Abstract (englisch)
At first glance, asking about the connection between mathematics and materiality may seem somewhat counter-intuitive. In our modern understanding, mathematics is a theoretical art, something that is localized in an abstract space of thought, detached from the concrete or the tangible, which does not need to be tied back to objects. However, if you pay a little more attention to this context, it quickly becomes clear that the matter cannot be that simple.
Einleitung
Nach der Verbindung von Mathematik und Materialität zu fragen, mag auf den ersten Blick womöglich etwas kontra-intuitiv erscheinen. Mathematik ist in unserem modernen Verständnis eine theoretische Kunst, etwas, das losgelöst vom Konkreten bzw. vom Berührbaren in einem abstrakten Denkraum lokalisiert wird, der nicht an Objekte rückgebunden werden muss. Schenkt man diesem Zusammenhang allerdings etwas mehr Aufmerksamkeit wird schnell klar, dass so einfach die Sache nicht sein kann: Ja, die theoretische Beschäftigung mit der Mathematik ist nicht gegenständlich, auch die praktische Anwendung muss nicht zwingend auf Objekte Bezug nehmen, beispielsweise wenn wir im Kopf rechnen. Aber alle anderen Methoden der praktischen Mathematik, die sich vornehmlich um komplexere Fragestellungen drehen oder mit größeren Zahlen operieren, funktionieren ohne die Zuhilfenahme von ‚Dingen‘ nicht. Seit Menschen rechnen – und auch das (Auf-)Zählen (die Numeratio) ist eine der neun im Mittelalter bekannten Grundrechnungsarten
– verwenden sie Hilfsmittel, um sich diesen Prozess zu erleichtern. Ganz einfache Materialien sind Hölzer, Knochen oder Steine, in die im Zählprozess kleine Linien eingeritzt werden, um Gruppen von Zahlen festzuhalten. Auch unsere Finger sind einfache Rechenmaschinen und werden über das ganze Mittelalter hinweg noch in Kombination mit dem Rechentisch und dem Rechenpfennig verwendet, wie zum Beispiel im Fingerzahlensystem des Franziskanermönchs Luca Paciolis, der von 1477 bis 1480 Mathematikprofessor an der Universität Perugia war (Abb. 1). Seit der Antike kommt der Abakus zum Einsatz; wir wissen auch von Rechenschnüren und Rechenseilen (Abb. 2).Dann kommt die große Revolution des Rechnens mit den indisch-arabischen Zahlen und den Hilfsmitteln ‚Stift‘ und ‚Zettel‘. Heute kommen wir um den Einsatz von Objekten, die uns beim Rechnen helfen können, gar nicht mehr herum. Wir verlassen uns nach wie vor auf ein Stück Papier und einen Stift, auch unsere Hände setzen wir noch ein, doch vor allem der Taschenrechner und der Computer sind nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken. Die eben erwähnten Hilfsmittel stammen allerdings nur aus einem Teilbereich der Mathematik, der Arithmetik. Fragt man nach der Geometrie und den mit ihr verwandten Bereichen der Feld-, Höhen- oder Hohlmaßmessung ist ohne die Verwendung eines Messinstruments keine praktische Mathematik möglich. Das Messobjekt und das Rechnen sind bei dieser Kunst untrennbar miteinander verwoben.
Der praktische Prozess der arithmetischen und geometrischen Lösungsfindung ist also unmittelbar an die Materialität ihrer Hilfsmittel gebunden. Zusätzlich möchte ich aber noch einen zweiten Aspekt der Materialität ansprechen, der zwar sehr viel ‚platter‘ zu sein scheint, gerade in diesem Kontext allerdings eine wichtige Funktion erfüllt: Der mathematische Lehr- und Lernprozess ist gerade im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit nicht ohne das Lehrbuch, den Gebrauchstext zu denken. Dieser ist in Abgrenzung zu anderen Textsorten einerseits stärker an die Materie des Textträgers gebunden und andererseits auch an die Objekte, die benötigt werden, um die vermittelten Inhalte überhaupt rezipieren und nachvollziehen zu können. Gebrauchstexte funktionieren ohne das Material, auf dem sie geschrieben werden, nicht. Sie werden nicht auswendig gelernt und vorgetragen, werden nicht mündlich von einer Generation zur anderen weitergegeben. Es braucht den Überlieferungsträger, damit der Gebrauchstext seine eigentlichen Funktionen erfüllen kann: Inhalte aufbewahren, vermitteln und verbreiten.
Diese Objekte sind perfekte Beispiele für das, was Lissa Roberts als „Embodied Knowledge“ bezeichnet: Wissen braucht einen physischen Träger, um zirkulieren zu können. Das kann unter vielem anderem ein Mensch, ein Buch, eine Illustration, eine Maschine oder ein Instrument sein. Das ‚Embodiment‘ ist dabei die fruchtbare Verbindung von einem Objekt und den diesem eingeschriebenen Wissensinhalten, die meist multivalenter Natur sind: Ein spätmittelalterlicher mathematischer Lehrtext vermittelt nicht nur das Wissen zum Rechnen oder Messen, sondern ist gleichzeitig auch ein Zeugnis für Buchdruck- und Holzschnittkunst, für die Fähigkeit über Diagramme Wissen zu erschließen oder eine Illustration im Fachkontext zu lesen und aus ihr Lerninhalte extrahieren zu können (wie Gerd Micheluzzi in seinem Beitrag zeigt). Auch das klösterliche Rechenbuch, das von Sarah Deichstetter in dieser Ausgabe am Beispiel der Chorfrauen des Stiftes Klosterneuburg bearbeitet wird, ist mehr als nur eine handgeschriebene Liste von Einnahmen und Ausgaben. Sich verändernde Wissenskonzepte wie die Einführung der indisch-arabischen Zahlen oder die Kenntnis der doppelten Buchführung werden über diese Art von Gebrauchstexten eindrücklich vermittelt.
Vor diesem Hintergrund darf auch nicht vergessen werden, dass Embodied Knowledge materielle und mediale Veränderungen durchlaufen kann, die wiederum sowohl auf den Träger als auch den Wissensinhalt rückwirken (wie Christina Jackel in ihrem Beitrag zeigt): Wenn ein kleiner Merkspruch auf einen losen Zettel geschrieben wird und damit leicht transportierbar ist, bedeutet das, dass der Inhalt des Spruches – das was nicht vergessen werden soll – so wichtig ist, dass man in vielen verschiedenen Settings darauf zurückgreifen möchte. Die hohe Mobilität eines kleinen Zettels kann die rasche Verbreitung des mit ihm verknüpften Wissensinhaltes ermöglichen, was zu Veränderungen desselben führen kann. Dialektale und damit auch lexikalische Anpassungen des Textes sind ein erwartbares Resultat zirkulierenden Wissens und zeigen dessen Dynamik auf. Ich gehe in meinem Beitrag (Michaela Wiesinger) auf derartige lexikalische und damit auch objektbezogene Veränderungen im spätmittelalterlichen Merkspruch Vnum dat vinger genauer ein. Wird solch ein kleiner Zettel, solch ein sehr flexibler und dynamischer Wissensträger, nun im Nachhinein in ein Buch eingebunden und in einen anderen Kontext gebracht, ändert sich nicht nur dessen Mobilität, sondern auch dessen Funktion: Nun müssen andere Wissensinhalte mitberücksichtigt werden, die Reichweite des Wissensträgers reduziert sich und damit verändert sich auch die Wertigkeit des Materials und des Inhalts.
Eine derartige Mobilität von Wissen ist auch der Verschränkung des Wissensträgers und seinen Nutzer*innen geschuldet. „Knowledge Brokers“ wie der/die spätmittelalterliche oder frühneuzeitliche Händler*in ermöglichen über die Verwendung, den Besitz und die Weitergabe von mathematischen Gebrauchstexten eine weitreichende Zirkulation dieser Objekte und damit auch deren Inhalte. Die Veränderung von Handelsräumen und -beziehungen sowie der Handelsobjekte werden auch über die verwendeten Gebrauchstexte sichtbar. Norbert Orbán und ich widmen uns in unserem Beitrag (Norbert Orbán/Michaela Wiesinger) genau dieser wechselseitigen Verschränkung des Embodied Knowledge und der Knowledge Brokers im Bereich des hoch- und spätmittelalterlichen (Fern-)Handels.
Insgesamt widmet sich diese Ausgabe der MEMO – #11: Mathematik und Materialität – erstmals aus unterschiedlichen Blickwinkeln verschiedenen Gebrauchstexten mathematischer Natur und fragt einerseits nach deren materieller Relevanz als Wissensträger und andererseits auch nach den Objekten, auf die in den Texten Bezug genommen wird, um deren sprach-, kultur-, sozial- und wirtschaftshistorische Bedeutung im Kontext der Textsorte(n) zu eruieren. Die hier versammelten exemplarischen Analysen sollen aufzeigen, dass gerade im Bereich der Forschung zu spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gebrauchstexten in deutscher Sprache noch viele Themenfelder weitgehend unbearbeitet sind. Damit versteht sie sich als Ausgangspunkt für eine weiterführende, interdisziplinäre Diskussion.