefügt:
CHRISTO MILLENO T[RE]CENTO VIGENO [UNDE]NO * P[RAE]POSIT[US] STEPHAN[US] DE SYRENDORF GENERAT[US] * HOC OP[US] AURATUM TULIT HUC TABULIS RENOVATUM * AB CRUCIS ALTARI DE STRUCTURA TABULARI * QU(A)E PRIUS ANNEXA FUIT AMBONIQUE REFLEXA.
Die von der Autorin durchgeführte virtuelle Rekonstruktion zeigt (Abb. 5), dass die Inschrift, deren leoninische Hexameter seit dem Umbau zum Altarretabel mit Umbrüchen innerhalb von Versen und sogar Wörtern über vier Zeilen in unregelmäßiger Form verlaufen, im ursprünglichen Zustand in sauber neben- und untereinander aufgeführten Versen gesetzt war. Auf den schmaleren Tafeln mit je vier Bildvertikalen nahm jede der vier Zeilen einen ganzen Vers auf, auf der breiteren, mittleren Tafel waren auf jede Zeile zwei Verse verteilt. Alle Reimwörter (Binnen- und Endreime, nicht die jeweiligen Reimpaare) standen somit in vertikalen Achsen (Abb. 6a). Seit dem Umbau steht die Widmungsinschrift nur noch in der obersten Zeile bis zum Bildfeld mit Melchisedech als Priesterkönig auf der mittleren Tafel (vgl. Abb. 2 und 5) an der ursprünglichen Stelle (d.h. im Verhältnis zu den Bildfeldern). Danach verschiebt sich in jeder Zeile die Schrift jeweils um die Breite der beiden zugefügten Achsen, womit am Ende der letzten Zeile, unterhalb des Registers mit den Präfigurationen sub lege, so viel Raum war für die Verlängerung der Widmungsinschrift, wie es der Breite der insgesamt sechs hinzugefügten narrativen Platten entsprach. Man verfuhr nach einem einfachen System: Die Schriftplatten wurden wie im alten System in vier Zeilen über die volle Breite des Werkes geführt. Am Ende jeder Zeile und vor jeder Tafelzäsur wurden die Schriftplatten des 12. Jahrhunderts passend abgeschnitten
und der Rest am Zeilenanfang der angrenzenden Tafel bzw. links in der neuen Zeile angebracht, selbst wenn hierdurch Wörter zerschnitten wurden. Auch die Zäsuren zwischen den Tafeln trennen nun die Verse und sogar die Wörter – dies gilt zum Teil auch für die Reimwörter (Abb. 6b).Die virtuelle Rekonstruktion macht deutlich, dass der Text im Originalzustand zum Einen wesentlich besser lesbar war und zum Anderen die Wahrnehmung des Textes als regelmäßige Versdichtung nicht erst im Lesevorgang nachvollziehbar war, sondern in der Struktur des Werks unmittelbar ikonisch nachvollzogen werden konnte. Zudem ist nach jedem vierten Vers, also ursprünglich am Ende der Schriftzeilen auf der rechten Tafel, der Text syntaktisch wie inhaltlich abgeschlossen, was nicht für alle Verse gilt. Dies kam der Rezeption am Ambo entgegen: Um die gesamte Inschrift lesen zu können, musste man vier Mal von links nach rechts die drei Seiten abschreiten. Wenn man nach der Lektüre einer ganzen Zeile wieder zur linken Seite zurückging, begann dort ein neuer inhaltlicher und syntaktischer Abschnitt.
Von erheblicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang ein Umstand, auf den bereits Buschhausen hingewiesen hat: “Was die Inschrift […] von den zeitgleichen und etwas älteren Inschriften der fraglichen Kunstlandschaft deutlich abhebt, ist der Wille des Künstlers, die Schriftzeile wirklich zu gestalten. Die Inschrift ist nicht mehr eine Ansammlung von Buchstaben, sondern sie ist nach festen ästhetischen Vorstellungen graphisch geformtes Schriftband: Die Abstände der Buchstaben folgen rhythmischen Gesetzen und stehen, besonders in der Stifterinschrift in ästhetisch ausgewogenem Verhältnis zu der Leerfläche des Inschriftbandes.”
Diese von Buschhausen konstatierte ästhetische Ordnung der Schriftzeile spielt mit der Ordnung durch Verse und Reime zusammen. Wichtig ist, dass in der Widmungsinschrift für das typologische Verhältnis der sacra, der heiligen Dinge, gleich im ersten Hexameter das Attribut consona verwendet wird (Abb. 7, obere Schriftzeile): QVALITER [A]ETATVM SACRA CONSONA SINT PERARATVM. Consonantia war ein im Mittelalter gebräuchlicher Begriff für den Reim, das heißt, Präfiguration und Antitypus werden hier als sich „reimend“ (zusammen stimmend, zusammen klingend) klassifiziert. Die Reimwörter der Zeile für Zeile abgeschlossenen und regelmäßig neben- und untereinanderstehenden leoninischen Hexameter machen selbst im digitalen Surrogat der virtuellen Rekonstruktion unmittelbar sinnfällig, dass die Widmungsinschrift nicht etwa nur in inhaltlicher Hinsicht die typologische Ordnung der Bilder in den drei Registern als Reimstruktur (consona) klassifizierte, sondern selbst an der ordnenden Reimstruktur des ganzen Werks beteiligt war. Die zusammengehörigen Reime der einzelnen Verse standen zwar notwendigerweise horizontal zueinander, die insgesamt 32 Reimwörter der Verse stehen jedoch wie die bildlichen typologischen „Reime“ in 8 vertikalen Achsen (Abb. 6a). Sie reimen sich zwar nicht innerhalb dieser Achsen, sind aber die strukturierenden Reimwörter im ganzen System.
Es handelt sich fast durchweg um starke Reime mit zwei reimenden Silben. Manche Reimwörter haben in visueller Hinsicht mehr Entsprechungen als im gesprochenen Wort, so wie VERE und FVERE aufgrund der identischen Schreibung des Konsonanten „V“ und des Vokals „U“ (Abb. 8, dritte Zeile rechts), was den ikonischen Wert der Schrift und ihre Verbindung zum visuellen Reim der typologischen Bilder markiert (und vermutlich auch markieren soll). Mehr noch: Die Reimwörter selbst sind, wie zu zeigen sein wird, in zahlreichen Fällen Schlüsselbegriffe für den Aufbau und die Semantik des Werkes. Dies beginnt ebenfalls gleich mit dem ersten Vers mit aetatum/peraratum (Abb. 7, obere Zeile). Dieses Paar bildet den schon genannten selbstreflexiven bildtheoretischen Aspekt, wenn die im Werk in Registern gereimte Ordnung der Zeitalter (ante legem, sub lege, sub gratia) als „eingegraben“ (peraratum) bezeichnet und so mit der Technik des Grubenschmelzes in Zusammenhang gebracht wird, d.h. den Eingrabungen der späteren Emailfelder in das Kupfer.
Ähnlich ist der Reim situm/tritum im vierten Hexameter der Widmungsinschrift auf dem rechten Flügel zu lesen (Abb. 9, obere Zeile). Der Vers lautet: INTER VTRVMQVE SITVM DAT TEMPVS GRACIA TRITVM. Das zwischen die beiden (anderen Zeitalter ante legem und sub lege) Gesetzte gibt durch die Gnade das tempus tritum. Man hat bisher übersetzt: „die noch geläufige Zeit“, doch der Terminus Tritus bezeichnete in der Musik vom 6.-16. Jahrhundert eine Ziffer 3 im tonalen Ordnungsprinzip der Kirchentonarten, der acht modi, die insbesondere für den Gregorianischen Gesang eine große Rolle spielen. Nach Guido von Arezzo gibt es vier authentische und vier abgeleitete Tonarten, er führt vier Bereiche mit aufzählenden Termini ein (Protus, Deuterus, Tritus und Tetrardus) und unterscheidet dann noch einmal für jeden Bereich nach authenticus und plagialis. Der Terminus tritum könnte im Klosterneuburger Goldschmiedewerk nicht nur gewählt sein, weil tempus tritum „die dritte Zeit“ bezeichnen kann und sich tritum im Gegensatz zu tertium auf situm reimt, sondern weil so eine Analogie hergestellt wird zu einem weiteren medialen Ordnungssystem, dem der Musik. Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, die Verwendung des tritum in der Bedeutung der Zahl drei zu erklären. Die Zäsur in diesem Hexameter ist ein κατὰ τρίτον τροχαῖον (kata triton trochäus, „nach dem dritten Trochäus“) , die Zäsur also zwischen den beiden Kürzen des dritten Daktylus , d.h. hinter dem (imaginären) dritten Trochäus. Diese Zäsur ist im Hexameter ungewöhnlicher als die Penthimimeres („fünf halbe Teile“), die den Vers nach fünf halben Versfüßen, also im dritten Versfuß nach der Hebung teilt. Den möglichen Implikationen kann hier nicht ausführlich nachgegangen werden, hier sollte nur deutlich gemacht werden, dass tritum tempus als „dritte Zeit“ übersetzt werden muss und dass hier ein Begriff gewählt worden ist, der für die inhaltliche Sprache von Dichtung ungewöhnlich und in Musiktheorie (lateinisch tritus statt tertius) und Verslehre (griechisches Zählwort triton als direkte Vorform von tritum) gebräuchlich ist.
In der gregorianischen Musik gilt das Ideal der similitudo dissimilis, des „Zusammenstimmens von Verschiedenem“, das sich für die mittelalterliche Musiktheorie nicht nur auf die Polyphonie, sondern auch auf das „Zusammenstimmen“ von Musik und Text des Gesangs beziehen lässt.Abb. 6a) in den Bildachsen als ein Zusammenklingen von Bild und Schrift im Sinne der similitudine dissimilis verstehen. Das Besondere des Werkes von 1181 war eine Metastruktur, in der sich gleichsam das Reimen der Schrift in den Hexametern mit dem Reimen der Bilder auf den Bildachsen ‚reimte‘: Genau diese Metastruktur ist seit dem Umbau im 14. Jahrhundert nicht mehr als mediale Qualität vorhanden.
Auf unser Werk übertragen könnte dies heißen, dass es durchaus ein Bewusstsein dafür gegeben haben kann, dass die in der Widmungsinschrift angesprochenen strukturellen Analogien zwischen dem „Zusammenstimmen“ von gesprochenen oder geschriebenen Reimen einerseits und dem „Zusammenstimmen“ von typologischen Narrativen andererseits auch auf ein Zusammenstimmen von Bild und Schrift übertragbar waren. Zwar unterscheiden sich Musik-Text-Verhältnisse und Bild-Schrift-Verhältnisse grundsätzlich dadurch, dass ein Bild im Gegensatz zur Musik narrative Inhalte mimetisch erkennbar darstellen kann. Insofern macht es keinen Sinn, beispielsweise den im Bild dargestellten und den in der Schrift genannten Moses als similitudo dissimilis zu fassen. Es geht gerade nicht um zeichenhafte inhaltliche Entsprechungen, um bildlich-textliche Synonyme, sondern um ein „Zusammenklingen“, das über eben diese Funktion in semantischer Hinsicht hinausgeht. Weiterhin könnte man das Zusammenspiel der vertikalen Ordnung der Reime der Widmungsinschrift und der vertikalen typologischen „Reime“ (Im nächsten Vers fungieren die zentralen programmatischen Begriffe des typologischen Systems als Reimwörter (obscura/figura): QV[A]E PRIVS OBSCVRA VATES CECINERE FIGVRA (Abb. 7, zweite Zeile). Die von den Propheten verkündeten „dunklen Bilder“ sind die Präfigurationen, die sich im Evangelium erfüllen. Der Doppelbegriff der obscura figura ist so essentiell, dass er sich in der Bildumschrift des Einsetzens des Manna in die Bundeslade durch Aaron (Abb. 10) als Präfiguration des Abendmahls noch einmal im Reim wiederholt: MAN NOTAT OBSCURA CLAVSVM TE CHRISTE FIGVRA: „Das Manna bezeichnet Dich, Christus, eingeschlossen in dunkler Figur“, oder auch „Das eingeschlossene Manna bezeichnet Dich, Christus, in dunkler Figur“. Die Doppeldeutigkeit ist meines Erachtens Programm. Ich habe dies an anderer Stelle bereits diskutiert, ebenso wie den Umstand, dass die Bundeslade als urna aurea eventuell auf das vergoldete Werk selbst hinweist, in dem im Grubenschmelz Emailbilder „eingeschlossen“ sind und als Schattenbilder auf Christus verweisen.
Auch der nächste Vers der Widmungsinschrift, der sich dadurch auszeichnet, dass seine Reimsilben den Reim obscura/figura fortführen, scheint in seinem Reimpaar die Heilsgeschichte mit dem „Machen“ des Kunstwerkes zu überblenden: ESSE DEDIT PVRA NOVA FACTORIS GENITVRA (Was die Propheten in dunklen Bildern ankündigten machte klar die neue Zeugung des Schöpfers, Abb. 8, zweite Zeile links). Auf der Ebene der Heilszeit ist die neue Zeugung des Schöpfers die Inkarnation des Logos, auf der Ebene des Kunstwerkes könnte man lesen: „Was die Propheten in dunklen Bildern ankündigten, machte klar das neue Werk des Künstlers (Nikolaus)“.
Pura bezeichnete ja nicht zufällig die Reinheit von Edelmetall, und bildet ebenso wenig zufällig mit der „Zeugung“ bzw. dem „Werk“ (genitura) hier den Reim.Auch das Reimpaar FORIS/DECORIS am Ende des 10. Verses auf der mittleren Tafel (Abb. 8, dritte Zeile), welches den Schmuck oder die Schönheit des Evangeliums bezeichnet, könnte im Kontext der autoreflexiven Verweise gleichzeitig auf das vergoldete Emailwerk (den äußeren Schmuck) am Ambo selbst zu deuten. Im letzten Reimpaar schließlich, das zwei Verse ohne Binnenreime und damit auch die mittlere und die rechte Tafel überspannt, werden die Auftraggeberschaft des Probstes Wernher (bzw. die Widmung des Werkes an Maria) und das „Machen“ des Künstlers zusammengefasst: DICAVIT/FABRICAVIT (Abb. 8 und 9, jeweils untere Zeile).
SEXTVS PREPOSITVS TIBI VIRGO MARIA DICAVIT
QVOD NICOLAVS OPVS VIRDVNENSIS FABRICAVIT*
Das strukturelle Verhältnis des Schriftsystems mit dem Widmungstext und des typologischen Bildsystems lässt sich wie folgt zusammenfassen. Vier horizontale Bänder mit je vier leoninischen Hexametern (und der entsprechenden Reimstruktur mit acht Reimen pro Zeile) bilden die Begrenzung (limite, Abb. 9, obere Zeile) für drei Bildregister, deren horizontale Ordnung an der Chronologie der Christusvita orientiert ist. Die vertikale Ordnung der Bilder ist registerübergreifend typologisch definiert; innerhalb der vertikalen Achsen reimen sich Antitypus und Präfigurationen, d.h. die Bilder in den Achsen stehen in einem Verhältnis des Reimes (CONSONA). Diese vertikale Reimstruktur findet ihre Analogie in den vertikalen Achsen der gesamten Reimwörter der Inschrift. Es fällt auf, dass Sorgfalt darauf verwendet wurde, nicht nur die Endreime, sondern ebenfalls die Binnenreime in einer solchen Achse zu positionieren (Abb. 6a). Auch die Verwendung der Reimwörter als Schlüsselwörter für das Verständnis, die Semantik und Funktion des Widmungstextes kann man in Analogie zum Bildsystem sehen, auch wenn dieses Referenzsystem horizontal zu erschließen ist. Im typologischen System ergibt sich die Bedeutung eines Bildes nicht durch es selbst, sondern in den Verbindungen, d.h. den links mit den Präfigurationen bzw. mit dem Antitypus (je nach Perspektive: man kann das Abendmahl mithilfe der Verwahrung des Manna deuten oder umgekehrt). Das heißt, dass die Bedeutung der Bilder und damit ihre Exegese nicht im Einzelbild zu finden ist, sondern in dem typologischen „Reim“ von mehreren Bildern liegt. Dies bildet die Inschrift quasi nach, wenn ihre Bedeutung und vor allem die wiederholte doppelte semantische Besetzung der Begriffe – gleichzeitig auf die Struktur des Heilsplans und auf die Struktur des Kunstwerkes bezogen – vor allem mit den Reimwörtern erfasst ist. Eine solche assistierende Strukturierung des Gesamtprogramms durch die Inschrift lässt sich bei vorgängigen Werken nur ansatzweise feststellen.
Bild-Schrift-System am Ambo: Widmungsinschrift und Bildinhalte
Einen weiteren Befund gibt es, wenn man im Layout nach inhaltlichen Verbindungen zwischen der Schrift und dem Bild sucht. Der Plural von primordium steht auch heute noch in der ersten Zeile der Widmungsinschrift genau über dem Feld mit dem Priesterkönig Melchisedech (Abb. 11, Abb. 8, obere Zeile), weil sie hier noch nicht verschoben ist. Nach christlichem Verständnis ist Christus ein Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks (Hebr 5, 6), und Melchisedech ist gleichzeitig der erste in der Bibel genannte Priester überhaupt. In der Widmungsinschrift ist das PRIMORDIA der vom Wortstamm her dem PRIMO im dritten Vers angeglichen (Abb. 8, obere Zeile rechts):
CERNIS IN HOC OPERE MVNDI PRIMORDIA QV[A]ERE *
LIMITE SVB PRIMO SVNT VMBR[A]E LEGIS IN IMO
Die „Anfänge“ der Welt suche in der „ersten“ Zone des Bildes, eben der Zone, in der Melchisedech dargestellt ist, der sich als PRIMO, als erster Priester in der Bild-Schrift-Disposition wiederum seinerseits mit dem PRIMORDIA verbindet. Im Buch Genesis (Gen. 14, 18) der Vulgata wird Melchisedech als rex und sacerdos ausgewiesen – in der Bildumschrift wird der Begriff praesul verwendet, mit der zu dieser Zeit die Vorsteher christlicher Gemeinschaften, z.B. Bischöfe, aber häufig auch Äbte, bezeichnet werden.
Das Wort PRESVL befindet sich darüber hinaus genau im Scheitel des Kleeblattbogens unter dem PRIMORDIA. So ist nicht nur über das Bild selbst mit der Darstellung eines zeitgenössischen Altars samt Ausstattung eine Verbindung zu der Liturgie im Stift hergestellt, sondern überdies mit dem verwendeten praesul der (in der Inschrift im vorletzten Vers genannte) Propst (WERNHERVS PREPOSITVS) in das Referenzsystem mit einbezogen: Melchisedech präfiguriert Christus, der Propst ist auch innerhalb dieser „Priesterordnung“ Nachfolger Christi (und damit auch Melchisedechs).Dass das Ende des siebten Verses (reparare ruinam), welches sich auf die die Sünde der Stammeltern überwindende Heilstat Christi bezieht, genau oberhalb der Szene der Vorhölle beginnt, in der Christus Adam und Eva aus eben dieser befreit, ist eine weitere dipositorisch angelegte Option, Widmungsinschrift und Bild konmedial sprechen zu lassen und bestimmte Aspekte hervorzuheben (Abb. 12 und 8, zweite Zeile rechts):
VIM PER DIVINAM VENIENS REPARARE RVINAM
QV[A]E PER SERPENTEM DEIECIT VTRVMQVE PARENTEM.
Das reparare war im Werk von 1181 durch Redundanz besonders betont: Gleich die erste christologische Szene trug die Umschrift: EX TE NASCETVR QUO LAPSVS HOMO REPARATVR – und nicht REDIMETVR, wie im 19. Jahrhundert falsch ergänzt wurde (Abb. 13).
Betrachtet man darüber hinaus die Darstellung der Arche Noah im ersten Register der ursprünglich 12. Achse im Vergleich mit früheren oder zeitgleichen Darstellungen, so fallen zwei ungewöhnliche Umstände auf (Abb. 14, Abb. 9, zweite Vertikale oben). Zwar ist die Darstellung der Arche als Haus mit Giebeldach durchaus verbreitet, im Fall des Klosterneuburger Goldschmiedewerks fehlt jedoch der sonst verbreitete schiffsförmige Unterbau völlig. Zudem stellt Nikolaus die Arche perspektivisch so dar, dass sowohl eine Längsseite als auch eine Stirnseite sichtbar werden. Es mag somit nicht nur an der Vergoldung liegen, dass die Arche an einen Dachschrein der Goldschmiedekunst erinnert. Überhaupt ist auffällig, wie differenziert und aufwändig diese Mikroarchitektur und ihr „Gebautsein“ gestaltet sind. Wie die Stiftshütte und der Templum Salomonis galt die Arche Noah als Präfiguration des christlichen Kirchengebäudes, und der Erschaffer dieses Artefaktes als Vorgänger der Architekten oder Künstler der zur Ehre Gottes geschaffenen Werke. Exakt unter der entsprechenden Achse stand in der letzten Zeile der Widmungsinschrift das Wort OPVS (Abb. 9), welches auf das referiert, dessen Teil es als Inschriftenplaque zugleich ist: OPVS NIKOLAUS VIRDUNENSIS. Die Verkleidung des Ambo ist das Werk des Nikolaus wie die Arche das Werk des Noah ist; beide Werke sind auch durch die Register der Bogenfelder (der Arche Noah und des gesamten Goldschmiedewerks) einander angeglichen. Anders gesagt: Nikolaus bringt sich als christliche Postfiguration des Noah ins Spiel, so wie in den zwei vorangehenden Versen der Propst Wernher genannt und mit dem praesul Melchisedech über die Wortwahl in der Bildumschrift in eine typologische Verbindung gebracht wird, wie oben ausgeführt.
Es sei noch eine weitere mögliche typologische Referenz von Bild und Schrift erwähnt: Maria und Eva sind zwar beide auf dem Ambo dargestellt, Eva tritt aber im bildlichen Programm als Typus der Gottesmutter nicht in Erscheinung. Dafür stehen aber genau unterhalb der Eva der Vorhölle in der letzten Zeile der Widmungsinschrift die Worte VIRGO MARIA zur Bezeichnung der Dedikation des Werkes (Abb. 12).
Im Fall des Klosterneuburger Goldschmiedewerks handelt es sich um ein aus moderner Sicht semantisch überdeterminiertes Werk, das jedoch einem mittelalterlichen (grundsätzlich typologischen) christlichen Geschichtsverständnis insofern entspricht, als das in der Heilsgeschichte alles bedeutungsmäßig miteinander verzahnt ist. Im Einzelfall dieser Referenzen wird man vielleicht nicht immer eindeutig entscheiden können, ob es sich bei den Setzungen um Zufälle handelt oder nicht. Es kann in dieser Studie daher nur aus rezeptionsästhetischer Perspektive argumentiert werden, d.h., die genannten Sinnbezüge können nur bezüglich ihres zeitgenössischen Potenzials der Bedeutungsstiftung evaluiert werden. Es dürfte aber deutlich geworden sein, dass das Werk mit der originalen Setzung der Widmungsinschrift geradezu dazu einlud, typologische Referenzen zu suchen, die über das einfache Dreierschema der Register hinausgehen.
Bild-Schrift-System am Ambo: Die Bildumschriften
Für die Umschriften der bildlichen Narrative gilt die gleiche ästhetische Ordnung der “wirklichen Schriftzeile”, wie sie Buschhausen definiert hat. (Abb. 15) sind es vor allem die Haarstriche der unteren Begrenzung der Buchstaben, die die Rundung des Bogens exakt nachformen. Hier ist mit dem kompakten Wort MARIS/Meer nahezu das Segment eines Kreisrings gebildet, das auf die Kreisringe des von oben gezeigten Ehernen Meeres im Bildfeld antwortet. Die ikonische Valenz der Inschriften, die Verteilung der Buchstaben und ihre formale Schreibweise wird so über den Inhalt des Textes hinaus für Sinnstiftungen aktiviert. Der Text der Umschriften der einzelnen Bildfelder bezieht sich natürlich inhaltlich direkt auf die von ihm gerahmten Bildfelder, die Reimformen und die schriftliche Ausgestaltung übernehmen aber in verschiedenen Referenzsystemen sowohl inhaltliche als auch strukturelle weitere Funktionen.
Speziell zu den Umschriften bemerkte er zudem: “Außerordentlich geschickt folgt die Anordnung der Buchstaben der Bogenform der szenischen Emailtafeln, so daß, trotz des häufigen Wechsels der Ausrichtung der Buchstaben, der Verlauf der Inschrift einheitlich erscheint. Wiederholt werden die Haarstriche, welche als Zierelement die obere Grenze der Buchstaben markieren, zu einer langen, mehrere Buchstaben übergreifenden Linie zusammengefasst, welche nun genau der Bogenrundung der figürlichen Emailtafel folgt.” Dies gilt zum Beispiel für RVINA in der Geburt Samsons, dem EX IVDA zu den Segenssprüchen Jacobs und dem BONVM LEGE PNEUMATIS der Arche Noah. Beim MARIS im Scheitel des Bogens über dem Ehernen MeerErwähnt habe ich bereits die Wiederholung des Reimpaares obscura/figura aus der Widmungsinschrift in der Umschrift des Einbringens des Manna in die Bundeslade als sub lege – Präfiguration zum Abendmahl. Die Umschrift der Darstellung mit der Aussonderung des Osterlamms (Abb. 16, Abb. 8, zweite Vertikale unten) gehört wiederum zu denjenigen, die explizit auf das typologische Konzept rekurrieren (CHRISTI MACTANDVS IN FORMAM CLAUDITVR AGNUS / „Als Vorbild für Christus wird das zu schlachtende Lamm eingeschlossen“). Zum Teil fungieren die Umschriften sogar als typologische Leseanweisung, wie in der Präfiguration sub lege zur Kreuzigung (Abb. 8, mittlere Vertikale). Hier ist das Gleichnis mit der Traube auf der Stange dargestellt: VECTE CRVCIS LIGNVM BOTRO CHRISTI LEGE SIGNVM („In der Stange mit der Traube lies das Holz des Kreuzes Christi“). Ikonisch wird diese Analogie anders betont: Zwar ist die Stange wie der Kreuzesquerbalken horizontal geführt, aber die auffälligere Parallelisierung bilden der geschwungene Christuskörper und der Stiel der Traube. Das Bild beschreibt damit das eigentliche typologische Verhältnis: Erst durch die Parallele zwischen der Traube und dem Blut Christi, die noch dazu nicht nur auf das in der Kreuzigung genannte Opfer, sondern auf die Eucharistie weist, können „Kreuz“ und „Stange“ in einem typologischen Verhältnis stehen.
Die Umschrift der zentralen Kreuzigung (Abb. 17) VICTIMA MACTATVR QVA NOSTRA RVINA LEVATUR („Das Opfer wird geschlachtet, durch das unser Fall aufgehoben wird“) greift mit dem RVINA LEVATVR das RVINA GETHEIS (Untergang der Gethäer) aus der Geburt Samsons (Abb. 18) auf, wiederum mit Bezug auf die Widmungsinschrift: Deren siebter Vers formuliert: REPARARE RVINAM (Abb. 8, zweite Zeile rechts). Durch diese mehrfache Betonung des Untergangs und die doppelte Hervorhebung einer Aufhebung der Erbsünde im Heilsopfer Christi wird die ohnehin zentral gesetzte Kreuzigung auch mittels der Schrift fokussiert.
Die typologische Beziehung der Kreuzigung zur Präfiguration ante legem wird mit einer anderen Textstrategie ausgeführt: Die Umschrift zur Kreuzigung beginnt mit VICTIMA, die Inschrift zur Szene mit der Isaakopferung darüber (Abb. 19, 4) mit einem Verb des gleichen Wortstammes: VICTIMET VT CARAM PROLEM PATER APTAT AD ARAM („der Vater bereitet sich vor, den geliebten Sohn auf dem Altar zu opfern“). Die wortgleiche Formulierung einer Opferung des Nachkommens durch den Vater zielt genau auf den typologischen Bezug und betont die künftige Opferung des Gottessohnes im Antitypus. Die explizite Nennung des Altares (ad aram) und seine Darstellung im Bild des Isaakopfers wiederum referiert auf das ursprünglich links vom Isaakopfer positionierte Bildfeld mit dem am Altar stehenden Priesterkönig Melchisedech (Abb. 11, Abb. 4). Der im Bild dargestellte Altar mit zeitgenössisch-christlicher Ausstattung wird auch in der Umschrift genannt, wie im Isaakopfer als (Reim‑)Wort am Ende des Verses: VINVM CVM PANE PRESVL SACER INTVLIT ARE. Die Nennung des Altars am Ende des Verses war hier so wichtig, dass der Reim an sich vernachlässigt wurde (PANE – ARE). Damit ist auch im ersten Register eine enge Referenz zwischen den beiden „eucharistischen“ Achsen hergestellt, die in den Bildtituli des Registers sub gratia angeglichen werden (CENA DOMINI, PASSIO DOMINI).
Einerseits könnte man die gesamte semantische Besetzung des Werkes mithilfe von Schrift und Bild und die multiplen sich daraus ergebenden Referenzsysteme als sehr dicht bezeichnen. Andererseits ist die Herstellung solcher semantischer links nicht überall verfolgt worden, sie betreffen nur ganz gezielt die genannten Schlüsselstellen. Bild bzw. Bildumschrift und Widmungsinschrift arbeiten grundsätzlich im Sinne der Overall-Ordnungsstruktur und der ihr dienenden Logik des Reimes zusammen, und nicht überall primär inhaltlich. Berücksichtigt man die ursprüngliche Setzung der Widmungsinschrift, so sind die Systeme trotz aller Multireferentialität übersichtlich, und durch die Setzung von Schlüsselbegriffen und Angleichung des strukturellen Prinzips der Reime wird man immer wieder auf das Wesentliche des typologischen Systems zurückgeführt. Es können hier in dieser Studie nur beispielhaft Ausschnitte der Referenzcluster dargestellt werden, aber dies entspricht mit großer Wahrscheinlichkeit der ursprünglich intendierten Rezeptionsweise: Das Bild-Schrift-System liefert ein Angebot, sich nach und nach und immer wieder typologische Links zu erschließen, um in diesem System pars pro toto die Zusammenhänge der Heilszeitalter, der Logik des Heilsplans und die Einbringung von Liturgie und menschlichen Akteuren in das Netzwerk der Heilszeit erfassen zu können.
Tritum – Trinus – Tres: Die Betonung der Dreizahl in allen Systemen
Es war oben schon davon die Rede, dass sich der aus der Musik stammende Begriff tritum auf die Dreizahl der Register bezieht. Bemerkenswert ist weiterhin, dass dieser Vers mit dem tritum an seinem Ende in der oberen Zeile der rechten Tafel verortet ist: wenn man das tritum liest, hat man die drei (!) Tafeln im Lesevorgang das erste Mal am Ambo “umlaufen”. Es handelt sich nicht um den einzigen Hinweis auf die Dreizahl. In der ersten Vertikale mit den drei Verkündigungen (Abb. 7) befindet sich im christologischen mittleren Feld neben Maria ein Lesepult, das so nicht der Tradition entspricht (Abb. 13). Seine drei Register sind in einer Weise gestaffelt und jeweils mit zwei Rundbögen versehen, dass es wie ein Microarchitektur wirkt. Drei Register hat auch das Goldschmiedewerk selbst mit seinen narrativen Bogenfeldern, das zudem an einer Lesebühne angebracht war. Die Bogenöffnungen alternieren in der Farbverteilung: Im unteren und oberen Register ist das linke Feld rot, das rechte weiß; im mittleren Register ist es umgekehrt. Diesem Alternieren entsprechen die Kompositionen der Verkündigungen in den Registern der Amboverkleidung: In den Verkündigungen kommt der Engel bzw. kommen die Engel von rechts und entsprechen dem weißen Feld des Lesepultes; in der Verkündigung an Maria kommt der Engel von links, auch hier dem weißen Feld im mittleren Register des Lesepultes entsprechend. Die Wiederholung und das Alternieren der Frauenfiguren und der Engel hat Martina Pippal als „geschaute Similitudo“ bezeichnet, in der sich das typologische Konzept bereits rein visuell mitteilt. Man kann die seitenverkehrte Kongruenz von verkündigenden Engeln und die Verkündigung empfangenden menschlichen Protagonisten als eine Reimform sehen, die in der Widmungsinschrift mit dem consona angesprochen ist.
Ein weiterer Verweis auf die Dreizahl findet sich in dieser Vertikale in dem Spruchband der Verkündigung Isaaks im ante legem-Register: TRES VIDIT ET VNVM ADORAVIT, der die Dreifaltigkeit des Gottes, die auch in der Bildumschrift genannt ist (TRINVS ET VNVS), noch einmal wiederholt (Abb. 20). Damit gibt es gleich zu Beginn des christologischen Zyklus’ drei Mal, in Bild und Schrift, den Verweis auf die Dreizahl. Man sieht drei Register (TRES VIDIT), doch die christliche Wahrheit ist nur in einem enthalten, und diesem gilt die Verehrung (VNVM ADORAVIT): Das Schriftband mit dem Tres vidit et unum adoravit in der Verkündigung der Geburt Isaaks könnte man innerhalb dieser Referenzstruktur auch solchermaßen verstehen.
Das Schriftband ist zwischen Abraham und die Engel gesetzt; an die Stelle, wo sich im Feld darunter das dreiregistrige Lesepult befindet (Abb. 13, Abb. 7 erste Vertikale): Es lässt sich hier somit auch ganz konkret ein „Reim“ zwischen Bild und Schrift, eine similitudo dissimilis im oben genannten Sinn feststellen. Dieser Reim ist gleichfalls als Metareim zu verstehen: Er reimt die Dreiheit des Reimprinzips der Typologie, die in sich wiederum Reime bildet. Es sei ergänzt, dass Augustinus den Begriff der similitiudo dissimilis tatsächlich im Zusammenhang der Erklärung der Trinität geprägt hat. Im Bildtitulus und der Umschrift zur Anbetung der Könige wird die Zahl drei gleich dreimal genannt; in der Grablegung die Dreizahl der Tage im Grab auffällig betont. Zu nennen wäre hier auch der Dreipassabschluss der Bildfelder, der an dieser Stelle nicht zufällig gewählt sein dürfte. Shikida deutet ihn trinitarisch, doch auf der Formebene dürfte wohl kaum die Entsprechung zur Dreiteilung der Register zu übersehen gewesen sein.Ausblick: Neue Object Links auf dem Altarretabel
Als man das Werk 1331 in ein Triptychon inserierte und um zwei Achsen erweiterte, damit die Mitteltafel zwecks möglicher Schließung des Altarretabels die Breite beider Flügel erreichte,
konnte man auf positionsabhängige Referenzen zwischen Widmungsinschrift und Bildern keine Rücksicht nehmen und auch nur sehr begrenzt neue bilden. Durch die konsequente Beibehaltung der Verteilung der Widmungsinschrift und ihrer Ergänzung über die gesamte Breite der vier Zeilen war man gezwungen, die Zäsuren und Umbrüche unabhängig vom Versschema zu wählen. Die Inschriftenplatten wurden einfach in die verbreiterten bzw. verlängerten Zeilen inseriert und jeweils am Ende der Tafeln abgetrennt, auch wenn das bedeutete, dass sogar Worte mitten durchgeschnitten und von einer Zeile zur nächsten getrennt wurden, wie zum Beispiel das CECINERE: Der erste Buchstabe C befindet sich seit 1331 am Ende der ersten Zeile auf dem rechten Flügel, der Rest des Wortes am Anfang der zweiten Zeile auf dem linken Flügel. Zwar musste man zum Erfassen der Widmungsinschrift auf dem Ambo viermal vor dem Baukörper der Lesebühne hin und her gehen, um die Verse in der richtigen Reihenfolge zu lesen, doch waren von einem festen Standpunkt auf einer der drei Seiten her wenigstens ganze (einzelne) Verse lesbar. Im Gegensatz dazu konnte die Widmungsinschrift im Triptychon (mit leicht angestellten Flügeln) von einem Standpunkt (vor der Mitteltafel) aus gelesen werden, weswegen die ungeordnete Setzung eventuell hinnehmbar war. Die Lesbarkeit selbst ist also einerseits im neuen Werk leicht eingeschränkt, weil die Versform im Layout abhandenkommt, andererseits aber durch die bauliche Struktur der Allansichtigkeit befördert. Als Ordnungsstruktur mit den vertikal gesetzten Reimen, die das vertikale Reimen der Bilder spiegelt, fällt die Widmungsinschrift nun völlig aus.Es lassen sich allerdings auch neue Referenzen ausmachen: Das SERPENTEM der alten Inschrift war nun unter dem ersten Bildregister der Achse rechts neben der Kreuzigung situiert (Abb. 21). Hier hatte man eine Präfiguration ante legem zur Kreuzabnahme zu finden. Wählte man den in dieser Hinsicht ungewöhnlichen Sündenfall nicht nur wegen des Zusammenhangs zwischen dem Baum der Erkenntnis und dem Kreuz (der Kreuzabnahme), sondern auch wegen der bildlichen Darstellung der Schlange und ihrer schriftlichen Nennung im Zusammenhang des Falls der Stammeltern im alten Widmungstext? Diese Referenz ist wenig subtil und eben nicht typologisch, aber nach einem mittelalterlichen Verständnis von Referenzbildungen doch mehr als inhaltlich definiert. Mit dieser Fügung von alter Schrift und neuem Bild konnte suggeriert werden, dass die Inserierung der neuen Bildachsen von Anfang an in dem Werk semantisch angelegt war: Das Wort SERPENTEM hätte einer für die Zeit charakteristischen typologisch-prophetischen Lesart zufolge schon immer latent an einer Stelle im System gestanden, die sich quasi mit der Ergänzung des Bildsystems um 1331 zur vollen Bedeutung entfaltet hätte.
Auch in der Widmungsinschrift des Stephan von Sierndorf wird das Werk genannt und als opus auratum renovatum bezeichnet. Der Vorgang dieser Erneuerung wird genau beschrieben: Von Sierndorf hatte das Goldschmiedewerk von dem Holzträger des Kreuzaltars, der vorher an der Lesebühne befestigt und um sie gebogen war, „abgenommen“ (tulit ab crucis altari de structura tabulari que prius annexa fuit ambonique reflexa). Der Begriff tulit, eine Flexionsform von ferre, erscheint auch in einer der Bildtituli der neuen Achsen, und zwar unter dem schon erwähnten Bild mit dem Sündenfall. Dort heißt es: EVA TVLIT DE FRVCTV (Abb. 21). Der Antitypus des Sündenfalls, die Kreuzabnahme (Depositio Christi), trägt wiederum die Bildumschrift HII CORPVS DVCIS TOLLVNT AB ARBORE CRVCIS (Abb. 22). Um die Verbindung zum Baum der Erkenntnis im Sündenfall deutlich zu machen, aus dem den Legenden nach das Kreuz Christi gefertigt wurde, heißt es hier: „Diese nehmen den Leib des Fürsten“ (ducis reimt im Gegensatz zu regis gut mit crucis) „vom Baum des Kreuzes ab“. Tollunt ist zwar im Prinzip ein anderes Verb, aber tulit und tollunt meinen hier das gleiche und etablieren eine typologische Beziehung: Eva hat die Sündenfrucht vom Baum abgenommen, während die „Heilsfrucht“ (fructus salutis) des Leibes Christi vom Kreuz abgenommen wurde. Stephan von Sierndorf wiederum hat die mit Nägeln (!) befestigten goldenen Platten vom Holzträger genommen. Damit tritt das Werk, das im Verständnis des 12. Jahrhunderts durch den Bildtitel des Mannas (MAN IN VAS AVREA, Abb. 5) mit der Bundeslade und mit den oben genannten Strategien mit der Arche in eine typologische Verbindung gebracht wurde, auch eine Verbindung mit dem Heilskörper Christi ein. Diese Sichtweise kann u.a. im Verständnis von Christus als Evangelium begründet werden, was auch dazu führen konnte, seinen Leib mit dem „Körper“ der Heiligen Schrift, also dem Buch selbst, zu überblenden. Das Werk ist Heilsmittel insofern, als dass es die Wahrheit des Heilsplans (in diesem Fall quasi der gesamten Heilsgeschichte) in Bild und Schrift „trägt“.
Konmedialität – Interdisziplinarität
Es bleibt ein Desiderat, gerade solche Medienhybride wie das Klosterneuburger Goldschmiedewerk in interdisziplinären Verbünden zu untersuchen. Damit ist nicht nur gemeint, dass Vertreter verschiedener Disziplinen sich mit den ihre Expertise betreffenden, gleichsam abgetrennten Anteilen des Objektensembles beschäftigen. Eine Zusammenführung der Expertise zur eigentlichen Analyse der medialen Strategien, auf welche Weise ein Medienhybrid Bedeutung herstellt, dürfte auf einer gewissen Ebene der Zusammenführung der Expertise zur Herstellung des Werkes entsprechen. In der Kunstgeschichte ist immer wieder strittig, wer als Urheber für das Konzipieren solcher Bild-Schrift-Programme in Frage kommt. Für den oben bereits angesprochenen Fall der Westfassade von San Clemente geht Markus Späth von einer Urheberschaft im Kloster selbst aus; die Bildhauer seien nur „die ausführende Instanz gewesen“.
Dies aber ist schwer vorstellbar. Das von ihm beschriebene und auch so genannte „Zusammenspiel“ von Bild und Schrift kann nicht ohne eine konzeptorische Leistung auf Seiten des Bildhauers entstehen, da beispielsweise die dispositorische Sinngebung im Layout eng und ikonisch definiert an das eigentlich Bildliche gebunden ist. Eine Konmedialität dieser Art ist nur denkbar in einer engen Verbindung theologischer und künstlerischer Expertise: So wie diese Medienhybride heute im günstigsten Fall in interdisziplinärer Arbeit untersucht werden sollten, sind sie auch in interdisziplinärer Arbeit entstanden.Abbildungsnachweis Titelbild
Klosterneuburger Emailwerk (1181), Der Tau-Schreiber (Ausschnitt). Foto: IMAREAL/Peter Böttcher.