Abstract
Wallfahrt als historische Praxis in Bezug auf Regionalität zu untersuchen, ist eine besondere Herausforderung, steht doch religiös motivierte Mobilität nach gängiger Auffassung dafür, Grenzen im räumlichen wie sozialen Sinn zu überwinden. In diesem Beitrag wird die historische Meistererzählung der obrigkeitlich intendierten Regionalisierung von Wallfahrt in der frühen Neuzeit dahingehend hinterfragt, inwieweit nicht eher von Regionalisierung durch Wallfahrt zu sprechen ist. Dabei wird die Rolle von Wallfahrtsmedien unter Einbeziehung der damit verbundenen personellen und institutionellen Akteure bei der Produktion, Distribution und der Rezeption bzw. dem Gebrauch derselben auf Basis der in diesem MEMO-Sonderband vorliegenden Beiträge beleuchtet. Die aus diesen unterschiedlichen Kommunikations- und Handlungsräumen sich konstituierenden Regionen als soziale Räume mittlerer Ebene sind zwar nicht deckungsgleich, stehen aber miteinander und zusätzlich mit lokalen sowie überregionalen Ebenen in Beziehung. Erst unter Berücksichtigung der jeweiligen Quellenperspektive lassen sich daher spezifische Phänomene von „Wallfahrts-Regionen“ identifizieren und adäquat interpretieren.
Keywords: Wallfahrt, Frühe Neuzeit, Regionalgeschichte, Medien, Mobilität, Materielle Kultur
Abstract (englisch)
It is a particular challenge to examine pilgrimage as a historical practice in relation to regionality, since religiously motivated mobility is commonly seen as overcoming borders in both a spatial and social sense. Considering the historical master narrative of the regionalisation of pilgrimage intended by the authorities in the early modern period, the question is if we should rather speak of regionalisation through pilgrimage. The role of pilgrimage media will be examined, including the actors involved, both personal and institutional, in the production, distribution, reception and use of these media, based on the contributions presented in this MEMO special volume. The regions constituted by these different spaces of communication and actions as social spaces of a medium level are not congruent, but they are related to each other and additionally to local and supra-regional levels. Only by taking the respective source perspectives into account, specific phenomena of “pilgrimage regions” can be identified and adequately interpreted.
Keywords: Pilgrimage, Early Modern Age, Regional History, Media, Mobility, Material Culture
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Am 17. und 18. Juni 2021 veranstaltete das Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit (IMAREAL) der Universität Salzburg mit Standort Krems an der Donau auf Einladung des Stadtmuseums und der Stadtarchäologie St. Pölten einen internationalen Workshop zum Thema „Wallfahrt und Regionalität in Mitteleuropa“, dessen Ergebnisse im Rahmen des hiermit vorliegenden, gleichnamigen MEMO-Sonderbandes publikatorisch vorgelegt werden.
Finanziert wurde der Workshop vom Forschungsprojekt „Mobile Dinge, Menschen und Ideen. Eine bewegte Geschichte Niederösterreichs“, das durch das FTI-Programm des Landes Niederösterreich gefördert wurde. In sieben Themenbereichen von der frühen Jungsteinzeit bis hin zur Migrationsbewegung 2015/16 wurde bis Jänner 2022 erforscht, wie menschliche Mobilität über Jahrtausende hinweg regionale Gesellschaften und Kulturen veränderte und befruchtete. Ein besonderes Augenmerk lag dabei auf Dingen, an denen historische Mobilität sichtbar und deutbar wird, als auch auf der Frage, wie „mobile Dinge“ Veränderungen im kulturellen Gefüge indizieren. Der am IMAREAL angesiedelte Themenbereich II beschäftigte sich unter dem Titel „Religiöse ‚Wearables‘ als materielle Zeugen neuzeitlicher Mobilität (17./18. Jahrhundert)“, wie der ‚Wallfahrtsboom‘ in der Frühen Neuzeit neue religiöse Ideen und Orientierungen nach Niederösterreich brachte. Ausgangspunkt dafür waren über 250 religiöse Medaillen und Anhänger, die im Rahmen der Domplatzgrabungen 2010–2019 in St. Pölten als Grabbeigaben zum Vorschein kamen. Diese liefern Schlaglichter, wohin Mitglieder der Stadtpfarre St. Pölten wallfahrteten, welche Heiligen sie verehrten und welche Orden und Bruderschaften dabei eine besondere Rolle spielten.Entsprechend dem Quellenschwerpunkt des Teilprojekts lag beim Workshop ein Fokus auf Potenzialen und Problemen der Erforschung religiöser Medaillen der Frühen Neuzeit hinsichtlich ihrer Aussagekraft für religiös motivierte Mobilität im Allgemeinen und von Wallfahrten im Besonderen; dies findet auch ihren Niederschlag im vorliegenden MEMO-Sonderband. Darüber hinaus war es beim Workshop bzw. ist es für den Themenband ein Anliegen, diese Objektgattung sowohl im Rahmen wallfahrtsbezogener Medienproduktion, -distribution und -rezeption in der Frühen Neuzeit breiter zu kontextualisieren und zu vergleichen sowie der objektzentrierten Perspektive auch Akteursperspektiven gegenüberzustellen, und zwar sowohl auf personeller als auch auf institutioneller Ebene.
Doch was hat das Ganze, wie im Titel angeführt, mit Regionalität zu tun? Dies soll hier in drei Schritten in der dem Publikationsrahmen entsprechenden Kürze diskutiert werden: In einem ersten Schritt wird versucht, drei unterschiedliche historische Forschungsfelder – jene der Regionalgeschichte, der Mediengeschichte sowie der Material Culture Studies – miteinander in Bezug zu setzen und daraus ein Rahmenkonzept für das hier vorgestellte Forschungsthema „Wallfahrt und Regionalität“ zu entwickeln. Im zweiten Schritt wird der Frage nachgegangen, wie bisher in der historischen Wallfahrtsforschung „Regionalität“ mit dem Fokus auf die Frühe Neuzeit diskursiv behandelt wurde und welche aktuellen Desiderate und Fragestellungen sich daraus ergeben. Im dritten und letzten Schritt wird dargelegt, wie die hier vorliegenden Beiträge Bausteine zur zukünftigen vertiefenden Betrachtung und Analyse dieses Forschungsthemas liefern.
Regionalität als Thema der Material Culture Studies? Der Versuch eines Rahmenkonzepts
Wagt man*frau einen Blick in die Literatur zur Regionalgeschichte der letzten drei Jahrzehnte, stößt man*frau, um es überspitzt zu formulieren, auf beinahe so viele Definitionen von „Region“, wie es programmatische Artikel und Handbücher zu diesem Thema gibt.
Dies ist freilich in der heutigen GSK-Wissenschaftslandschaft nicht verwunderlich. Ähnliches lässt sich auch zu den Forschungsgebieten der Kulturwissenschaften oder Medienwissenschaften sagen: Gerade aufgrund der Breite und Elastizität ihrer Grundbegriffe besteht die Gefahr der Beliebigkeit. Eine Eigenschaft, auf die sich die regionalgeschichtliche Forschung weitestgehend verständigen kann, ist die räumliche Relationalität: Diese gilt einerseits hinsichtlich der räumlichen Skalierung, in der „Region“ häufig als Handlungs- und Kommunikationsraum mittlerer Ebene in Bezug auf lokale Räume als darunter anzusiedelnde Ebene aufgefasst wird, und überregionale, nationale oder globale Räume als übergeordnete Einheiten verstanden werden. Nach dem Modell von Dieter Läpple bildet der Mesoraum das lokale oder regionale Referenzsystem für den Mikroraum als unmittelbaren Handlungsrahmen, während der Makroraum als das überregionale oder globale gesellschaftliche Bezugs- und Wirkungssystem zu begreifen ist. Aufgrund der unterschiedlichen Bezüge gehören physische wie soziale Räume gleichzeitig zu unterschiedlichen Regionstypen, die durch ähnliche soziale, ökonomische oder kulturelle Phänomene oder Interessen gekennzeichnet sind, wie Stadtregionen, Bildungsregionen, Entwicklungsregionen und andere mehr. Ähnliche Ansätze haben über den „spatial turn“ auch Eingang in die Geschichtswissenschaften gefunden, in der „Raum“ als wirkmächtige Kategorie sozialen Handelns stärker ins Bewusstsein der Forschung gerückt ist. Die Regionalgeschichte profitierte gerade in der Emanzipation von der traditionellen Landesgeschichte durch den Fokus auf „Region“ als Handlungsfeld von diesen Raumdiskursen. Umgekehrt ist es gerade der Regionalgeschichte zu verdanken, dass in der Soziologie und in der Geografie entwickelte Konzepte historisiert und damit auch auf ihre Tauglichkeit für die Vormoderne hin untersucht werden.Damit ergibt sich eine Überschneidung zu einem Begriff, der vor allem aus volkskundlich-ethnologischer Sicht eine große inhaltlich-konzeptionelle Überschneidung aufweist: jener der Kulturlandschaft. Wie die „Bindestrich-Landschaften“ (Begriff von Bernhard Tschofen
, so z.B. Burgenlandschaften, Industrielandschaften, Agrarlandschaften etc., indizieren, handelt es sich hierbei um Räume (vermeintlich) homogener Charakteristika, die, so die langjährige Grundannahme der damit arbeitenden Disziplinen, mit ebensolchen Identitäten einhergehen. In Verbindung mit territorialen Überblendungen entstand dabei oftmals ein statisches Bild vermeintlicher historischer Gleichläufigkeit von sozialer Identität und territorialer Abgrenzung, eben der „Region“. Dabei wird oftmals übersehen, dass es sich bei diesen Kulturlandschaften häufig um Fremdzuschreibungen handelt, an denen von Reiseschriftsteller*innen bis hin zu Wissenschafter*innen viele soziale Gruppen mitarbeiteten, und welche über lokale Multiplikator*innen, wie Lehrer*innen, vor allem aber auch über Medien in die lokalen Gesellschaften hineingetragen wurden und dort ein Eigenleben entwickelten.Gleichzeitig ist aber unbestritten, dass es soziale und kulturelle Phänomene gibt, die räumlich mehr oder weniger dichte und voneinander manchmal schärfer, oftmals aber unscharf abgrenzbare Konglomerate bilden. Anssi Paasi schreibt dazu: „Similarly, heterogeneous social institutions such as culture, media and administration are crucial in these processes and in the production and reproduction of certain ‘structures of expectations’ for these units. Such structures are the basis for the narratives of identity, mobilization of collective memory, and they also constitute the visible and invisible social ‘gel’ based on values, norms and ideologies.“
Daraus folgert er: „Regions are thus envisaged as complicated constellations of materiality, agency, social relations and power; as institutional structures and processes that are continuously ‘becoming’ instead of just ‘being’.“ Der entscheidende Punkt ist somit, „Region“ wie alle anderen soziokulturellen Phänomene als fluid in Raum und Zeit zu begreifen. Weil aber Menschen als Individuen wie auch als Teile verschiedener sozialer Gruppen verschiedene soziale Zugehörigkeiten, i.e. Identitäten, aufweisen, sind sie auch Elemente unterschiedlicher sozialer Räume, die sich überlappen und miteinander in Interaktion treten können.Es ist daher von grundlegender Bedeutung, aus welcher Perspektive auf Menschen und Dinge in ihren Handlungszusammenhängen geblickt wird, und diese auch explizit zu machen, um nicht den Eindruck ‚objektiver‘ Deutungsmuster zu vermitteln. Am klarsten wird dies, auch in Bezug auf die Material Culture Studies, wenn die Rolle von Medien bei der Generierung, Aufrechterhaltung oder Transformation von „Regionen“ beleuchtet wird. Am deutlichsten hat dies aus Sicht der Verfasser*innen bislang der Medienwissenschafter Siegfried J. Schmidt herausgearbeitet, dessen „Medienkompaktbegriff“ den „systematischen Zusammenhang von Kommunikationsinstrumenten, von technischen Dispositiven, von sozialen Institutionalisierungen und von Medienangeboten“
umfasst. Wie jede systemische Betrachtungsweise kann diese von jedem Element aus betrachtet werden, wobei auch explizit die Materialität der Medienproduktion oder aber die räumliche Wirkung derselben in den Fokus gerückt werden kann. Als Wirkungszusammenhang ist dieser dynamisch und kein statisches System, sodass damit auch die Falle der alten „Kulturraumtheorie“ umgangen werden kann. Angewandt als regionalgeschichtliche Methode kann damit beispielsweise nach den jeweils unterschiedlichen Akteur*innen, technischen Dispositiven und sozial-räumlichen Netzwerken bei der Produktion, Distribution und Rezeption von Medien gefragt werden. Damit kommt das Schmidt’sche Modell den „material arrangements“ von Theodore Schatzki sehr nahe, der eben die Praktiken in ihrer Verwobenheit mit Materialität und Gesellschaft in den Blickpunkt rückt. Berücksichtigt man*frau dabei die räumlichen Skalierungen derselben sowie die Interaktion unterschiedlicher sozialer Räume, ist die Tür für eine Regionalgeschichte der Materiellen Kultur weit geöffnet.Regionalität als Thema der historischen Wallfahrtsforschung?
Im Folgenden soll nun diskutiert werden, inwieweit sich dieses Rahmenkonzept auf die Historische Wallfahrtsforschung hin anwenden lässt, wobei zunächst nach der Verbindung von Wallfahrt und Materieller Kultur und anschließend nach jener von Wallfahrt und Regionalität gefragt wird.
Die Materialität von Wallfahrt: Alter Wein in neuen Schläuchen?
Dem Phänomen der Wallfahrt wurde in der deutschsprachigen Forschungslandschaft ab den 1930er-Jahren bis in die 1980er vorwiegend aus kirchengeschichtlicher und volkskundlicher Perspektive begegnet.
Die Arbeiten von Wolfgang Brückner und Hans Dünninger bildeten während der Blütezeit der Wallfahrtsforschung der 1960er- bis 1980er-Jahre die Grundlage aller danach folgenden Untersuchungen zu Pilger- und Wallfahrten des Mittelalters und der frühen Neuzeit, die, ausgehend von monografisch bearbeiteten Wallfahrtsorten und -räumen, sich grundsätzlichen Fragen der Bewertung dieser religiösen Praktiken in Mittelalter und Neuzeit widmeten. Dazu zählte aus volkskundlicher Sicht quasi von Beginn an die Beschäftigung mit den dinglichen Hinterlassenschaften von Wallfahrten; allen voran – nebst anderen Themen – die Votivgaben- und Gnadenbildforschung. In den 1980er- bis 1990er-Jahren mündeten diese Arbeiten in einer Reihe von regionalen und überregional bedeutenden thematischen Ausstellungen, die im Verbund mit dem wieder auflebenden Wallfahrtswesen das Thema für eine breite Öffentlichkeit historisierten. Forschungsgeschichtlich verband sich ab den 1980ern das Interesse an historischen Wallfahrtsstudien mit Themen, die an der Schnittstelle von Alltagsgeschichte, Sozialgeschichte, Kulturgeschichte und Volkskunde angesiedelt waren, zu denen insbesondere Publikationen zur sog. „Volksfrömmigkeit“ als Teil einer Geschichtserzählung ‚von unten‘ zählten.Dass die historische Wallfahrtsforschung, wenngleich nie institutionalisiert, sich seither als fixer Bestandteil interdisziplinärer Studien etablieren konnte, belegen nicht zuletzt entsprechend langlebige Publikationsreihen, wie die von Klaus Herbers und Peter Rückert in wechselnden Kollektiven herausgegebenen „Jakobus-Studien“ (1988 ff.)
, oder die von Hartmut Kühne und Jan Hrdina etablierten „Europäischen Wallfahrtsstudien“ (2006 ff.) . Beide Reihen bezeugen auch das in den letzten Jahrzehnten wieder gestiegene Interesse, sich den materiellen Seiten dieser Frömmigkeitspraktiken zu widmen. Damit konnte sich die historische Wallfahrtsforschung als Teil der Material Culture Studies etablieren, was die unterschiedlichen Erscheinungsformen und Praktiken des Gnadenbild-Kults miteinschließt. Im Sinne der vielfältigen „cultural turns“ ist auch die Rolle von Narrativen als Teil des (Miss-)Erfolgs von Wallfahrtsorten ein wesentlicher Zweig, der sich auf der Ebene der Medialität des Wallfahrens mit den Bild- und Dingpraktiken verwebt. In die Lücke, welche die als Fachzweig aussterbende Historische Volkskunde hinterließ, stieß in den letzten Jahrzehnten die Mittelalter- und Neuzeitarchäologie im Verbund mit interdisziplinär arbeitenden Kolleg*innen der Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaften hinein: Insbesondere die Erfassung und Auswertung von (mittelalterlichen) Pilgerzeichen und ihres Fundverbreitungsbildes für die Analyse von Pilgerströmen hat mittlerweile international wie auch im deutschsprachigen Raum einen überaus reichen Niederschlag gefunden, der durch Online-Datenbanken unterstützt wird. Zuletzt ließ sich außerdem ein verstärktes bildwissenschaftliches Interesse an Pilgerzeichen als Teil einer intermedialen Frömmigkeitskultur des Spätmittelalters beobachten. Ähnlich verhält es sich mit den (neuzeitlichen) Wallfahrtsmedaillen: Waren diese über Jahrzehnte eine Domäne der Numismatik sowie der Historischen Volkskunde, hat auch hier der Quellenzuwachs durch die Neuzeitarchäologie zu einer partiellen Verschiebung des Forschungsinteresses zur Archäologie geführt. Im Gegensatz zur breiten kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit den Pilgerzeichen ist aber ein ähnlicher Trend bei den religiösen Medaillen noch nicht zu beobachten, wie überhaupt die getrennte Betrachtung dieser doch sowohl zeitlich als auch im Gebrauch sich überlappenden Objektgattungen verwundert.Halten wir somit fest: Die Hinwendung zu Dingen in der Historischen Wallfahrtsforschung ist keinesfalls ein mit dem „material turn“ verknüpftes Phänomen, sondern ist insbesondere durch die Historische Volkskunde fest in der DNA des Forschungsfeldes verankert. Was sich verändert hat, ist in erster Linie die Art und Weise, wie die Quellen analysiert werden: Es stehen weniger additive Zugänge als jene des kritischen Quellenvergleichs im Vordergrund. Dies kann besonders gut an der Frage des Einzugsgebietes von Wallfahrtsorten exemplifiziert werden: Die auf Basis von Fundverbreitungen von Pilgerzeichen wie Wallfahrtsmedaillen durchgeführten sozialräumlichen Analysen differenzieren bis kontrastieren bisweilen das Bild der ‚Reichweite‘ von Wallfahrtsorten, wie sie bislang vor allem auf Basis von Mirakelaufzeichnungen gemacht wurden,
auch wenn mitzubedenken ist, dass nicht jedes vermeintliche Wallfahrtssouvenir persönlich am Wallfahrtsort erworben wurde, worauf weiter unten nochmals eingegangen wird. Mittlerweile zeichnet sich immer deutlicher ab, dass keine Quelle einzeln die tatsächlichen Kommunikations- und Handlungsräume in Bezug zu einem Wallfahrtsort verlässlich darzustellen vermag: Rechnungsbücher, Protokolle, Votivbilder, Mirakelaufzeichnungen, Fundgut von Devotionalien mit Ortsbezug und andere Quellen erlauben heute komplexere und in Bezug auf die spezifische Quellenrealität kritischere Aussagen. Ein Thema, das hierbei neu und kritisch diskutiert wird, ist jene nach der zeit-, sozial- und raumspezifischen Bedeutung von Nah- versus Fernwallfahrten. Zwar erhielt die Meistererzählung der Entwicklung von der hochmittelalterlichen Fernwallfahrt zu den spätmittelalterlich-neuzeitlichen Nahwallfahrten vor allem durch die Archäologie Risse; sie findet aber, je nach raum-zeitlicher Skalierung der Untersuchungen, auch ihre Bestätigung.Regionalisierung von Wallfahrten: Ein Charakteristikum der Frühen Neuzeit?
Damit rückt ein ähnlich gelagerter Forschungsdiskurs in den Fokus, der ebenfalls zunächst vor allem von historischer Seite betrieben wurde: Seit den 1930er-Jahren hält sich die von Georg Schreiber postulierte Meistererzählung bezüglich der Territorialisierungsprozesse im Zuge barocker Lokalwallfahrten,
die sich im beginnenden 18. Jahrhundert zu schwer kontrollierbaren Selbstläufern entwickelten. Das Hauptaugenmerk von Studien zu Österreich lag angesichts der Maxime des Augsburger Religionsfriedens von 1555 cuius regio eius religio primär auf landesfürstlichen Vorgehensweisen hinsichtlich der Konfessionalisierung der eigenen Untertanen, die ihren Höhepunkt in der Pietas Austriaca fanden. Weitgehend unkommentiert übernommen wurde bisher das Narrativ, demzufolge die Untertanen im Rahmen dieser Territorialisierungsprozesse innerhalb der eigenen (Bistums-)Grenzen gehalten wurden. Besonders die Verbote der Fernwallfahrten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden entweder als Maßnahme der Obrigkeit gesehen, um die Untertanen an längerer Abwesenheit zu hindern, oder aber um unerlaubter Emigration unter dem Deckmantel von Auslandswallfahrten entgegenzuwirken. Dieser Sichtweise widersprechen jedoch jüngere Erkenntnisse aus der Archäologie, wie auch aus den in diesem Band vorliegenden Beiträgen hervorgeht. Nach Fassbinder unterstützen die Auswertungen barocker Wallfahrtsmedaillen die Erzählung der fast ausschließlich barocken Lokalwallfahrten nur bedingt und deuten vielmehr darauf hin, dass sich die Wallfahrten des Barock in ihrer Ausdehnung als vielschichtiges und von mehreren Parametern abhängiges Phänomen darstellen.Ein Problem liegt darin, dass sich in der Frage der Regionalität von Wallfahrten diverse Perspektiven überschneiden, die so noch zu wenig voneinander unterschieden wurden: Jene des Wallfahrtsortes und seiner institutionellen Träger, die z.T. gar nicht dauerhaft an der Gnadenstätte präsent waren,
und jene der Wallfahrer*innen, deren Verehrungsziele in bestimmten Gebieten sich decken konnten, aber nicht mussten. Weiters können die spirituellen Netzwerke hinter bestimmten Wallfahrten von den Versorgungsnetzwerken der Wallfahrtsorte mit Medien aller Art unterschieden werden. Je nachdem, welche Perspektive eingenommen wird, ergeben sich zwangsläufig andere Netzwerke, Reichweiten von Handlungen und Kommunikationen, und entsprechend auch andere „Regionen“ als mittlere Ebenen derselben. Brückner kritisierte bereits, dass die moderne Fokussierung auf den Wallfahrtsort selbst zu kurz greift und das Gesamtphänomen außer Acht lasse. In dieselbe Kerbe schlägt Vocelka, wenn er feststellt, dass in die Tiefe gehende Untersuchungen zu Wallfahrt häufig lokal beschränkt und darüber hinaus selten gestreut seien. Der von ihm ebenfalls bemängelten Nichtbeachtung des sakralisierten Raumes wurde jüngst mit einem Tagungsband zur Sakralisierung der Landschaft im Zeichen der Gegenreformation in Mitteleuropa Rechnung getragen.Wenn „Regionalität“ aus obrigkeitlicher Sicht als frühneuzeitliche Herrschaftskategorie auf territorialer Ebene betrachtet wird, zeigt sich in Einzelstudien, dass das Zusammenspiel von konfessioneller Homogenisierung und Wallfahrt keineswegs immer und überall von Erfolg gekrönt war: Nach Rombergs Untersuchungen zum Bistum Würzburg „erweist sich das frühneuzeitliche Wallfahrtswesen auf diese Weise in allgemein-religiöser und konfessionalistischer wie nicht zuletzt in gesellschaftlicher Hinsicht als systemisch zwar unverzichtbare und fest eingewurzelte, jedoch in seinem Charakter ambivalente und letztlich unbeherrschbare Ausdrucksform katholischer Frömmigkeit des konfessionellen Zeitalters“
. Territorialisierung und konfessionelle Kontrolle werden von ihm als nur bedingt durchsetzbare Ziele der Obrigkeit interpretiert. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Brendel in seiner vergleichenden Untersuchung zur Wirksamkeit der Gegenreformation in Schlesien, Böhmen, Mähren und Bayern: Auch wenn, wie er konstatiert, konkrete Zahlen zu den Anteilen der Wallfahrer*innen im Bezug zur Gesamtbevölkerung der jeweiligen Länder bislang fehlen, zeigt sich doch eine klare Korrelation zwischen der regionalen Wirkung der Rekatholisierungsmaßnahmen und dem Wallfahrtswesen. Für den böhmischen Raum legte Ducreux eine Studie vor, in welcher sie die Regionalisierungsprozesse während des 17. Jahrhunderts analysierte und dafür den Untersuchungsraum als Mikroebene auf dem Gebiet des Pfarr- und Herrschaftskreises, als Mesoebene im Rahmen jährlich stattfindender überregionaler Wallfahrten sowie auf Makroebene in Hinsicht auf Wallfahrten über Staatsgrenzen hinweg untersuchte. Dieser Ansatz böte sich auf vergleichender Ebene auch für andere Untersuchungsgebiete an, wobei dies freilich nur auf Basis schriftlicher Überlieferung erforscht werden kann. Wie unter Einbeziehung der Materiellen Kultur erfolgsversprechende Ansätze aussehen könnten, wird auf Basis der in diesem Band vorliegenden Beiträge deutlich.Wallfahrtsregionen wahrnehmen – Wallfahrtsregionen konstruieren: zu den Fallstudien des Workshops
Der erste Beitrag des vorliegenden MEMO-Sonderbandes speist sich aus den Forschungsergebnissen, die im Rahmen des eingangs vorgestellten Projekts „Religiöse ‚Wearables“ als materielle Zeugen neuzeitlicher Mobilität (17./18. Jahrhundert)“ erarbeitet wurden. Karin Kühtreiber als Archäologin und Regine Puchinger als Historikerin zeigen hier in einer zweifachen Doppelperspektivierung – materielle Objekte versus Schriftquellen, Wallfahrer*innen versus Betreiberinstitutionen von Wallfahrten – wie unterschiedlich und facettenreich sich religiös motivierte Mobilität selbst auf vergleichsweise kleinem Untersuchungsgebiet repräsentieren kann: Dies reicht von der in der schriftlichen Überlieferung fassbaren Produktion von Wallfahrts-„Zeichen“ aus Zinn in Maria Langegg, die selbst in St. Pölten, dem Ausgangspunkt einer der wichtigsten Langegg-Wallfahrten, nicht archäologisch belegt sind, bis hin zu unterschiedlichen Wahrnehmungen von räumlich ausdifferenzierten Reichweiten derselben: Während die Aussage eher banal erscheint, dass sich der ‚Erfolg‘ von Wallfahrtsorten auch an der Größe ihrer Einzugsgebiete abbilden lässt – Maria Taferl ist Maria Langegg diesbezüglich deutlich überlegen –, so zeigt sich gleichzeitig die annähernd gleich große Beliebtheit beider Gnadenstätten auf einer Distanz von maximal einer Tagesreise. Aber auch hier ist die Frage der ‚Messzahl‘ entscheidend: Zählt das Ausmaß an erfassten Prozessionen oder der Personenanzahl? Wird auch noch die Frage des Einzugsgebiets der Geistlichen, die Messen in den Wallfahrtskirchen lasen und Beichte hörten, sowie jene der Produzent*innen und Lieferant*innen von Wallfahrtsmedien aller Art, wie Votivgaben oder Wallfahrtsandenken, mitberücksichtigt, stellt sich dieses Bild noch komplexer dar. Auf der anderen Seite zeigt das Herkunftsbild der aus Gräbern des Stadtfriedhofs von St. Pölten stammenden Medaillen ein religiöses Orientierungsbild, das nur teilweise mit den schriftlich überlieferten Wallfahrten der Pfarrgemeinde bzw. in St. Pölten fassbaren Bruderschaften übereinstimmt. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass nicht alle Wallfahrtsorte auch Medaillen als Andenken produzierten bzw. zu diesem Zweck erwarben, sondern auch an den vielfältigen Vertriebswegen derselben, worauf auch im Beitrag von B. Prokisch eingegangen wird. So sind wohl aus diesem Grund die Wallfahrten im Tagesumkreis von St. Pölten im Medaillenspektrum überhaupt nicht repräsentiert, obgleich sie sowohl für Maria Taferl als auch für Maria Langegg in den Schriftquellen dominant sind. Darüber hinaus fallen aber insbesondere im Medaillenspektrum von St. Pölten drei aufgrund der Gehdistanzen klar abgrenzbare Entfernungscluster auf: Ebene 1 mit Distanzen innerhalb von ein bis zwei Wochen (Hin- und Rückweg), die vor allem Wallfahrtsorte im Herzogtum Österreich unter der Enns und angrenzende Orte, wie Mariazell oder Loretto (ehemals Westungarn, heute Burgenland) umfasst, gegenüber zwei Ferndistanzen, die einerseits vor allem böhmische, mährische und schlesische Gnadenstätten und auf der größten Distanz jene aus Italien und Belgien einschließen. Auf den ersten Blick zeigen sich bezüglich der Beziehungen zu den habsburgisch regierten Ländern in der heutigen Tschechischen Republik und in Südpolen zwischen Archäologie und Geschichte Übereinstimmungen, lassen sich doch auch Wallfahrtszüge aus Böhmen und Mähren nach Maria Taferl gut in den Schriftquellen fassen. Da die Medaillen kein direkter Beleg für Wallfahrten von Personen aus St. Pölten an Gnadenstätten sind, können diese beispielsweise auch durch Migration, wie durch habsburgische Beamte, Militärs und deren Angehörige, nach St. Pölten gelangt sein.
Barbara Taubinger verfolgt mit ihrem Beitrag zur Aussagekraft von Schatzkammerbeständen in ausgewählten Wallfahrtsorten in Niederösterreich (Annaberg, Maria Langegg, Maria Taferl und Sonntagberg) einen anderen, wenngleich ebenso spannenden Ansatz für die Frage der Detektion von Regionalität neuzeitlichen Wallfahrens: Votivgaben stellen sozusagen Spiegelobjekte zu den Wallfahrtsandenken dar, werden doch in diesem Fall von Votant*innen Dinge als Dank oder zwecks Erbittung von Heilung und Schutz zur Gnadenstätte gebracht und dort deponiert. Während für Votivbilder teilweise Untersuchungen zur Herkunft und sozialen Schichtung der darauf abgebildeten Personen existieren, ermöglicht die detaillierte Analyse von Mirakelaufzeichnungen, wie beispielsweise aus Sonntagberg, auch die Zuweisung von Ex-voto-Objekten an Personen, die nicht namentlich auf diesen verzeichnet sind. Zwar hat das ‚Entsammeln‘, um hier einen modernen museologischen Begriff anzuwenden, zu starken Reduktionen der Bestände, insbesondere vor 1800, geführt, dennoch kann die Autorin überzeugend die Aussagepotenziale dieser Objektgruppe darlegen. Manche Wallfahrtsandenken, wie Medaillen oder Andachtsbilder, fanden auf diesem Wege wieder zu ihrem Distributionsort zurück oder bilden objektbiografische Verbindungen zwischen unterschiedlichen Gnadenstätten.
Einer anderen, für die Wallfahrtsforschung bislang kaum berücksichtigten Objektgruppe widmet sich Walpurga Oppeker, und zwar den Klein- und Flurdenkmälern. Als langjährige Mitarbeiterin der niederösterreichischen Datenbank www.marterl.at ist sie eine profunde Kennerin der Materie. Ausgehend von Flurdenkmälern mit Pietà-Darstellungen auf dem Gebiet des heutigen Niederösterreichs, die als Kopien entsprechender Gnadenbilder der Wallfahrtsorte Maria Dreieichen, Maria Taferl (beide Niederösterreich) und Šaštin/Maria Schoßberg (Slowakische Republik) identifiziert werden können, zeigt die Autorin die Aussagekraft dieser Objekte als weitere Referenzgruppe zur Bestimmung von Einzugsgebieten, aber auch hinsichtlich der Rekonstruktion von Wallfahrtsrouten.
Der letzte Beitrag aus Österreich stammt aus der Feder von Benedikt Prokisch, der, ausgehend von der jüngst abgeschlossenen Bearbeitung eines Medaillenbestandes vom Friedhof auf dem Areal des ehemaligen Elisabethinenspitals in Wien, eine quellenkritische Studie zu Möglichkeiten und Grenzen der Bestimmung von Ortsbezügen religiöser Medaillen und Anhänger vorlegt. Der Ausgangspunkt erscheint angesichts der Tatsache, dass sich die Belegdauer des Friedhofs im 18. Jahrhundert sowie die soziale und geschlechtsspezifische Zuordnung der hier Bestatteten als ehemalige weibliche Spitalsangehörige der unteren sozialen Schichten Wiens sehr konkret eingrenzen lässt, als besonders erfolgsversprechend, auch hinsichtlich der Identifizierung von sozial- und genderspezifischen Mustern der Heiligenverehrung und damit verbundener Wallfahrtspraktiken. Zudem vermag Prokisch überzeugend herauszuarbeiten, dass eine Reihe von alternativen Deutungsmöglichkeiten, wie die Rolle der Bruderschaften und anderer Gruppen bei der Distribution der Devotionalien, sowie Unklarheiten bei der Ortsbestimmung, eindeutige Aussagen oftmals verunmöglichen. Von Relevanz ist aber die Erkenntnis, dass zwischen der vermehrten Distribution und damit auch der quantitativ höheren Überlieferung von Wallfahrtsmedien, wie z.B. Medaillen mit Ortsbezug, und der Attraktivität einer Gnadenstätte unmittelbare Zusammenhänge bestehen: Wenngleich das Einzelobjekt somit nicht als Beleg für eine getätigte Wallfahrt herangezogen werden kann, so vermittelt die Überlieferungsdichte doch ein mehr oder weniger klares Bild im Hinblick auf die Bedeutung eines Wallfahrtsortes zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort.
Dieser Befund wird in den folgenden drei Beiträgen eindrucksvoll bestätigt: Ana Azinović Bebek diskutiert die räumlichen Bezugsmuster von Funden religiöser Medaillen aus Friedhöfen auf dem Gebiet des heutigen Kroatiens. Dabei zeigt sich nicht nur eine unterschiedliche Orientierung zwischen den südlichen Bereichen Dalmatiens, wo die Motive auf den Objekten vor allem nach Italien weisen, und Nord- bzw. Westkroatien, wo neben Italien Wallfahrtsorte auf dem heutigen österreichischen Staatsgebiet dominieren; auffällig ist die geringe Repräsentanz kroatischer Wallfahrtsorte im Fundspektrum, was, wie die Funde beispielsweise aus Ungarn im Beitrag von Szabina Reich zeigen, nicht nur an geringerer Produktion/Distribution liegen kann – im Raum steht auch die Möglichkeit, dass für bestimmte Wallfahrtsintentionen größere Distanzen bevorzugt wurden.
Für die Tschechische Republik liefern Markéta Holubová, Martin Omelka und Otakara Řebounová ein höchst facettenreiches und auf breitem Quellenbefund beruhendes Bild räumlicher Orientierungen im Wallfahrtswesen der ehemaligen Länder Böhmen, Mähren und Schlesien. Zum einen wird auf das Potenzial von Druckmedien mit Wallfahrtsbezug, wie Handbüchern zu einzelnen Wallfahrtsorten, Gebets- und Liederbüchern sowie Heiligen- und Andachtsbildern, aufmerksam gemacht, deren Bearbeitung in der Tschechischen Republik im mitteleuropäischen Kontext Vorbildwirkung zuzugestehen ist. Im zweiten Teil der Arbeit wird ein Résumé zum aktuellen Forschungsstand hinsichtlich religiöser Medaillen und Anhänger gezogen: Auch darin kann der tschechischen Forschungslandschaft quantitativ wie qualitativ ein Spitzenrang eingeräumt werden. Die Bearbeitung von Fundkomplexen aus verschiedenen Gebieten des heutigen Staates ermöglicht hier auf gut statistisch abgesicherter Basis, vergleichbar mit Kroatien, Wallfahrtsregionen aus Sicht der Wallfahrenden durch ähnliche religiös motivierte Orientierungen herauszuarbeiten. Darauf wird im Fazit nochmals näher eingegangen.
Szabina Reich rundet den Band mit einer erstmaligen Vorlage und Diskussion des Fundbestandes an religiösen Medaillen und Anhängern aus dem heutigen Ungarn ab. Diese verdienstvolle Pionierleistung bietet einen Einblick in die religiöse/konfessionelle wie politische Diversität Ungarns im 17. und 18. Jahrhundert auf Basis materieller Hinterlassenschaften. Darin spiegelt sich nicht nur die Teilung des Landes zwischen dem osmanischen Reich und dem Habsburgerreich, sondern auch die starke Bedeutung protestantischer Bevölkerungsanteile in verschiedenen Gebieten des Pannonischen Beckens. Im 18. Jahrhundert bereicherte der Zuzug von katholischen Bevölkerungsgruppen aus dem Balkanraum mit ihren spezifischen religiösen Praktiken und damit verbundenen Orientierungen zu Wallfahrtsorten nochmals das Spektrum in bestimmten Regionen.
Fazit
Nun bleibt zum Schluss noch immer die Frage übrig: Was erzählen diese Beiträge über „Region“ in Bezug auf das frühneuzeitliche Wallfahrtswesen? Oder, anders herum gefragt: Von welcher Art von „Region“ ist die Rede? Alle Aufsätze stammen aus mitteleuropäischen Räumen, die im 17. und 18. Jahrhundert zumindest teilweise unter habsburgischer Regentschaft standen und somit in der Theorie ähnlichen Rekatholisierungsstrategien unterworfen waren. Aus Sicht der religiösen Medaillen mit Ortsbezug wird dies durch die Omnipräsenz von Mariazell in allen Ländern sichtbar. Dass dieser Ort unter den Habsburgern ab dem 17. Jahrhundert gezielt als „Vielvölkerwallfahrtsort“ gefördert wurde, ist hinlänglich bekannt.
Die durchaus sehr unterschiedlichen Reisedistanzen aus Wien, Niederösterreich, Bayern, Böhmen und Mähren, Schlesien, Westungarn oder Kroatien, um nur jene Beispiele zu nennen, die auch in diesem Band vertreten sind, machen aber deutlich, dass „Region“ als Kategorie aus Sicht der Wallfahrenden in Bezug auf Mariazell keine sinnvolle Kategorie ist. Aus Sicht der habsburgischen Rekatholisierungsbemühungen können die unter dem Banner der Gottesmutter von Mariazell zu einenden katholischen Territorien hinsichtlich anderer katholischer Territorien, wie Bayern, insbesondere aber zu den protestantischen Ländern wie auch dem Osmanischen Reich, sehr wohl als Region begriffen werden. Die Vielschichtigkeit des Begriffs wird umso deutlicher, wenn aus den Beiträgen jene Medaillen mit Ortsbezug herausgegriffen werden, deren Verehrungsziele außerhalb des eigenen Territoriums lagen, wie beispielsweise die statistisch relevante Anzahl an böhmischen und mährischen, aber auch bayerischen Fundstücken in Österreich, Ungarn oder Kroatien, wie auch jene aus Österreich (insbesondere vom Sonntagberg und aus Maria Taferl) und den österreichischen Nachbarländern. Was all diese Orte eint, ist ihre Förderung im Rahmen der Pietas Austriaca, wohl aber auch unter Einbeziehung der Pietas Bavarica trotz unterschiedlicher territorialer Zugehörigkeit. Hinzu kommt, dass einige Wallfahrtsorte durch überregionale Wallfahrtsrouten verbunden waren, weshalb diese Mehrortewallfahrten auch rasch in entsprechenden Druckmedien, auf Bildstöcken, aber auch auf sogenannten „Zwitterpfennigen“ mit gekoppelten Wallfahrtsmotiven zweier Orte auf den beiden Seiten medial repräsentiert waren.Auf der anderen Seite, und damit verbleiben wir noch bei jener Perspektive, die sich für ehemalige Besitzer*innen von religiösen Medaillen mit Ortsbezug ergibt, zeigen sich mehr oder weniger deutliche raumspezifische Muster an Hinwendung zu bestimmten Wallfahrtsorten, sobald genug Objekte mit entsprechender Motivik und Beschriftung überliefert bzw. bearbeitet sind: Das gilt sowohl für Kroatien mit der Binnendifferenzierung zwischen jenen Bereichen Süddalmatiens, die, wie oben dargelegt, Richtung Italien orientiert sind, und den nördlichen und westlichen Gebieten, die zusätzlich ausgeprägte Fundanteile von (heute) österreichischen Gnadenstätten aufweisen. Noch auffälliger ist die Diskrepanz zwischen Böhmen und Mähren, wo mit Ausnahme von ‚Nationalheiligtümern‘, wie Stará Boleslav/Altbunzlau, kaum Wallfahrten zu Orten des jeweils anderen Landes, sehr wohl aber nach Österreich oder Bayern stattfanden. Hier von Regionalisierung zu sprechen, erscheint mehr als legitim, denn es sind Befunde, die durch die Zusammenschau von lokalen materiellen Mustern von Vorstellungen und Praktiken, die vor allem dörfliche oder städtische Gemeinschaften und ihre religiösen Verbände auf Ebene von Pfarren und Bruderschaften repräsentieren, diese auf einer Meso-Ebene als kulturelles Phänomen fassbar machen. Es ist zu erwarten, dass nebst den bereits genannten Studien von Fassbinder zu Südwestdeutschland, die ähnliche Ergebnisse zeitigten, auch in anderen Gebieten Mitteleuropas derartige regionale Differenzierungen festgestellt werden können, die durch andere Objektgattungen, wie beispielsweise Votivgaben, bestätigt oder kontrastiert werden können.
Der nächste Schritt, der oftmals noch aussteht, wäre, diese Muster mit den Akteur*innen auf Basis schriftlicher Quellen zu verbinden: Welche Prozesse stehen hinter diesen räumlich verdichteten Angleichungen von Handlungen? Wer sind die sozialen Gruppen, die diese Entwicklungen vorantreiben? Und welche Rolle spielen dabei jene räumlichen Aktions- und Kommunikationshorizonte, in die diese Personen und Institutionen eingebunden sind? Erst damit umgeht man*frau jene Falle, die, wie oben beschrieben, von Rolshoven der alten „Kulturlandschaftsforschung“ zugeschrieben wird, und kann die historische Wallfahrtsforschung zu einem wichtigen Baustein moderner „Raumkulturforschung“ nach Rolshoven werden lassen. Auch zu Fragen nach dem Verhältnis von religiös motivierter Mobilität und vielfältigen Grenzen, wie auch nach den Wechselbeziehungen von überlappenden sozialen Räumen, die sich durch diverse Zugehörigkeiten von Personen und Personengruppen in kultureller, ethnischer, sozialer, religiöser Hinsicht oder in Bezug auf Gender und Age ergeben, könnte die Historische Wallfahrtsforschung mit ihrem erweiterten Quellenspektrum, Methodenrepertoire und einer interdisziplinären Aufstellung wesentliche Beiträge leisten.
Ein weiterer wichtiger Erkenntnisweg, den man*frau nicht müde werden kann zu betonen, ist die Prämisse, dass „Region“ vor allem durch Medien produziert wird.
Dass diese Aussage nicht nur auf den aktuellen Regionalitätsdiskurs in Abgrenzung zur Globalisierung oder im Rahmen der Nachhaltigkeitsdebatten gilt, ist gerade für das 19. und 20. Jahrhundert, zum Beispiel bezüglich der Tourismusgeschichte, relativ gut erforscht. In der Abschlussdiskussion im Rahmen des Workshops regte Martin Scheutz als Respondent an, die Perspektiven der Historischen Tourismusforschung, wie z.B. den tourist gaze als Regulativ für den normierenden Blick auf Landschaft, auch auf Wallfahrt und ihre Medien anzuwenden. So, wie es aber nicht DAS Medium gibt, gibt es auch nicht die eine Region, die durch alle Medien einer Zeit und eines Raums konstruiert wird. Vielmehr ist auch nach der Wirksamkeit derselben in den sozialen Räumen zu fragen. Siegfried J. Schmidt folgend, sind Medien als Wirkungszusammenhänge von den materiellen Medienangeboten, den sie betreibenden Institutionen und den technischen Dispositiven, die für die Produktion und Distribution benötigt werden, zu verstehen. Ergänzend dazu ist, wie weiter oben bereits ausgeführt, zu bemerken, dass spezifische Netzwerke jeweils getrennt, aber aufeinander bezogen, für die Produktion, Distribution und Rezeption/Gebrauch hinsichtlich ihrer räumlichen Horizonte analysiert und interpretiert werden müssen. Erst damit wird man*frau jener Dynamik gerecht, die kulturelle Phänomene als Produkte und Trigger sozialer Ausverhandlungsprozesse auszeichnet. Die aus der Beschäftigung mit verschiedenen Quellen wahrgenommenen divergenten Handlungs- und Kommunikationsräume zwingen uns zu fragen, von welcher ‚mittleren Ebene‘ wir im relationalen Raumgefüge denn sprechen/schreiben, der wir „Region“ gerne zuweisen mögen, und wie diese in Bezug zu anderen Regionen steht. Darüber hinaus ermöglicht dies, den jeweiligen Forschungsgegenstand, seien es nun administrative Schriftstücke, Druckmedien, Flurdenkmäler, Medaillen oder Mirakelaufzeichnungen, um nur jene Quellen aufzuzählen, die in diesem Band die Hauptrolle spielen, für die Fragestellung hinsichtlich seiner Potenziale und blinden Flecken adäquat einzuordnen, wie dies der Beitrag von B. Prokisch für die Medaillen leistet.Damit bietet der vorliegende Band natürlich keine Handlungsanweisung zur Bestimmung von „Region“ im Kontext frühneuzeitlicher Wallfahrtspraktiken: Dies wäre ohnehin eine Überdehnung des Anspruchs, der für einen Sammelband gelten mag. Er bietet aber, so hoffen wir, Anregungen, wie Wallfahrtsforschung als Teil der Regionalgeschichte weitergedacht und praktiziert werden kann.