Abstract
Im Zuge von archäologischen Ausgrabungen am Areal des ehemaligen Krankenhausfriedhofs der Elisabethinen im dritten Wiener Gemeindebezirk wurde im Jahr 2019 ein Bestand von 85 religiösen Medaillen gefunden. Der homogene Befund der Bestatteten – es waren größtenteils Frauen aus niederen sozialen Schichten – erlaubt es, mehrere methodische Probleme im Zusammenhang mit der Erforschung barocker Wallfahrt anhand religiöser Medaillen zu thematisieren. Dabei werden verschiedene Aspekte der Medaillen des Fundkomplexes aufgegriffen (christliche Bruderschaften, regionale Wallfahrtsorte, das Phänomen der Devotionalkopie, Deponierungsumstände), und es wird versucht, historische Verehrungsräume von Wallfahrtszielen zu rekonstruieren. Die Aussagekraft des Ortsbezuges der Medaillen zu bestimmten Wallfahrtsorten und die Frage, ob man von einer tatsächlichen Mobilität zu Lebzeiten der Bestatteten sprechen kann, stehen dabei im Fokus dieser Arbeit.
Keywords: Religiöse Medaillen, Regionalität, Wallfahrt, Gegenreformation, Propaganda, Geschlechtergeschichte, Bruderschaft, Mobilität
Abstract (englisch)
In the course of archaeological excavations on the site of the former hospital cemetery of the Elisabethinen in the third district of Vienna in 2019, a stock of 85 religious medals was found. The homogeneous findings of the buried – mostly women from lower social classes – allows to address several methodological problems related to the study of baroque pilgrimage by means of religious medals. Various aspects of the found medals are taken up (Christian brotherhoods, regional places of pilgrimage, the phenomenon of the devotional copy, circumstances of deposition), and an attempt is made to reconstruct historical spaces of veneration of pilgrimage destinations. The significance of the medals’ reference to specific places of pilgrimage and the question of whether one can speak of actual mobility during the lifetime of the buried are the focus of this work.
Keywords: Religious medals, Regionality, Pilgrimage, Counter-reformation, Propaganda, Gender history, Confraternity, Mobility
Inhaltsverzeichnis
Religiöse Medaillen der Barockzeit haben Eigenschaften, die in vielerlei Hinsicht wertvoll für die Erforschung des Wallfahrtswesens und der gegenreformatorischen Rekatholisierungsstrategien sind. Ihr Hauptvorteil liegt darin, dass man sie zumeist archäologisch fassen kann, selbst wenn andere Quellen aufgrund ihres unbeständigen Materials bereits nicht mehr nachweisbar sind. Die überwiegende Mehrheit der religiösen Medaillen wurde mittels Prägung oder Guss, vorwiegend aus preisgünstigem Buntmetall oder Zinn-Blei-Legierungen, seltener aus Silber und ganz vereinzelt aus Gold hergestellt.
Trotz der Widerstandsfähigkeit des Materials ist es nicht immer möglich, eine zweifelsfreie Bestimmung der Objekte vorzunehmen. Die Gründe dafür liegen einerseits in der Korrosion und andererseits in der Abnutzung religiöser Medaillen. Schlechte Bodenverhältnisse des Fundortes, insbesondere in Gräbern, führen in Verbindung mit Metall minderer Qualität bei manchen Objekten zu starker Korrosion. Der viel häufigere Grund für eine unvollständige Bestimmung liegt aber in deren Funktion als Alltagsgegenstand. Das tägliche Tragen am Körper oder der rituelle Gebrauch der Medaillen führten zu einer Abnutzung des Reliefs von Legenden und Bildern und erschweren oder verunmöglichen somit eine genaue Bestimmung (Abb. 1).Ein weiterer Vorteil religiöser Medaillen liegt in deren direkter Überlieferung. Neben schriftlichen Quellen und numismatischen Sammlungen stellen vor allem archäologische Funde die häufigste Überlieferungsart religiöser Medaillen dar.
Hier muss wiederum zwischen Verlustfunden und bewusst deponierten Objekten unterschieden werden. Mit der ihnen zugeschriebenen Eigenschaft der magisch-apotropäischen Wirkmacht wurden religiöse Medaillen wie Werkzeuge gehandhabt, die zur Abwehr von Übel oder zum Schutz vor dem Bösen entsprechend praktisch gebraucht wurden. Eine Gattung von Fundorten, an der man*frau diese Funktion erkennen kann, stellen Friedhöfe dar. Religiöse Medaillen wurden den Toten als Beigaben mit ins Grab gelegt. Der große Gewinn bei Friedhofsfunden besteht darin, dass sich die Objekte – im Gegensatz zu anderen Fundorten wie Streu- oder Kirchenfunden – stellenweise bestimmten Personen oder zumindest einer gewissen Personengruppe zuweisen lassen. Das heißt, dass sie uns einen ungetrübten Einblick in den Lebensbereich der Frömmigkeit bieten, der zwar alle sozialen Schichten betraf, innerhalb dessen es aber oftmals nicht möglich ist, die sozial schwächeren und in den schriftlichen Quellen weniger vertretenen Teile der Gesellschaft sichtbar zu machen. Mithilfe religiöser Medaillen kann dieses methodische Problem in Ansätzen ausgeglichen werden.Als Quellenbasis dient hier ein Fundkomplex an religiösen Medaillen in der Stadt Wien. Im Vorfeld von Bauarbeiten im Elisabethinen-Kloster im dritten Wiener Gemeindebezirk wurden Teile des ehemaligen Krankenhausfriedhofs vom archäologischen Dienstleister NOVETUS GmbH, unter der Leitung von Michaela Binder und Thomas Ragger, ergraben.
In der Zeit zwischen Januar und August 2019 wurde auf einer Fläche von 400 m2 ein Teilbereich des Friedhofs mit insgesamt 338 vollständig oder teilweise erhaltenen Bestattungen in 133 Schachtgräbern und einem Massengrab freigelegt. Ebenso kam es zu einer weitergehenden Bearbeitung der exakt 100 numismatischen Fundobjekte, die im Zuge des Fundmünzprojektes an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften bestimmt und katalogisiert wurden. Neben 18 Münzen fand man*frau einen thematisch breit gestreuten Bestand von 82 religiösen Medaillen. Die Brücke zwischen den beiden Fundarten bildet eine Münze, die im Fundkontext nicht als Geldstück, sondern in Sekundärverwendung als sakrales Objekt zu betrachten ist (Abb. 2). Der Grosso Innozenz XI. (1676–1689) aus der Münzstätte Rom ist durch die nachträgliche Henkelung zu einem sakralen Objekt geworden, wobei die Reversdarstellung des hl. Apostels Petrus sich dafür gut eignete. Grossi Innozenz XI. sind als Bestandteil von Rosenkränzen bereits belegt. Die Münze und das durch Oxidierung anhaftende Kreuz waren beide Teile einer Fraisenkette, zu der eine weitere Medaille gehörte, deren Avers den Benediktsschild und deren Revers den Zachariassegen zeigt.Die Nutzung des Friedhofs begann kurz nach dem Zuzug der Elisabethinen nach Wien und der Errichtung des Spitals im Jahre 1709 und endete im Zuge der josephinischen Reformen 1784, womit sowohl ein terminus post quem als auch ein terminus ante quem für die Deponierung der Medaillen gegeben ist.
Geschlecht und Ikonografie
Obwohl Frauen die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, sind sie vor allem bei Herkunft aus niederen sozialen Schichten in historischen Quellen wenig repräsentiert. Zudem wurde der Kategorie „soziales Geschlecht“ in der bisherigen Forschung zu religiösen Medaillen nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Die Grabung im Elisabethinen-Friedhof bietet sich an, einen Teil dieser Lücke zu füllen. Da der Friedhof zum Elisabethinen-Spital gehörte und dort nur Frauen behandelt wurden, sind fast alle Bestatteten weiblich; von den 338 gefundenen Individuen sind nur drei männlichen Geschlechts. Die anthropologische Bearbeitung der Ausgrabung durch Michaela Binder und Hannah Grabmayer ergab, dass der Friedhof die prekäre hygienische Lage Wiens und die Lebensbedingungen ihrer Einwohnerinnen im 18. Jahrhundert eindrucksvoll abbildet. Die meisten Frauen waren in schlechter gesundheitlicher Verfassung, gezeichnet von Krankheiten und schwerer körperlicher Arbeit.
Inwiefern aber bildet sich im Fundkomplex der religiösen Medaillen die signifikante Dominanz des weiblichen Geschlechts ab? Man*Frau könnte annehmen, dass Frauen eher weibliche Heilige verehrten und sich dieses Bild in der quantitativen Verteilung der Medaillen wiederfinden lässt. Jedoch ist dies nicht der Fall. Nur vier weibliche Heilige kommen im besagten Fundkomplex vor, wobei dreien – der hl. Rosa von Lima als Teil der fünf Neukanonisierungen von 1671, der hl. Juliana von Falconieri als Teil der vier Hauptheiligen des Servitenordens, und der hl. Monika von Tagaste, Mutter des hl. Augustinus, in der Szene der Gürtelübergabe – in ikonografischer Hinsicht keine überragende Stellung zuteilwird. Mit immerhin fünf Stücken ist die hl. Theresa von Ávila vertreten, aber auch in diesem Fall muss die Aussagekraft der Quantität relativiert werden: Vier der fünf Medaillen sind nahezu ident und stammen wahrscheinlich von einem einzigen Rosenkranz.
Die Vielfalt an männlichen Heiligen ist hingegen sehr groß. Neben den beiden hl. Aposteln Petrus und Paulus finden sich Vertreter aller wichtiger geistlicher Orden. Aus den alten Orden des benediktinischen Umkreises stammen der hl. Benedikt von Nursia (Benediktiner) und der hl. Romuald von Camaldoli (Kamaldulenser), von den Augustinern der hl. Nikolaus von Tolentino, von den Franziskanern deren Gründer, der hl. Franz von Assisi, sowie mit dem hl. Antonius von Padua und dem hl. Petrus von Alcantara weitere Vertreter des Ordens. Aus den Orden der Gegenreformation sind drei Jesuiten nachgewiesen: der hl. Ignatius von Loyola, der hl. Franz Xaver und der sel. Stanislaus Kostka. Dazu kommt der besonders im Spätbarock beliebte hl. Johannes von Nepomuk. Für jene Zeit durchaus auch neuere Heilige vertreten, wie der hl. Franz von Solano und der hl. Jakob von der Mark (kanonisiert 1726). Dieser Gegebenheit könnte man*frau das bewusst weibliche Bildprogramm der Gnadenbilder entgegenstellen. Auf mehr als zwei Dritteln der Medaillen des vorliegenden Fundkomplexes sind marianische Gnadenbilder dargestellt, nur weniger als ein Drittel davon ist nicht marianisch geprägt (Sonntagberg, Prager Jesulein, Ährenchristus). Betrachtet man*frau jedoch die allgemeine Geschlechterverteilung von Gnadenbildern auf religiösen Medaillen im österreichischen und süddeutschen Raum, entspricht dieser Befund nur der überproportionalen Menge an Marienwallfahrten.
Wie Fassbinder anhand von religiösen Medaillen im Raum Baden-Württemberg feststellte, gab es im barocken Wallfahrtswesen keinen Unterschied in der Häufigkeit der Teilnahme an Wallfahrten zwischen Frauen und Männern. Ebenso finden sich in der Verehrung bestimmter Wallfahrtsorte oder Gnadenbilder keine signifikanten Abweichungen. Zumindest in der Auswahl der Heiligenverehrung und der Wallfahrtziele dürfte dieser Umstand auch für Wien zutreffend gewesen sein.Wallfahrt und Bruderschaft
Von den 82 Exemplaren aus der Grabung des Krankenhausfriedhofs der Elisabethinen lassen sich 33 Stücke (40 %) einem bestimmten Ort zuweisen. Eine etwas größere Menge, nämlich 40 Stücke (49 %), hat keinen Ortsbezug, die restlichen Exemplare sind nicht bestimmbar. Die recht allgemeine Formulierung des vorhandenen oder fehlenden Ortsbezugs ist darauf zurückzuführen, dass nicht nur die Unterkategorie der Wallfahrtsmedaille einen gewissen Ortsbezug besitzen kann. Zwar liefern eindeutig als Wallfahrtsmedaillen definierbare Exemplare eine direktere Quelle für das Netz an Wallfahrtszielen in der Barockzeit, jedoch fehlt für kleinere und regionalere Wallfahrtsorte oftmals der Nachweis durch Wallfahrtsmedaillen. Das könnte zu einer Verzerrung der Frage nach der Regionalität von Wallfahrten in der Forschung zu religiösen Medaillen führen. Wenn jedoch Bruderschaften Medaillen ausgegeben haben, so ist dies kein direkter Hinweis auf eine Wallfahrt. Trotzdem kann man*frau aber Aussagen über die räumliche Verbreitung der Verehrung barocker Wallfahrtsorte und Gnadenbilder treffen, vor allem da die Bruderschaften wesentlich zur Förderung der Popularität bestimmter Wallfahrtsziele beigetragen haben. Ein Beispiel für die Überlappung der beiden Elemente der Bruderschaft und eines regionalen Wallfahrtsortes stellen die Medaillen des Ährenkruzifixes aus Wien dar (Abb. 3).
Die Geschichte oder zumindest die Legende des Ährenkruzifixes in der Trinitarier- bzw. in der Weißspanierkirche im achten Wiener Gemeindebezirk beginnt in Hermannstadt (Sibiu, Rumänien).
Das spätgotische Kruzifix wurde im Umkreis des Veit Stoß gefertigt und dürfte in der Reformationszeit verschwunden gewesen sein. Nach der Wiederentdeckung vergruben protestantische Bilderstürmer*innen das Kruzifix erneut, indem sie es in eine Kiste steckten und es – so erzählt die Legende – dabei beschädigten. Daraufhin wuchs eine überaus große Getreideähre genau an jener Stelle, wo das Kreuz vergraben lag. So konnte es in späterer Zeit wiedergefunden werden. Aus diesem Grund erhielt es den Namen „Ährenchristus“. Als Zeichen für die wundersame Wiederfindung wurde daher am Kreuzsockel eine Ähre angebracht, auch wenn diese eher einer Märtyrerpalme ähnelt. Danach befand sich das Kruzifix zunächst im Besitz des Grafen Johann Ludwig Rabutin, dessen Frau das Kreuz aber im Zuge einer Übersiedlung nach Wien mitnahm und am 30. November 1708 den Trinitariern in der Alserstraße schenkte. Am 2. Dezember fand die Einweihungsfeier statt, an der nicht nur die Spenderin Dorothea Elisabeth Gräfin Rabutin, Kaiser Joseph I. und andere prominente Persönlichkeiten teilnahmen, sondern auch eine große Anzahl von Stadtbewohner*innen Wiens. In den folgenden Jahren gab es immer wieder Andachten und Gottesdienste, sodass die Verehrung des Gnadenbildes zunahm. Ein Beweis dafür ist ein Mirakelbuch, das 133 Gnadenbeweise im Zeitraum zwischen 1708 und 1724 auflistet, die in Verbindung mit dem Ährenkruzifix stehen. Ebenso wurde das Gnadenbild mehrfach kopiert, es wurden Druckgrafiken verkauft und vom Kruzifix berührte Stoffe in der Bevölkerung verteilt. All dies führte zu einer wachsenden Popularität des Wallfahrtsortes. Jedoch ist an den Gnadenbeweisen ersichtlich, dass die Verehrung des Ährenchristus auf Wien und dessen Umgebung beschränkt blieb. Die einzigen überregionalen Belege für Gnadenbeweise sind in Prag (wo sich eine Kopie des Ährenkruzifixes befand), in Šternberk in Böhmen, in Trnava im vormaligen Königreich Ungarn (heute Slowakische Republik) und in Bayern mit jeweils einem Exemplar nachgewiesen (Abb. 4).Nach der Fertigstellung der Kirche 1727
wurde die erste Bruderschaft in Verbindung zum Ährenkruzifix gegründet, die sogenannte „Liebesversammlung zur Verehrung des Heiligen Kreuzes“, von der aber keine Medaillen bekannt sind. Im Jahr darauf wurde eine weitere derartige Vereinigung ins Leben gerufen, die „Bruderschaft der fünf Wunden Christi“ (1728–1783). Im Fundkomplex der religiösen Medaillen des Krankenhausfriedhofs der Elisabethinen finden sich vier Medaillen jener Bruderschaft. Sie zeigen am Avers den Ährenchristus mit der Kornähre links zu seinen Füßen. Am Revers befindet sich das Zeichen der Bruderschaft, die fünf Wunden Christi in einem Strahlenkranz, dargestellt durch das Herz Jesu mit Speerwunde und seine vier durchbohrten Gliedmaßen. Im Abschnitt befindet sich der Schriftzug ‚Roma‘. Die oftmals geäußerte Meinung, dass sich der Schriftzug auf einen Produktionsort in Rom bezieht, ist wenig wahrscheinlich. Er weist viel eher auf die Aggregierung der jeweiligen Bruderschaft zur Erzbruderschaft in Rom hin. Die Umschrift „Sign[um] Confrat[ernitatis] Vuln[erum] Jesu XPTI Vien[nensis]“ des Reverses bestätigt eindeutig die Nutzung der Medaille als Bruderschaftsabzeichen und nicht als Wallfahrtsmedaille. Die Tätigkeit der Bruderschaft umfasste aber neben Andachten auch gemeinsame Wallfahrten, zum Beispiel pilgerten die Mitglieder einmal jährlich nach Maria Enzersdorf. Die vier barocken Medaillen der Trinitarierkirche sind also Bruderschaftsabzeichen, die jedoch einen Bezug zu einem regionalen Wallfahrtsort aufweisen und dessen Gnadenbild abbilden, trotzdem aber nicht als Wallfahrtsmedaillen bezeichnet werden können. Ähnlich einzuordnen sind die Medaillen der Maria-vom-Trost-Bruderschaft (ein Stück) oder die der Bruderschaft der Sieben Schmerzen Mariens aus dem Schottenkloster Wien (ebenso ein Stück). Die Bruderschaft des hl. Erzengels und Himmelsfürsten Michael (drei Stück) ist hingegen mit keinem Ort verbunden. Alle diese Medaillen aber fungieren als Abzeichen für eine Mitgliedschaft in der jeweiligen Bruderschaft.Wallfahrt und Ortsbezug
Entgegen dem Beispiel der Medaillen des Ährenkruzifixes ist eine solche scharfe Trennung zwischen Bruderschaftsmedaillen und Wallfahrtsmedaillen nicht immer exakt durchführbar. Die Medaille des Fundkomplexes mit dem Gnadenbild Maria Hilf aus Passau am Avers und dem hl. Ignatius von Loyola am Revers kann entweder eine Medaille der vielen Bruderschaften in Verbindung mit Maria-Hilf-Darstellungen oder eine Wallfahrtsmedaille sein.
Hier tritt ein weiteres Problem der räumlichen Zuordnung von religiösen Medaillen auf. Das berühmte Gnadenbild in Passau, seinerseits eine Devotionalkopie des von Lucas Cranach dem Älteren gefertigten Bildes in Innsbruck, wurde sehr oft kopiert und man*frau gründete mit dem gleichen Bild zahlreiche Tochterwallfahrten. Auf den Medaillen lassen sich die Tochterwallfahrtsorte nicht immer von der Mutterwallfahrt Passau unterscheiden. Selbst bei expliziten Nennungen in der Legende mit „Maria Hilf Passau“, kann auch einfach nur das Vorbild gemeint sein, durch das die Tochterwallfahrt ihre Verbindung mit Passau betonen möchte. Wie bereits am Beispiel des Ährenchristus gezeigt, begann die Nachahmung von Gnadenbildern schon bei kleineren und regionalen Wallfahrtsorten. Trotzdem hat dieser Prozess eine trichterförmige Struktur. Je berühmter ein Wallfahrtsort war, desto häufiger wurde er reproduziert. Das steigerte nicht nur die Besucher*innenzahlen des Mutterwallfahrtsortes, sondern erhöhte vermeintlich auch die dem Ort bzw. Gnadenbild zugesprochene Heilswirkung. Da eine religiöse Medaille mit der Darstellung eines Gnadenbildes ebenso dessen Heilspotenzial innehat – zum Beispiel erlangt durch einen Kontakt mit dem Gnadenbild –, ist dieses Phänomen gleichermaßen im Medaillenwesen feststellbar (Abb. 5).Ein Beispiel aus dem Fundkomplex des Elisabethinen-Friedhofs ist der Wallfahrtsort Loreto mit dem Gnadenbild der „Pontificia basilica santuario maggiore della Santa Casa e della Madonna di Loreto“. Die Mutterwallfahrt in Italien in der Provinz Ancona ist mit einem Stück (und einem weiteren, jedoch unsicheren Stück, beide fragmentiert) vertreten. Es zeigt am Avers unter einem Wellengiebel das Gnadenbild auf Wolken, beidseitig begrenzt von zwei hängenden Lampen. Am Revers ist der hl. Antonius von Padua dargestellt. Leider lässt sich nicht klären, woher das Stück ursprünglich stammt oder wo es produziert wurde. Der Stil und der kunstvolle Guss mit dünnem Schrötling könnten aber ein Hinweis auf ein italienisches Produkt sein. Weiters befindet sich im vorliegenden Komplex eine religiöse Medaille aus Salzburg,
genauer gesagt aus der Klosterkirche der regulierten Tertiarkapuzinerinnen St. Maria Loreto, kurz Loretokirche. Diese wurde zwischen 1633 und 1648 errichtet und beinhaltet mehrere Kopien von Gnadenbildern. Neben Darstellungen der Maria von Altötting am Hochaltar und Maria Einsiedeln auf einem Seitenaltar befindet sich auch die namensgebende Kopie der Madonna von Loreto auf einem weiteren Seitenaltar. Auch wenn das auf der Medaille dargestellte Loreto-Kindlein keine Devotionalkopie des Wallfahrtsortes Loreto ist, ist es doch der Loretoverehrung zuzuordnen (Abb. 6).Die Wallfahrtsorte, die im Bestand der religiösen Medaillen des Elisabethinen-Friedhofs vertreten sind, ergeben kein wesentlich anderes Bild als räumlich vergleichbare Fundkomplexe.
Die meisten Wallfahrtsorte sind – dem Fundumfang geschuldet – nur in kleiner Stückzahl vorhanden. Lediglich die Medaillen von Mariazell schlagen statistisch signifikant aus. Auch dieser Umstand passt aber in die – im Vergleich zu allen anderen Wallfahrtsorten in Österreich – überragende Bedeutung Mariazells in der Barockzeit und lässt sich ebenso durch andere Fundkomplexe religiöser Medaillen bestätigen.Kann man*frau nun davon ausgehen, dass die Frauen, in deren Gräbern die Wallfahrtsmedaillen lagen, zum jeweils abgebildeten Wallfahrtsort gepilgert sind? Abgesehen von der bereits erläuterten anzuzweifelnden Eindeutigkeit in der Zuweisung religiöser Medaillen zu bestimmten Wallfahrtsorten, wird diese These weiter relativiert, indem es mehrere Möglichkeiten gab, wie die Objekte in den Besitz der Personen gekommen sein könnten. Medaillen wurden mitunter von anderen Personen mitgebracht und unter Verwandten oder Bekannten verteilt. Quellen für diese Praxis sind eher von sozial höheren Schichten belegt. So soll Ferdinand II. bei seiner Reise nach Rom und Loreto im Jahr 1598 Rosenkränze und Wallfahrtsmedaillen mitgebracht und dann weiterverschenkt haben.
Es ist jedoch anzunehmen, dass die Weitergabe und das Verschenken von Wallfahrtsmedaillen auch in niederen sozialen Schichten praktiziert wurde. Eine weitere Möglichkeit, Zugang zu Wallfahrtsmedaillen zu bekommen ohne selbst zum Wallfahrtsort zu reisen, war es, die Medaillen bei fahrenden Händler*innen zu kaufen. Die sogenannten „Betenkrämer“ waren Händler*innen, die als Hausierer*innen umherzogen und Rosenkränze und religiöse Medaillen verkauften. Ebenso kann es bei Funden von religiösen Medaillen auf Friedhöfen der Fall sein, dass den Verstorbenen das Objekt durch Angehörige ins Grab mitgegeben wurde, um den damit einhergehenden Ablass zu übertragen oder zu übergeben. Aus archäologischer Sicht lässt sich folglich nicht klären, ob die beerdigten Personen tatsächlich am Wallfahrtsort waren oder nicht.Tatsächliche Mobilität?
Da sich nicht eruieren lässt, ob die jeweilige Person physisch am Wallfahrtsort anwesend war oder nicht, muss die Aussagekraft einer Wallfahrtsmedaille in einem Fundkomplex wie dem des Krankenhausfriedhofs der Elisabethinen relativiert werden. Der Beweis einer tatsächlichen Mobilität der Wallfahrenden kann somit nicht getroffen werden. Trotzdem dürften religiöse Medaillen, insbesondere die Wallfahrtsmedaillen, in der Lancierung einzelner Wallfahrtsorte und auch des Wallfahrtsgedankens eine treibende Kraft gewesen sein. Genauso wie andere numismatische Objekte sind religiöse Medaillen Massenmedien. Sie dienten der Verbreitung gegenreformatorischer Inhalte und Traditionen, indem sie mit unterschiedlicher künstlerischer Gestaltung bestimmte Aspekte der Gegenreformation aufgriffen und sichtbar machten. Diese Funktion der Rekatholisierung ist vor allem unter dem Aspekt der hohen Produktionszahlen von religiösen Medaillen im 18. Jahrhundert zu betrachten.
Dass diese Devotionalobjekte bereits in der Barockzeit einer breiten Schicht der Bevölkerung bekannt waren und auch von ihr genutzt wurden, lässt sich mit dem Fundkomplex des Elisabethinenspitals in Wien nachweisen.Da aber der direkte Beweis zur Mobilität der Wallfahrenden nicht erbracht werden kann, rückt die Bedeutung des Wallfahrtsortes im Sinne der Beliebtheit in den Fokus der Betrachtung. Inwieweit ein Wallfahrtsort populär war, hing von Verehrungsräumen des Gnadenbildes desselben und dessen Verbreitung ab. Je mehr Menschen zu einem Wallfahrtsort pilgerten, desto berühmter wurde er. Das heißt, dass – neben den erhöhten Verkaufszahlen von Medaillen am Wallfahrtsort – ebenso der Wiedererkennungsfaktor die Menschen dazu veranlasst haben könnte, auch außerhalb des Ortes Medaillen mit Abbildungen berühmter Wallfahrtsorte zu kaufen. Ebenso stieg die subjektiv empfundene spirituelle Wirkungskraft des Wallfahrtsortes bei einer Zunahme an Pilger*innen, und mit ihr die erhoffte Wirkung der Medaillen. Je zahlreicher ein Wallfahrtsort durch Massenmedien nachgewiesen werden kann, und, in diesem Fall, je mehr Exemplare in einem Befund religiöser Medaillen eines Wallfahrtsortes vorhanden sind, desto mehr Menschen dürften zu dem Wallfahrtsort gepilgert sein. Die Popularität eines Wallfahrtsortes kann daher an der Quantität der Medaillen gemessen werden. So ist es möglich, einen indirekten Nachweis für die Beliebtheit und Bedeutung eines Wallfahrtsortes in einem zeitlichen und geografischen Raum zu erbringen. Im Falle der Medaillenfunde des Wiener Krankenhausfriedhofs der Elisabethinen können darüber hinaus soziale und geschlechterhistorische Kategorien in die Darstellung der Verehrungsräume bestimmter Wallfahrtsorte integriert werden. Auch wenn man*frau anhand archäologischer Funde religiöser Medaillen tatsächliche Mobilität nicht zweifelsfrei nachweisen kann, ist es doch möglich, mithilfe indirekter Nachweise die historischen Verehrungsräume der Wallfahrtsorte zu rekonstruieren.